Binswanger

Die Schweiz versagt bei ihren humanitären Pflichten

Angesichts der dramatischen Notsituation im Gazastreifen lassen viele Länder wieder Geld an das Uno-Hilfswerk UNRWA fliessen. Der Bundesrat hat andere Prioritäten.

Von Daniel Binswanger, 27.04.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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Die Schweiz verzögert die Wieder­aufnahme der Zahlungen an das Uno-Palästinenser­hilfswerk UNRWA – oder sistiert sie definitiv. Dies, obwohl eine entsetzliche humanitäre Notlage herrscht. Obwohl in Nord-Gaza die Grund­versorgung mit Nahrungs­mitteln und medizinischen Gütern weiterhin katastrophal und sie in Rafah, wo sich mindestens 1,3 Millionen Menschen zusammen­drängen, weiterhin vollkommen ungenügend ist. Obwohl die UNRWA zum heutigen Zeitpunkt die einzige Hilfs­organisation ist, die über lokale Ressourcen verfügt, um Hilfsgüter zu verteilen und rudimentärste medizinische Versorgung zu leisten.

Die Notlage ist akut. Dass die Schweiz die Gelder kappt beziehungs­weise ihren Entscheid auf die lange Bank schiebt, ist beschämend. Für die Not leidende Zivil­bevölkerung im Gazastreifen stellt diese Entsolidarisierung eine Katastrophe dar. Sie ist jedoch auch ein alarmierendes Zeichen für die Fehl­entwicklungen in der Schweizer Politik.

Der sogenannte Colonna-Bericht, eine unabhängige Untersuchung, die den von Israel erhobenen Vorwürfen zu Verstrickungen der UNRWA mit der Hamas nachgegangen ist, hat das Uno-Palästinenser­hilfswerk nicht vollständig, aber weitgehend entlastet. Dass eine Mehrheit aus SVP-, FDP- und Mitte-Parlamentariern der UNRWA dennoch sämtliche Mittel entziehen will, zeigt auf, wie die bürgerliche Schweiz ihren moralischen Kompass verliert. Wie die beiden Traditions­parteien, wenn es hart auf hart kommt, der SVP nichts mehr entgegen­setzen. Wie das humanitäre Völkerrecht aufgrund vermeintlich höher zu gewichtender Rücksichten plötzlich keine Rolle mehr spielt. Wie ohne alle Bedenken ein Pakt eingegangen wird mit einer von rechts­radikalen Elementen geprägten Regierung – der aktuellen Regierung Israels.

Die Schweiz – muss man es in Erinnerung rufen? – ist der Depositar­staat der Genfer Konventionen und der Sitzstaat des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Der aktuellen Schweizer Aussen­politik ist das nicht anzumerken.

Natürlich ist es legitim und begründet, der United Nations Relief and Works Agency (UNRWA) gegenüber Vorbehalte zu haben. Man kann und muss eine Diskussion darüber führen, ob das Palästinenser­hilfswerk nicht besser in eine andere Uno-Struktur überführt und die Sonder­agentur für die Palästinenserinnen längerfristig nicht abgeschafft werden sollte. Dass grosse Teile der palästinensischen Diaspora über Generationen hinweg im Status der Staaten­losigkeit gefangen bleiben und an ihren Lebensorten das Bürger­recht nicht erhalten, ist weder im Interesse der Betroffenen noch dient es einer Lösung des Nahost­konfliktes. Aber die UNRWA ist nicht die Verantwortliche, sondern das Symptom dieses Miss­standes. Um ihn zu überwinden und die Frage des palästinensischen Rückkehr­rechts endlich sinnvoll zu lösen, braucht es multilaterale Verhandlungen, einen umfassenden Friedensplan, die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, den guten Willen und das Engagement der arabischen Exilländer.

Dass die israelische Regierung diese Kernfragen des Nahost­konfliktes heute mit einer Diskreditierungs­kampagne gegen die UNRWA vom Tisch zu wischen versucht, kann nur Schaden anrichten und darf nicht akzeptiert werden. Dass die Schweizer Aussen­politik bei solchen Spielchen mitmacht, zeugt von atem­beraubender Inkompetenz.

Aufgrund des Vorwurfs, dass 12 der insgesamt 13’000 UNRWA-Mitarbeiter im Gazastreifen an den Gräueltaten des 7. Oktobers beteiligt gewesen sein sollen, soll nun die ganze Organisation mit sofortiger Wirkung liquidiert werden? Das ist offensichtlich grotesk. Es war der Wille der internationalen Gemeinschaft und des Staates Israel, dass die UNRWA unter Hamas-Herrschaft im Gazastreifen wesentliche staatliche Funktionen wie das Schulsystem und die Gesundheits­versorgung gewährleistet. Sich heute überrascht zu zeigen, dass es dabei auch zu vereinzelten terroristischen Kontaminationen der im Grundsatz neutralen Uno-Agentur gekommen ist, ist heuchlerisch – umso mehr als die Netanyahu-Regierung ihrerseits noch viel weiter gegangen ist in der Zusammenarbeit mit der Hamas und die Terror­organisation im grossen Stil mit Finanz­mitteln versorgen liess.

Es gibt aktuell auch wirklich Dringlicheres, als Debatten darüber zu führen, ob einzelne Lehrmittel in UNRWA-Schulen antisemitische Inhalte verbreiten – auch wenn das selbstverständlich unterbunden werden muss. Die Schulen im Gazastreifen sind geschlossen, zerbombt, bis zum letzten Quadrat­zentimeter mit obdachlosen Familien überfüllt. Was die UNRWA momentan im Gazastreifen leistet, ist akuteste Nothilfe für die leidende Zivil­bevölkerung – und wer die Gelder kappt, erschwert diese Nothilfe. Die Schweiz muss die Wahrung des humanitären Völker­rechts unterstützen. Nicht sabotieren.

Man kann auch nicht genug daran erinnern, dass weder der israelische Geheimdienst noch die Militär­führung über Netanyahus plötzlichen Frontal­angriff auf die UNRWA informiert waren. Und dass sie nach Recherchen der «New York Times» dieser politischen Initiative in keiner Weise zustimmten. Weil sie wissen, dass es zur UNRWA im Gazastreifen momentan keine Alternative gibt. Und dass eine noch schlimmere humanitäre Katastrophe im Gazastreifen nicht nur moralisch untragbar, sondern auch nicht im strategischen Interesse Israels ist.

Die Netanyahu-Regierung hat stark an Popularität verloren und hält sich heute wohl nur deshalb an der Macht, weil sie Neuwahlen noch hinaus­schieben kann. Sie vertritt weder den Mehrheits­konsens der Militär­führung noch der israelischen Gesellschaft. Wer sich von dieser Regierung instrumentalisieren lässt, sollte sich sehr sorgfältig die Frage stellen, ob er die Interessen Israels wahrnimmt.

Man braucht nur etwa das beeindruckende Interview mit Ami Ayalon, dem ehemaligen Ober­befehlshaber der israelischen Marine und ehemaligen Chef des israelischen Inlandgeheim­dienstes Shin Bet, in der FAZ zu lesen. Es zeigt: Auch in israelischen Sicherheits­kreisen gibt es Stimmen, die anerkennen, dass Israel den Gazakrieg nur gewinnen kann, wenn es einen überzeugenden Vorschlag für eine politische Lösung macht. Dass der barbarische Terrorangriff vom 7. Oktober Israel zu einer grundsätzlichen Neu­evaluierung seiner Sicherheits­strategie zwingt. Dass die Hamas nur besiegt werden kann, wenn das Blutvergiessen ein Ende hat und ein Friedensplan entwickelt wird, der die Fanatiker marginalisiert.

Ayalon hat nicht unbedingt das Profil eines Mannes, der sich für naiven Pazifismus hergibt oder der die Sicherheit des Staates Israel auf die leichte Schulter nehmen würde. Er sagt: «Ich will den Krieg beenden. Weil wir im Treibsand von Gaza versinken. Und dann besiegen wir die Hamas, mit der Hilfe von Ideologie und Diplomatie.» Er spricht sich dezidiert für eine Zweistaaten­lösung aus. Und er spricht aus, was eigentlich auf der Hand liegen müsste: «Wir beide, Israelis und Palästinenser, haben Minderheiten von etwa 15 Prozent, die radikale Messianisten sind. In unserem Fall werden sie angeführt von Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir. Und in ihrem Fall von Jahja Sinwar und Ismail Hanijeh. Das Tragische ist, dass diese beiden Minderheiten die Politik kontrollieren. Wir haben unsere eigenen Terroristen nicht genügend bekämpft und sie ihre nicht.»

Das sind die israelischen Kräfte, die eine umsichtige Schweizer Aussen­politik in die Analyse mindestens miteinbeziehen müsste. Stattdessen dient sie sich dem ruch- und planlosen Opportunisten an der Spitze der israelischen Regierung an. Israel ist grösser als Benjamin Netanyahu. Die israelische Gesellschaft steht nicht hinter den religiösen Siedlern. Eine massive zivil­gesellschaftliche Protest­bewegung ist im letzten Sommer entstanden, um die israelische Demokratie vor der Unterminierung durch die Netanyahu-Regierung zu schützen. Warum ist die Schweiz anscheinend nicht mehr willig, solchen Grund­gegebenheiten auch nur im Ansatz gerecht zu werden?

Von den SVP-Vertretern war es nicht anders zu erwarten. Sie jubeln Viktor Orbán zu, dem langjährigen und allerengsten internationalen Verbündeten von Netanyahu, der sich 2014 mit der widerlichsten antisemitischen Wahlkampagne in der europäischen Politik seit dem Zweiten Weltkrieg im Amt bestätigen liess. Dass die SVP sich an Netanyahus autoritären Tendenzen und seinem Angriff auf die Gewalten­teilung nun in keiner Weise stösst, ist nur in Grenzen eine Überraschung. Manche SVP-Politiker machen ja selbst aus ihren Sympathien für Wladimir Putin keinen Hehl.

Immerhin: Die Grünen und die SP haben sich nun ganz entschieden dafür ausgesprochen, die UNRWA wieder zu unterstützen. Mit Unterschriften­sammlungen soll auch öffentlicher Druck erzeugt werden. Die immer bangere Frage lautet jedoch: Wo sind die bürgerlichen Gegenkräfte?

FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann zum Beispiel spricht sich dezidiert gegen Zahlungen an die UNRWA aus, die erst nach der Kapitulation der Hamas wieder aufzunehmen seien. Die entsprechenden Summen sollten stattdessen in «die Nothilfe» fliessen, die «über sichere Korridore» und «unter dem Schutz des israelischen Militärs» verteilt werden müsse. Man staunt: Wer soll diese «Nothilfe» verteilen? Dazu lässt sich Portmann nicht vernehmen. Und vor allem: Wenn Nothilfe unter dem Schutz des israelischen Militärs verteilt werden soll, dann kann sie momentan die Palästinenserinnen in Rafah unmöglich erreichen – beziehungsweise erst, nachdem die israelische Armee auch Rafah erobert hat und den ganzen Gazastreifen kontrolliert.

Ist das der Wille der FDP? Die Schweiz hat im Sicherheitsrat im März für einen sofortigen Waffen­stillstand votiert. Und jetzt propagiert Portmann die vollständige Besetzung des Gazastreifens durch die israelische Armee? Das passt nicht zusammen, was vermutlich aber gar keine Rolle spielt. Weil alle wissen, dass sich mit dieser alternativen Nothilfe keine konkreten Konzepte verbinden. Weil es sich um blosse Ad-hoc-Ausflüchte handelt.

Und Die Mitte? Ist ebenfalls auf dieser Linie. Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter plädiert ihrerseits dafür, die UNRWA-Gelder zu blockieren und stattdessen für Nothilfe zu verwenden. Wie das geschehen soll? Keine Angaben.

Die Bundesrepublik Deutschland – ein Land, dem man mangelnde Solidarität mit dem Staat Israel nicht vorwerfen kann – hat sich im Anschluss an die Publikation des Colonna-Berichts sofort dazu entschlossen, die Zahlungen an die UNRWA vollumfänglich wieder aufzunehmen. Die Begründung ist simpel: «Mit der Fortsetzung der akuten Zusammenarbeit stützen wir die lebenswichtige und derzeit nicht zu ersetzende Rolle von UNRWA für die Versorgung der Menschen in Gaza, denn auch andere internationale Hilfs­organisationen sind auf die operativen Strukturen von UNRWA in Gaza derzeit angewiesen.» Japan, Kanada, Schweden und andere Länder, die ihre UNRWA-Unterstützung eingestellt hatten, um die israelischen Vorwürfe zu klären, nahmen ihre Zahlungen schon zu einem früheren Zeitpunkt wieder auf.

Die Schweiz gehört seit den frühen Neunziger­jahren zur europäischen Avantgarde des Rechts­populismus. Wird sie heute zum reaktionären Schlusslicht bei der Wahrung des humanitären Völker­rechtes? Das ist die Frage, die im Raum steht. Ihre Beantwortung hat ganz konkrete Folgen für die an Leib und Leben bedrohte Zivil­bevölkerung im Gazastreifen. Auch für die Zukunft der Schweizer Demokratie wird sie nicht ohne Konsequenzen bleiben.

Illustration: Alex Solman

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