Kein gewöhnlicher Abend

Wir sehen ständig Bilder, die das Grauen von Terror und Krieg zeigen. Wie gehen wir damit um? Wer hat das Recht, sie zu sehen? Und zu welchem Zweck? Bericht von einer Film­vorführung der Hamas-Gräueltaten vom 7. Oktober.

Von Carlos Hanimann (Text) und Gregory Gilbert-Lodge (Illustration), 25.04.2024

Vorgelesen von Danny Exnar
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Neulich war ich zu Gast in einem privaten Club am See, zu dem man für gewöhnlich nur Zutritt erhält, wenn man von zwei Mitgliedern empfohlen wurde. Es gab Zitronengras­suppe und Thunfisch­tatar mit einer Note Ingwer und anregende Gespräche im Vorzimmer. Das Kamin­feuer brannte und wenn man sich eine Sekunde zu lang umsah, bot einem ein freundliches Gesicht das nächste Glas Weiss­wein an. 82 Gäste waren gekommen, neben der lokalen Schickeria auch National­räte und Ständeräte (aus dem rechten Lager), ein Regierungsrat, der Berater eines Bundesrats, diplomatisches Personal, Journalistinnen. Wir hörten internationalen Expertinnen zu und stellten wohlwollend-interessierte Fragen. Es wurde Kartoffel­samosa an einer Joghurt­sauce und Züri Gschnätzlets gereicht. Dann rief uns jemand in den Salon mit Blick auf den See. Wir liessen uns in schwere Sessel fallen, das Licht ging aus und auf einem riesigen Bildschirm, der eigens dafür in den Raum geschoben worden war, sahen wir uns einen Film an, in dem 47 Minuten lang 138 Menschen abgeschlachtet wurden.


Die Einladung zu diesem Anlass hatte ich einen Monat zuvor erhalten, in einer schlichten Nachricht in meinem elektronischen Postfach, die sich nur darin von anderen unterschied, dass sie von prominenten Personen kam und ich «persönlich» zum «privaten Event» eingeladen wurde. Sie stammte von der Unternehmerin Anat Bar-Gera und ihrer Tochter Daniela sowie von der Verlegerin Ellen Ringier. Im Betreff stand: «Ellen Ringier & Anat Bar-Gera personally invite you to: ‹Bearing Witness›».

In der Einladung stand kein Veranstaltungs­ort, dafür aber eine Trigger­warnung: Es würden sehr explizite und gewalt­tätige Inhalte gezeigt.

Es hiess, man wolle an diesem Abend in Erinnerung rufen, dass sich fünf Monate nach den terroristischen Angriffen auf Israel noch immer 103 Israelis in Geiselhaft der Hamas befänden. «Bring them home», stand im Schreiben.

Zwei Tage vor dem Event wurde die Location bekannt gegeben: Der Abend würde im Club Baur Au Lac in Zürich stattfinden, einem privaten Clubhaus an bester Adresse (nicht zu verwechseln mit dem Luxushotel Baur Au Lac).

Hochkarätige Gäste waren angekündigt. Sie würden über den 7. Oktober und die Folgen diskutieren. Anschliessend würde die israelische Botschaft den Film «Bearing Witness» zeigen, ein von der israelischen Armee gefertigter Zusammen­schnitt der Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober 2023. Falls man es vorziehe, den Film nicht zu sehen, stand in der Trigger­warnung, könne man den Raum vor der Vorführung verlassen.

Im «Time»-Magazin hatte ich gelesen, es würden die schlimmsten 45 Minuten Film werden, die ich je zu sehen bekäme.


Der Club ist in einer alten Villa am See untergebracht. Sie hat eine hauseigene Parkanlage, in der selbst die Bäume unter Denkmal­schutz stehen. An der Eingangstür wurde ich freundlich von einem Mann im Anzug begrüsst. Auf der Treppe zur ersten Etage des Clubhauses standen die Leute bereits Schlange. Vor mir wartete ein bekannter und unbeliebter ehemaliger Manager, hinter mir ein bekannter und beliebter Politiker, und als der Politiker sich vier Stufen nach oben schob, den Arm ausstreckte, um dem Manager zu etwas zu gratulieren, worüber ich nichts gelesen oder gehört hatte, fühlte ich mich sehr fremd an diesem Ort.

Im Club gelten strikte Regeln, wie ich am Tag nach der Film­vorführung erfuhr, auch für einmalige Gäste wie mich. Das Tragen eines Sakkos ist für Herren «Selbst­verständlichkeit», Krawatten sind «erwünscht», besonders abends, und Damen haben sich «entsprechend» zu kleiden. Jeans, T-Shirts, Turnschuhe und Freizeit­kleidung sind «unerwünscht».

Doch der Club sah grosszügig über mich hinweg. Es war schliesslich «not your usual social evening», wie jemand sagte – nicht ganz der übliche Gesellschafts­abend.

Am Ende der Treppe versuchten zwei Herren, den geordneten Andrang zu bewältigen. Mit eleganter Gelassenheit prüften sie die Gäste­liste und erklärten den Ablauf des Abends. Hinter ihnen stand ein Mann, der aussah, als sei er für die Sicherheit zuständig. Er trug Rollkragen, Jackett und einen so scharfen Blick, dass man sich daran hätte schneiden können. Er sah mir lange in die Augen. Ich wandte mich ab, und als ich wieder hinsah, hielt er mich noch immer fest im Blick. Da wusste ich, dass ich nicht der Einzige war, dem ich hier fremd schien.

Jemand drückte mir einen Stift und ein Blatt Papier in die Hand, das ich unterzeichnen sollte. Darauf stand, dass das gezeigte Filmmaterial Eigentum der israelischen Armee sei und dass es untersagt sei, Aufnahmen davon zu machen. Die Gründe dafür liegen beim Opfer­schutz: Die Angehörigen der Opfer haben offenbar geschützten Vorführungen zugestimmt, nicht aber einer vollständigen Veröffentlichung der Bilder. Die ist streng verboten.

Ich unterschrieb und erhielt einen weissen Umschlag, auf dem mein Name aufgedruckt war. In den Umschlag würde ich später mein Handy stecken und ihn dann verschlossen abgeben müssen, um den Film sehen zu dürfen.


Ich trat ins Vestibül, wo die Gäste anstiessen und Nettigkeiten austauschten. Der bekannte Politiker erzählte jemandem, dass er gerade nach Israel in einen Kibbuz gereist sei, der am 7. Oktober von der Hamas überfallen worden war. Er erzählte die Geschichte an diesem Abend mehrmals.

Am nächsten Tag las ich einen Artikel in «Haaretz» über den neuen Alltag in den überfallenen Kibbuzim: Seit die Strassen in den Süden Israels wieder frei seien, reisten viele Touristen an die Orte der Massaker. Be’eri, Kfar Aza, Re’im – Orte des Grauens würden zu Hotspots des Katastrophen-Sight­seeings. An einem durchschnittlichen Tag kämen etwa 500 bis 1000 Besucher nach Be’eri, sagte der General­sekretär des Kibbuz der israelischen Zeitung. Die Leute fühlten sich unwohl. «Es ist definitiv ein Thema, das uns Sorgen bereitet.»

Im Vorraum war es zu eng und zu gesellig und zu warm. Ich liess mir ein Glas Wasser geben, suchte einen freien Sessel im Salon, der gestuhlt war für Diskussion und Film­vorführung, und wartete darauf, dass der Abend begann.


Als die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfiel und bei terroristischen Angriffen fast 1200 Menschen tötete, 240 Geiseln verschleppte und über 5000 Menschen verletzte, nahmen viele der bewaffneten Hamas-Kämpfer ihre Gräuel­taten auf. Sie filmten die Attentate, sie gaben am Telefon mit ihren Morden an, sie schossen Selfies mit Gefangenen, Verletzten, Getöteten.

Die israelische Armee hat das Film­material vom Überfall am 7. Oktober gesammelt. Es stammt von der öffentlichen Verkehrs­überwachung, von Kameras und Handys der Opfer, vor allem aber von Handys und Gopro-Kameras der Terroristen. Diese zeichneten die Attentate aus ihrer Perspektive auf.

Die Presse­abteilung der israelischen Armee hat das Material zu einem dreiviertel­stündigen Film geschnitten und seit Ende Oktober bei zahlreichen Veranstaltungen in verschiedenen Versionen Journalistinnen, Geheim­dienstlern, Diplomatinnen, Politikern und anderen opinion leaders vorgeführt. Zuerst in Israel selbst, in einem Besprechungs­zimmer einer Militär­basis, wo eine Handvoll ausgewählter internationaler Journalisten die Premiere des Films sahen. Später zeigten israelische Botschaften den Film weltweit. Ziel der Filmvorführung war erklärter­massen, die Brutalität der Hamas-Massaker mit Original­dokumenten zu belegen und so Zweifeln und Verschwörungs­theorien zum 7. Oktober vorzubeugen oder sie zu widerlegen.

Der Mann, der den Film über das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels schnitt, sagte dem «Spiegel»: «Ich wollte, dass die Welt versteht, dass es wirklich geschehen ist, dass die Zweifel beseitigt werden.»

Fast täglich erreichen uns Bilder des Grauens. Seien es junge Menschen, die in Re’im mit Todesangst über offene Felder fliehen; seien es kleine Kinder in Gaza, die unter dem Schutt eingestürzter Häuser liegen. Vorher waren es die leblosen Körper auf offener Strasse in Butscha. Oder die zurück­gelassenen Sandalen und Schuhe in Tigray. Manchmal steckt hinter den Bildern von sterbenden oder verstümmelten Körpern die Absicht, den Krieg als solches zu verurteilen. Oft aber dienen sie auch der eigenen Sache: Es geht darum, zu zeigen, dass nur eine Seite recht hat; dann kommt es darauf an, wer wen getötet hat – und wie.

Das Bild des Krieges und des Terrors kann unterschiedlich genutzt werden und ganz unterschiedliche Botschaften in sich tragen: «Den Ruf nach Frieden», wie die Schriftstellerin Susan Sontag einmal schrieb. «Den Schrei nach Rache. Oder einfach das dumpfe, ständig mit neuen fotografischen Informationen versorgte Bewusstsein, dass immer wieder Schreckliches geschieht.»

Über 630-mal wurde der Zusammen­schnitt mittlerweile gespielt, rund 16’000 Menschen in 65 Ländern haben ihn gesehen. Er wird Hollywood-Grössen ebenso vorgeführt wie Tech-Unternehmern wie Elon Musk.

In der Schweiz wurde der Film im Januar zwanzig Journalistinnen in Zürich gezeigt, eine weitere Vorführung gab es am Rande des WEF in Davos, eine in Genf. Und nun, an diesem kühlen März­abend im Club am See. Da sassen wir also und waren, ob wir wollten oder nicht, Voyeure, die das Leiden anderer betrachten.


«The world has lost its moral compass», sagte die Gastgeberin, als sie den Abend offiziell eröffnete.

Und das ist in diesem Text das einzige Zitat, das einer Person zugeordnet wird. Denn über die Zusammenkunft im Club am See darf und soll berichtet werden, aber es gibt einige für solche Veranstaltungen übliche Einschränkungen: Das Gesagte darf niemandem zugeschrieben und die anwesenden Personen dürfen nicht benannt werden.

Dann begannen die Gespräche und die Diskussionen auf dem Podium. Die Welt spreche zu wenig über die Geiseln, die sich noch immer in den Händen der Hamas befinden, sagte jemand. Dass die Geiseln überhaupt zu einem Verhandlungs­punkt geworden seien, beweise schon den Anti­semitismus bei den Vereinten Nationen, dem Roten Kreuz und in den Medien.

Über die Geiseln sprach danach aber fast niemand. Sondern vor allem über die UNRWA, die Flüchtlings­organisation der Vereinten Nationen für die Palästinenser.

Die UN-Organisation ist die wichtigste Hilfs­organisation im Gazastreifen und befindet sich derzeit in einer existenziellen Krise. Im Dezember stellte die UNRWA neun Angestellte frei, nachdem Israel die Organisation mit dem Vorwurf konfrontiert hatte, dass zwölf ihrer Mitarbeiter in die Angriffe vom 7. Oktober verwickelt gewesen seien. Daraufhin stellten mehrere wichtige staatliche Geldgeber ihre finanzielle Unterstützung für die Organisation ein, was die humanitäre Lage im Gazastreifen weiter verschlechterte.

Wir standen auf dem Balkon der Villa und sahen, wie der Himmel über dem Zürichsee langsam seine Farbe verlor. Auf Social Media hatte Philippe Lazzarini, der Kommissar der UNRWA, kurz zuvor die neusten Daten zum Hunger im Gaza­streifen veröffentlicht.

Er warnte vor einer akuten Hungersnot im Norden Gazas. Er warnte, dass die Hälfte der Bevölkerung in Gaza ihr Essen aufgebraucht habe. Er warnte, dass noch nie so viele Menschen gleichzeitig an «catastrophic hunger» gelitten hätten, der schlimmsten von fünf Hunger­stufen. Kinder würden an Wasser­mangel und Hunger sterben.

In jener Woche, schrieb der Chef der UNRWA, sei wieder ein Konvoi mit Nahrungs­mitteln daran gehindert worden, nach Gaza zu fahren. Seit fast zwei Monaten habe die UNRWA keine Essens­güter mehr in den nördlichen Gazastreifen bringen können.

Das Publikum an diesem Abend hatte aber ein ganz anderes Bild von Lazzarini: Er stand an der Spitze der UNRWA und war damit Teil des Problems. «I mean, this is a Swiss guy», sagte jemand. Man müsse doch irgendwie gegen diesen Mann vorgehen können.

Jemand auf dem Podium sagte: Niemand wache eines Morgens auf und ziehe plötzlich los, um Frauen zu vergewaltigen, Menschen zu verbrennen und Babys aus dem Bauch einer Mutter zu schneiden. Die Hamas-Massaker seien nicht in einem Vakuum entstanden. Den Weg zum 7. Oktober habe die UNRWA geebnet.

Schulen und Camps der UNRWA seien Horte der antisemitischen Radikalisierung. Wenn ein Hamas-Terrorist Immunität wolle, dann trete er der UNRWA bei. Die UNRWA biete ein «social package» für Terroristen. Sie verkaufe den Palästinensern die Idee (oder die Illusion) eines Rückkehr­rechts. Die Kernidee der UNRWA sei, dass irgendwann Millionen von Palästinensern Israel fluten und es so auslöschen würden. Die UNRWA, so sagte jemand zusammen­fassend, sei im Wesentlichen von der Hamas übernommen worden.

Die israelischen Behörden hatten im März öffentlich erklärt, dass eine grosse Zahl von UNRWA-Mitarbeitern Mitglied der Terror­organisationen Hamas oder Islamischer Jihad seien. Anfang dieser Woche ist nun der Bericht einer externen Untersuchung durch die ehemalige französische Aussen­ministerin Catherine Colonna erschienen. Der Bericht entlastet die UNRWA weitgehend: Die Flüchtlings­organisation habe seit 2011 jährlich Listen ihrer Mitarbeiter mit Israel geteilt und sei nie über irgendwelche Bedenken vonseiten Israels informiert worden. Es lägen ausserdem keine Beweise vor, dass eine bedeutende Zahl von UNRWA-Personal Terror­organisationen angehöre. Eine zweite, UN-interne Untersuchung prüft derzeit die Vorwürfe, wonach zwölf UNRWA-Mitarbeiter in die Massaker vom 7. Oktober verwickelt gewesen seien.

Die Schweiz hat wegen der Vorwürfe ihre Zahlungen an die UNRWA bis auf weiteres eingestellt. Das Parlament hat Lazzarini vor kurzem angehört. Der Bundesrat und die zuständige Parlaments­kommission entscheiden in diesen Tagen, wie es weitergehen soll.

Doch an diesem Abend im März war das Urteil über die wichtigste humanitäre Organisation im Gaza­streifen längst gefällt. «Wir müssen die UNRWA stoppen!», sagte jemand auf dem Podium zum Publikum.


Der Mann, der den Gräuel­film für die israelische Armee geschnitten hat, sagte in einem Interview, er habe sich den Vorführ­raum für den Film vorgestellt wie einen Gerichtssaal. «Und die Journalisten wie die Jury des Gerichts.»

An der Decke des Salons im Club Baur Au Lac klebte Besteck. Da waren Löffel und Gabeln, aneinander­gereiht und nebeneinander­gelegt, als ausgefallene Stuckatur. Über mir bildeten ein Dutzend Löffel und Gabeln einen Kreis, die Kellen zeigten nach aussen, die Stiele nach innen. In ihrer Mitte hing ein von Hand gefertigter Kronleuchter aus goldenen Ginkgo­blättern von der viereinhalb Meter hohen Decke. Neben mir sassen ein Filme­macher und ein ehemaliger Topmanager. Die beigen Sessel waren aufgereiht wie im Kino. Warmes Licht strahlte von den Wandlampen und tauchte den Raum in ein mattes Gold. Auf einem Tischchen vor dem Balkon stand ein ausgetrunkenes Glas Rotwein. Der Manager rückte ein Stück zu mir, um besser nach vorne zu sehen, dann ging das Licht aus und wir wurden Zeugen davon, wie die Hamas mit Pick-ups durch ein Loch im Zaun fuhr, den Gaza­streifen verliess und in Israel einfiel, um ein Massaker anzurichten.

Zu Beginn des Films waren es bloss Schüsse aus der Ferne, mit wechselnden Kamera­perspektiven, einmal der Blick der Mörder, dann der Blick der Ermordeten, von der Bodycam der Terroristen auf die Dashcams der Opfer.

Je länger der Film dauerte, desto lauter wurden die Jubel­schreie der Entführer, desto unerträglicher die Angst­schreie der Todgeweihten, desto blutiger die Gräuel­taten der Männer mit ihren Gewehren und Messern und Feldhacken. In jeder Szene hielt die Kamera ein paar Sekunden länger drauf, als der Zuschauer aushalten konnte.

Zwischendurch seufzte jemand und ich drehte meinen Kopf immer öfter zur Seite oder auf den Boden, aber das Schiessen und die Schreie gingen weiter, während auf dem Bildschirm in ewiger, unerträglicher Abfolge immer wieder das Gleiche neu gezeigt wurde – Maschinengewehr­feuer, Entführungen, Geschrei, Verstümmelungen, Köpfungen und überall Leichen und Blut und Leichen und Blut und Leichen …


Es war etwa eine halbe Stunde vergangen und auf dem Bildschirm leuchteten jetzt weiss auf schwarzem Grund die Wörter «Nova Festival».

Auf dem Gelände des Festivals in Re’im wurden 364 Menschen getötet, es ist vermutlich das am besten dokumentierte Massaker des 7. Oktober. Hunderte hatten den Überfall der Hamas gefilmt oder in Echt­zeit auf Social Media gestreamt, das Netz ist voll von Bildern fliehender Menschen, Erschiessungen und leblosen Körpern, aufgenommen aus allen möglichen Winkeln – «von den Schlächtern und den Geschlachteten», wie «Haaretz» in einem Artikel über einen (anderen) Dokumentar­film zum Nova-Massaker schrieb.

Was tun?

Später las ich bei Susan Sontag: «In die Erschütterung beim Betrachten der Nahaufnahme eines wirklichen Schreckens mischt sich Beschämung. Vielleicht haben nur jene Menschen das Recht, Bilder eines so extremen Leidens zu betrachten, die für seine Linderung etwas tun könnten. In jedem Fall lädt uns das Grauenhafte ein, entweder Zuschauer zu sein oder Feiglinge, die nicht hinsehen können.»

Als es einen Moment still war, stand ich auf und verliess den Salon. Ich hatte genug Gewalt gesehen. Genug Schreie gehört. Genug Jubel. Genug Horror. Zu viel von allem.


Die Toilette war tropisch tapeziert und in dezentem Licht gehalten. Neben dem Lavabo lagen olivgrüne, gefaltete Tücher, um sich die Hände zu trocknen. Hinter dem Lavabo befand sich ein gepolsterter Sitz, auf den ich mich fallen liess.

Ich nahm meinen Notizblock und schrieb Gedanken und Eindrücke und Erinnerungen auf, als könnte ich damit aus meinem Gedächtnis löschen, was ich gerade gesehen hatte, aber ich werde nicht vergessen, wie der Junge, dessen Vater gerade vornüber gekippt war, nachdem ein Terrorist eine Handgranate nach ihm geworfen hatte, blutüberströmt in Unterhosen mit seinem Bruder in der Küche sitzt und heult und wimmert und schluchzt und völlig ausser sich nach seiner Mutter schreit, während der Terrorist in aller Gelassenheit den Kühl­schrank durchwühlt, einen Schluck Cola trinkt und dem Jungen Wasser anbietet.

«Vater ist tot», sagt der eine Junge. «Es war kein Scherz.»

«Ich glaube, wir werden sterben», sagt der andere.

«Warum bin ich am Leben?»

«Ich will meine Mama!»


Ich setzte mich im Vorraum neben das Cheminée und wartete. Auf den Tischen standen noch ein paar Kartoffel­samosas und Getränke. Die Bedienung zögerte, ob sie mir etwas anbieten sollte. Im Treppenhaus erzählten ein paar Gäste über ihre Ferien in Südamerika und lachten. Eine Frau stürzte aus dem Salon, drückte das Gesicht gegen die Wand und schluchzte.

«I’m so sorry», sagte sie. Dann verschwand sie in eine Ecke, wo niemand sie sehen konnte.

Als der Film zu Ende war, kehrte ich zurück in den Salon, drängte mich durch die gelichteten Reihen, vorbei an abgelöschten Blicken und aufgerissenen Mündern. Jemand bat, die Fenster und die Balkon­türen zu öffnen, damit alle wieder atmen konnten. Und dann sagte jemand vom Podium zum Publikum, mit dem Finger auf den schwarzen Bildschirm zeigend: «This is what comes out of UNRWA schools by the way.»


Jemand fragte, ob sich Israelis und Palästinenser jemals die Hand werden reichen können. How can there be peace? Das ist, was seit dem 7. Oktober alle Öffentlichkeit zuerst interessiert: wann endlich Frieden ist. Waffen­stillstand, Versöhnung, Vergebung. Ende.

Was, wenn es das nicht gibt? Nicht für eine sehr lange Zeit? Nicht für die Israelis nach den Massakern vom 7. Oktober, nicht für die Palästinenser nach der Zerstörung von Gaza? Was ist, wenn die Angst, vom anderen vernichtet zu werden, grösser ist als die Hoffnung, in einer gemeinsamen Zukunft zu leben?

«Wir leben das Trauma», sagte jemand im Saal.

Ich stand auf, liess mir den weissen Umschlag geben, in dem mein Handy steckte, und ging nach draussen. Ich dachte an die Worte, die zuvor jemand über den Film gesagt hatte: «Es gibt noch mehr Material. Das ist nur das, was erträglich ist.» Am nächsten Tag dankten mir die Gastgeberinnen in einer E-Mail für meine Anwesenheit. Es sei ihnen eine Ehre gewesen. Sie überlegten, weitere solche Abende zu organisieren. Ich möge doch bitte Namen, Position und Kontakt­daten schicken von so vielen «besorgten und einfluss­reichen» Personen wie möglich.

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