«Ich habe die Schnauze voll von trans»

Als trans Teenie zierte sie spanische Titelseiten, als 20-Jährige schrieb sie einen philosophischen Essay über Geschlechts­identität. Aber Elizabeth Duval will nicht Geschlecht überwinden, sondern trans.

Von Marie-José Kolly (Text) und Carlos Chavarría (Bilder), 16.03.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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«‹Anders› ist etwas, was man viel mehr ist, als dass man es von sich aus fühlt – es ist die Welt, die es einen fühlen lässt»: Elizabeth Duval.

«Hallo. Zuerst ein Kaffee», sagt Elizabeth Duval, als sie im Tür­rahmen erscheint. Oben in der Wohnung schlafe ihre Freundin noch. Dann geht sie mit langen Schritten durchs Quartier und peilt das Café eines Theaters an. Es ist ein Montag in Madrid, Duval trägt Schwarz und spricht mit rauer Frühmorgen­stimme. Nach etlichen Zigaretten und Milchkaffees, und einem Schlenker über ihre frühere Schule, spazieren wir zurück. Und ich traue mich, sie nach ihrer Pubertät zu fragen.

Elizabeth Duval gibt in ihrem Buch «Nach Trans» und in Interviews dazu kaum Persönliches preis. Was sie andeutet: Auf ihrem Weg vom Kind zum Teenager habe sie «unendlich» gelitten – so die deutsche Übersetzung aus ihrer Mutter­sprache, dem Spanischen. Erzählt sie mir von diesem unendlichen Leiden? Duval bleibt stehen und grinst mich an.

«Wow, wow! In der Übersetzung klingt das wirklich heftig.»

Hinter uns bewirbt eine mit Graffiti umrankte Bar Smoothies. «Fruits of all flavors» steht über sorgfältig hingesprayten Bananen, Auberginen und Pfirsichen an der Wand, und «Love for all tastes» neben einer Regenbogen­flagge. Schräg gegenüber verkauft ein Laden Kunst und Bücher, die Kinder für Diversität sensibilisieren sollen: Kater Federico frühstückt mit Klein Ana und ihren beiden Mamas, später schaukelt er mit zwei Papas deren Baby in den Schlaf. Hier ist Duval daheim, seit sie 10 Jahre alt ist – im Madrider Quartier Lavapiés.

Verlässt man das Quartier, ist die Stimmung rauer und hetero die erklärte Norm: Der Bürger­meister von Madrid kam dank Stimmen der rechts­extremen Vox-Partei an die Macht, seine Partei machte im vergangenen Dezember regionale Gesetze zum Schutz von trans Menschen rückgängig. Ein Vorort von Madrid strich im vergangenen Jahr eine Aufführung von Virginia Woolfs «Orlando», weil darin ein männlicher Protagonist zur Frau wird. Und ein paar hundert Kilometer weiter nördlich nahm eine Gemeinde Disneys «Lightyear» aus dem Sommer­kino-Programm, weil im Film eine Frau eine Frau küsst. Hätten die rechten Parteien die Parlaments­wahl vom Sommer gewonnen, würden sie nun versuchen, das sogenannte Selbst­bestimmungs­gesetz für trans Menschen zu schreddern. (Seit März 2023 kann man in Spanien seinen amtlichen Geschlechts­eintrag ohne Besuch bei Ärztin oder Psychiater ändern lassen.)

Daheim angekommen, setzt sich Duval neben einen grossen Plüsch­panda auf das Sofa und erzählt von ihrer Pubertät, vom Sommer, als sich ihr Körper zu verändern begann.

Der Gedanke, ein Bart könnte wachsen, rasieren würde nötig – undenkbar. Kummer und Sorgen trägt Duval damals allein mit sich herum, enge Freunde gibt es in der Schule kaum. Duval denkt über ein Coming-out nach, allein und mit ein paar Online-Freunden. Schreibt dann einen Text, der die Sätze dafür vorspuren soll. Ruft, kurz nach dem 14. Geburtstag im August, die Mutter ins Zimmer. Duval ist nervös, ihr ist übel, die Worte bleiben stecken. Also reicht sie der Mutter den Computer­bildschirm mit den Notizen. Diese bleibt gelassen.

Mit 14 Jahren war Duval eines der ersten Teenies, die in Spanien Pubertäts­blocker bekamen und eine Hormon­therapie. Sie sprach gut und sah gut aus, also machten die Medien sie zur Wort­führerin der Community, ja, zur trans Ikone. Spanien schaute ihr im Fernsehen zu, hörte sie in Diskussions­runden, las sie in Zeitungen, sah sie in Mode­magazinen. Das Porträt der 16-jährigen Duval erschien auf der Titelseite der Jugend­beilage der spanischen Tages­zeitung «El País», daneben der Satz: «El futuro es trans», die Zukunft ist trans.

Heute schreibt Elizabeth Duval: «Ich habe die Schnauze voll von trans.»

Trans als Etikett oder als Kategorie: Taugt nicht, sagt sie. Nicht für ihre Theorie von Geschlecht, nicht für die Gesellschaft, nicht für sie selbst. Duval will vorwärts. Dorthin, wo das Interesse an ihrer Trans-Identität zur Vergangenheit gehört.

Duval weiss wohl, dass manche trans Menschen trans nicht überwinden können: weil sie als solche erkennbar sind. Oder nicht überwinden wollen: weil sie als solche anerkannt werden möchten.

Ihre frühe Transition, die Berühmtheit, der Erfolg als Autorin: Sie geben ihr Freiheiten, die andere nicht haben. Duval kann auf der Strasse als Frau gelesen werden, ohne dass Passanten «trans» mitdenken. Sie kann öffentlich deklarieren, sie wolle nach Publikation dieses Buchs nicht mehr ständig über trans reden, und wird gehört. «Ich war ein Bild», schreibt sie, eine Ikone, vielleicht eine Projektions­fläche, «und jetzt stehe ich auf dem Gipfel einer ungerechten Welt

Nur: Vielleicht würde «nach Trans» die ungerechte Welt auch anderen trans Menschen gerechter. Den Menschen mit all ihren Facetten.

1. Als Geschlecht noch keine Rolle spielte

«Graf Dracula, Ihr Diener Anselmo, Anselmooo!» Die verstellte Stimme des Grossvaters, der während der Siesta im verdunkelten Schlaf­zimmer die immer gleiche Geschichte vom Vampir und seinem Butler erzählte, ist eine von Duvals ersten Erinnerungen. Es war eine Zeit, in der sie unter einem Dach lebten: Duval und der Grossvater, zusammen mit Mutter, Grossmutter, Urgrossmutter und einem Onkel.

Das Kind, das Duval einst war, interessierte sich vor allem für Geschichten. In der Schule verbrachte es die Pausen allein, lesend auf dem Pausen­platz. Während der Mathematik­stunde linste es unter den Schreibtisch, wo ein Buch auf den Knien aufgeschlagen lag. Hatte die Mutter Zeit für einen Ausflug, so wollte Duval mit ihr in die Bibliothek.

Da war niemand, der Duval auf den Fussball­platz geschickt hätte, keiner steckte das Kind in Superhelden­kostüme oder Ritter­rüstungen. Vielleicht sei ihre Geschlechts­identität als Kind nie gross aufgekommen, weil sie keinen stereotypen Aktivitäten nachgegangen sei, sagt Duval heute. Es war eine Kindheit vor Büchern und dem Computer und mehrheitlich ohne Vater im Haushalt.

«Ich habe diese sehr gegenderte Welt der Jungen nie bewohnt, mir war da nicht wohl», sagt sie. Aber mit der schwindenden Kindheit schwanden auch Freiheiten. Der eigene Körper begann, Dinge zu tun, um die er nie gebeten worden war. Die Körper der anderen auch. «Und plötzlich war ich gezwungen, in dieser Welt zu sein. Die Umkleide­kabine der Jungen: total furcht­erregend.»

Wie Menschen zu ihrer Geschlechts­identität kommen (manchmal zu einer, die abweicht vom Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde): Das ist eine der grossen Fragen der Gegenwart. Sie ist schwer zu erforschen, weil Menschen, die nicht mehr Neugeborene sind, immer von beidem geprägt sind: von ihrer Natur und ihrer Umwelt, nature und nurture. Mit Blick auf die bisherige wissenschaftliche Forschung steht zwar fest, dass Geschlechts­identität nicht ausschliesslich durch Biologie entsteht, und auch nicht nur erworben ist. Nature spielt mit, nurture auch. Aber wovon wie viel? Darüber weiss man noch wenig.

Macht das Testosteron, das Föten mit einem Y-Chromosom ein paar Wochen nach der Befruchtung produzieren, männliche Menschen aggressiver? Unklar (und hoch umstritten). Haben die ähnlichen Gehirn­strukturen von trans Frauen und cis Frauen biologische Gründe, oder soziale, oder ein bisschen von beidem? Muss weiter erforscht werden. Mädchen, deren Körper wegen einer genetischen Anomalie androgyn werden, verhalten sich beim Spielen anders als Mädchen ohne diese Anomalie – liegt das am vielen Testosteron, dem sie als Föten ausgesetzt waren? «Mehr oder weniger. Vielleicht. Möglicherweise», schreibt die Biologin und Gender-Wissenschaftlerin Anne Fausto-Sterling.

Natur und Umwelt durchdringen einander gegenseitig: Hormone können mitprägen, wie wir Menschen uns in einer bestimmten sozialen Situation verhalten. Letztere wiederum kann sich auf den Hormon­spiegel auswirken. Wir sollten akzeptieren, schreibt Duval, «dass wir nicht genau wissen – selbst wenn diese Ungewissheit eine momentane und historisch vielleicht vorübergehende ist –, wie sich Umfeld und Genetik gegenseitig beeinflussen».

Elizabeth Duval weist auch die gängige Vorstellung zurück, trans Menschen seien im falschen Körper geboren (sie hätten etwa ein «weibliches Gehirn» in einem «männlichen Körper»): Die Vorstellung tut so, als spielte nurture keine Rolle beim Aufbau der Geschlechts­identität. Dabei gibt es Geschlechts­merkmale, die, so Duval, «eingeprägt, vermittelt und gelernt werden wie eine Sprache». Und die Menschen im Austausch mit anderen lernen, mit Eltern und Grosseltern, Geschwistern und Gesellschaft. Wie häufig wir aus sozialen Gründen lächeln, lernen wir auf diese Weise. Wie breit­beinig wir sitzen. Wie sehr wir glauben, Berufe wie Ingenieur oder Kosmetikerin könnten zu uns passen. Wie häufig wir «Pardon» sagen oder unsere Aussagen mit «ich glaube» einschränken.

Elizabeth Duval raucht dünne Zigaretten und wickelt ihre Haare um den Zeige­finger, während sie spricht, kurz überlegt, sich gedanklich weiter vortastet und darauf Wort für Wort folgen lässt.

Damals, als die Mutter während langer Tage Hotel­zimmer säuberte und Betten machte und die Grosseltern ihrer Arbeit nachgingen, blieb das Kind Duval mit der Urgross­mutter daheim. Schaute mit ihr Talent­shows am Fernsehen, ass, was sie gekocht hatte. Gab es Poulet­flügel, entfernte die Urgrossmutter vorab alle Knochen. Das einzige Kind im Haushalt wurde umhegt. Was fehlte: volle Bücher­regale.

Sie habe immer mit Neid auf die Familien des oberen Mittel­stands geblickt, erzählt Duval, «die kulturelle Bourgeoisie», wie sie sie während des Studiums in Paris kennen­lernte. Im Elternhaus von Bekannten, die zu Soirées einluden, standen enorme Bibliotheken. «Sie hatten schon als 7-Jährige von Racine gehört, während ich vom Schnecken­detektiv las.»

2. Das Spiel mit virtuellen Rollen

Duval machte das Internet zu ihrer Bibliothek. «Eine riesige Text­wand, das hat mich reingezogen», sagt sie. Als 10-Jährige spielt sie stundenweise Rollen­spiele oder Video­games und chattet mit Fremden, die Freunde werden. Damit die sie ernst nehmen, schwindelt sie zu ihrem Alter 7 Jahre dazu. Doch nachdem sie jahrelang diese Beziehungen gepflegt hat, beginnt sie zu fürchten, ihre Online-Freunde könnten ihr das übel nehmen, und taucht unter.

Im virtuellen Raum ist genau genommen eben kein Raum, und damit auch kein Fleisch, kein Blut, kein Körper – keine Materie, die die Identität jener, die sich dort aufhalten, an sich bindet. Das gibt der Identität eine längere Leine. Im Virtuellen können sich Menschen freier bewegen und spielen: sich älter geben oder weiblicher, sich dreister verhalten, als sie es in der realen Welt wagen würden, oder humorvoller – und ausprobieren, wie sie selbst und wie andere darauf reagieren. Irgendwann finden die Online-Freunde Elizabeth Duval in einer anderen Ecke des Internets, und sie versöhnen sich.

Es ist eine lange Leine, nicht keine: Das, was wir Menschen uns überhaupt vorstellen können, setzt solchen Rollen­spielen Grenzen. Wir dächten uns so, wie wir uns dächten, weil wir uns «im Rahmen eines sehr konkreten wirtschafts­politischen Kontexts und bestimmter geografisch-politischer Beziehungen in genau dieser Weise entdeckt» hätten, schreibt Duval. Dieses Drumherum bestimmt mit, welche Geschlechter­rollen Menschen geläufig sind, wie viel davon sie sich aneignen und was sie einigermassen sanktionslos ausleben dürfen. Wenn es heute deutlich mehr trans Menschen gibt als noch vor 20 Jahren, hat das laut Duval auch damit zu tun, dass sich das Drum­herum gelockert hat.

Mehr als das: Die gesamte Geschlechter­ordnung habe sich verändert, als Frauen in den Arbeits­markt eintraten und sich «bis zu einem gewissen Grad» vom Haushalt lösten. Weiblichkeit und Männlichkeit sind also näher zueinander­gerückt. Das bedeutet, zusammen mit den technologischen Entwicklungen: Menschen haben heute mehr Möglichkeiten, sich zu entwickeln, zu entdecken und auszudrücken.

Regale braucht Elizabeth Duval zu Hause nicht – ganz links ist der Stapel mit ihren Büchern und ganz rechts schaut Karl Marx in die Stube.

So sind neue sogenannte Selbst­bestimmungs­gesetze entstanden, in Spanien und auch in der Schweiz. Menschen können heute eigenständig ändern lassen, was Duval damals nur nach medizinischer und psychologischer Begutachtung und lange nach Beginn ihrer Hormon­therapie anpassen konnte: ihren Vornamen und ihren amtlichen Geschlechts­eintrag.

Für viele trans Menschen sind solche Gesetze existenziell: Den eigenen Namen ändern zu können, reduziert das Risiko von Suizid­gedanken. Das gilt auch allgemeiner fürs Transitionieren: Gemäss einer umfangreichen britischen Studie denken 67 Prozent der trans Menschen vor der Transition häufiger über Suizid nach als danach; umgekehrt sind es nur 3 Prozent. Dennoch, dass man dabei immer über «Selbst­bestimmung» rede, sei schief, sagt Duval. Sie stört sich an der Vorstellung von Freiheit, die dahinter­steckt und die suggeriert, man könne sich sein Geschlecht aussuchen wie den Avatar im Game.

In ihrem Wohn­zimmer liegen Bücher hüfthoch gestapelt auf dem Boden, Regale hat sie keine. Ein Stapel: ihre eigenen Bücher. Daneben: ein Stapel mit Werken von befreundeten Autorinnen. Etwas weiter, kniehoch: eine Neuausgabe von Karl Marx’ «Kapital» mit einem Vorwort von Duval. Und unzählige Bücher aus ihrem Studium an der Sorbonne in Paris, philosophische Schriften und französische Literatur. Wir sitzen auf dem Boden und sprechen über Selbst­bestimmung und Freiheit, und plötzlich greift Duval nach einem Titel des Philosophen Baruch de Spinoza, blättert und liest eine ganze Seite vor:

«Les hommes se trompent en ce qu’ils se croient libres; et cette opinion consiste en cela seul qu’ils ont conscience de leurs actions et sont ignorants des causes par où ils sont déterminés …» Ihre Hand tanzt mit dem Auf und Ab ihrer Stimme mit, ich sitze etwas verlegen daneben und verstehe zwar das Französisch, aber kaum den Spinoza.

Duval hilft nach: Unsere Freiheit bestehe nicht darin, willentlich Option A zu wählen; wir seien lediglich frei zu erkennen, weshalb wir uns auf diese Option zubewegen.

Menschen können nicht einfach die Geschlechts­identität auswählen, die sie gerne hätten; aber sie sind frei, diese zu erkennen – und, vielleicht, wie sie zu ihr gekommen sind.

Duval würde sich «nie dafür entscheiden, eine Frau zu sein», schreibt sie, zumindest «von einem streng politischen Standpunkt aus». Niemand entscheide sich freiwillig «für die alltägliche Routine, sich auf dem Nachhause­weg durch enge Gassen bedroht zu fühlen, sich gering­geschätzt und sexualisiert zu wissen». Es sei aber nun einmal so, dass sie sich nicht vorstellen könne, in dieser Gesellschaft als etwas anderes zu leben denn als Frau – «aus Gründen, die sich mir entziehen und die ich mir nicht ausgesucht habe».

Selbstbestimmt und aus Gründen hat sie sich jedoch einen neuen Nach­namen ausgesucht, den sie auch amtlich annehmen lassen will. Duval heisst eigentlich anders, sie trägt wie in Spanien üblich die Nachnamen ihres Vaters und ihrer Mutter. Ihr Pseudonym ist eine auf Französisch übersetzte Hommage an ihre Urgrossmutter Isabel Del Valle.

3. Die Rolle der anderen

Nach der Transition verliert Elizabeth Duval all ihre Schul­freunde: Der katholischen Schule, die sie besucht, ist mit einer trans Schülerin nicht wohl. Im neuen Gymnasium in ihrem Quartier dagegen ist trans eine Neben­sache: «Daran dachten wir nie, das gehörte zur Vergangenheit», sagt ein Freund von Duval am Telefon. Äusserte sich einmal jemand transphob, blieb Duval ruhig, auf Konflikte liess sie sich nicht ein. Und ihre Freunde taten es nur, wenn sie nicht da war.

Duval war für ganz anderes bekannt: Immer wieder schaffte sie es, das Gespräch zu lenken auf Dinge, die sie gerade interessierten. Beim Kaffee, beim Bier, auch dann, wenn ihre Freunde eigentlich über anderes reden wollten. «Sie fand immer einen Weg, die Debatte zu lancieren», sagt der Freund. «Manchmal mussten wir sie bremsen und sagen: ‹Eli, jetzt ist nicht der Moment, über Politik zu sprechen.›»

Wir stehen zusammen in diesem Gymnasium: eine traditions­reiche Madrider Schule, in der auch schon Mitglieder des Königs­hauses ihre Matura ablegten. Gut 5 Jahre ist es her, dass Duval hier in Schul­zimmern sass. Aber als die Lehrerinnen aus ihrer Sitzung strömen, scharen sie sich um sie. Küsschen, Umarmungen, Selfies, der Lärm­pegel schwillt an. Der Direktor zieht uns ins Sitzungs­zimmer, er will zeigen, dass dort die «El País»-Seite mit Duvals Porträt ausgestellt ist. Die Französisch­lehrerin erzählt, es habe ihr so viel gegeben, diese «élève incroyable», diese unglaubliche Schülerin, in ihrer Klasse zu haben. Duvals Intellekt: «brillant». Ihre damaligen Texte: «à tomber par terre», zum Umfallen. Sobald ein Artikel über die ehemalige Schülerin erscheint, macht er im Kollegium die Runde.

Auch ihre Freundinnen heben im Gespräch mit mir hervor, wie intelligent Duval sei, wie speziell. Sie sei «magical», habe eine eng befreundete Schrift­stellerin gedacht, nachdem die beiden nebeneinander bis in die Nacht gearbeitet hätten und sie morgens um drei plötzlich gemerkt habe, dass Duval am Laptop eingeschlafen sei – aber immer noch in die Tasten tippte.

Als ich Duval frage, ob sie sich schon als Kind anders gefühlt habe, erzählt sie zunächst vom Alleinsein, dem Lesen und den Stunden im Internet. Dann sagt sie: «‹Anders› ist etwas, was man viel mehr ist, als dass man es von sich aus fühlt – es ist die Welt, die es einen fühlen lässt.»

Das ist auch ihre Kern­these zum Geschlecht: Der Blick der anderen konstituiert unsere Identität mit.

Der Gedanke stammt aus der Psycho­analyse: Das Bild, das wir von uns selbst haben, gibt es so nur, weil andere existieren, die es auf uns zurück­werfen. «Auf einer einsamen Insel ergibt Geschlecht keinen Sinn», sagt Duval. So wie Kinder, die keine anderen Menschen um sich haben, keine Sprache entwickeln.

Diese anderen sind auch da, wenn sie nicht da sind: als Position, als Spiegel­bild. Im Gespräch mit der Philosophin verstehe ich plötzlich, warum ich manchmal Lippen­stift trage, obwohl ich allein daheim bin.

Wie prägten diese anderen Duvals Geschlechts­identität als Frau?

Sie antwortet mit einem Zitat der Schrift­stellerin Margaret Atwood. Ich hake nach, sie erzählt von einer Szene aus einem Buch von Alexandre Dumas. Dann von deren Adaption im Film von Jean-Luc Godard. Und irgendwann sagt sie, wir Menschen navigierten das Geschlechts­system meist automatisch, ohne gross darüber nachzudenken – so wie wir atmen oder sprechen.

Etwas wie Geschlechts­identität sei einem zwar in der Gegenwart intuitiv bewusst. Aber zu erkennen, was in der Vergangenheit dazu geführt habe, sei oft unmöglich. Die Geschichte einer Person zu rekonstruieren, um ihr Trans-Sein zu begründen, sei «nichts anderes als eine Übung in fiktionalem Schreiben».

Der Blick der anderen ist spürbar, wenn Duval nachts allein nach Hause läuft. Sie sehen eine Frau. Die Frau weiss das. Und fühlt sich unsicher.

Mit Biologie hat so etwas nichts zu tun: Der Ursprung des sozialen Geschlechts sei zwar materiell, das soziale Geschlecht selbst sei es nicht, schreibt Duval. «Eine Frau wird nicht vergewaltigt, weil sie eine Vulva hat.» Sondern «wegen der Vorstellung, wegen des Blicks, die auf sie projiziert werden, weil sie als passives und empfangendes Subjekt imaginiert wird».

Ich habe als Wissenschaftlerin und als Journalistin lange in befristeten Verträgen gearbeitet. Und ab den Dreissigern stets gefürchtet, meine grundsätzliche Gebär­fähigkeit könnte den nächsten Vertrag gefährden. Erst beim Lesen von Duvals Zeilen habe ich wirklich realisiert, dass dahinter nicht meine Biologie lag. Sondern das, was andere – basierend auf meiner Erscheinung – für meine Biologie halten.

Hier liegt der Kern dessen, wo der trans-ausschliessende Feminismus irrt: Frauen werden im Alltag diskriminiert, weil sie als Frauen wahrgenommen werden und nicht wegen dem, was unter ihrer Kleidung oder hinter ihrer Bauch­decke liegt.

Es ist Ende Nachmittag in einem Restaurant, das afrikanische Fusions­küche serviert, Duval sitzt neben ihrer Freundin vor einem leeren Teller. Sie hebt hervor, wie privilegiert sie sich fühlt im Vergleich etwa zu älteren trans Frauen, die als solche sicht- und erkennbar sind und deren Suche nach Arbeit oft in der Sex­arbeit mündet. Die wahren Diskriminierten, das seien sie.

«Eli wird auf der Strasse häufiger dafür angefeindet, dass sie Hand in Hand mit einer Frau unterwegs ist als dafür, dass sie eine trans Frau ist», sagt ihre Freundin.

4. Spielt es eine Rolle?

Es ist März 2020, der Tisch fürs Paar des Abends ist gedeckt, der Moderator steht bereit. «First Dates» ist eine Reality-Show, die Singles verkuppelt. Und fürs heutige Blind Date konnte die Sendung eine trans Frau gewinnen, Elizabeth Duval.

Auftritt Duval: «Ich bin hier, um über mein Buch zu sprechen.»

Sie sei schon immer eine Strategin gewesen, sagt ein Freund von Duval. Sie habe immer gewusst: Sie würde Philosophin und Schrift­stellerin werden, in Paris studieren und dann nach Madrid zurück­kehren.

Um die Zeit in Paris dreht sich das Buch aus «First Dates», Duvals literarisches Debüt. «Reina» erzählt vom Schreiben und vom Leben drumherum – davon, wie sich das geschriebene zum gelebten Leben verhält. Es geht um die kreisenden Gedanken, wenn eine Freundin mit einem Unbekannten die Party verlässt. (Anrufen? Um eine SMS bitten? Zunächst selber sicher heimkommen?) Es geht um die Spannung zwischen Herkunft (Arbeiter­klasse) und Gegenwart (ein Vorlesungs­saal an der Sorbonne). Oft um Zigaretten, Rum und Wein (welchen man trinkt und wie politisch aufgeladen das ist). Und um Freunde, die mitten in der Nacht gemeinsam Schokoladen­kuchen backen und einander sagen, was gesagt werden muss.

Beim Schreiben sei sie «verliebt in mich selbst (gewesen) und gefangen von der brodelnden Materie», schreibt Duval. Ganz anders beim nächsten Buch, jenem zu trans: «trockenes, sprödes Material, an dem ich keinen Gefallen, keine jouissance finde». Es überhaupt zu schreiben, kam einem Widerspruch gleich: Es bedeutete, sich der «reduktionistischen Logik» zu unterwerfen, «die aus allem, was ich schaffe, ein trans Schaffen macht, ein lesbisches Schaffen, ein weibliches Schaffen, ein kommerzialisierbares Schaffen: Ich ficke den Markt, und der Markt fickt mich.»

Also schrieb Duval fast aus Verpflichtung, wie sie erzählt, weil sie erstens etwas zu sagen habe und zweitens gut darin sei. Aber da war noch etwas:

In Paris war Duval keine öffentliche Person. «Ich habe dort keine Gespräche geführt, in denen ich mich geoutet habe, und ich hoffe, das bleibt so. Ich musste noch nicht wie eine trans Person leben (…). Ich habe nicht das Bedürfnis, mich mir selbst zu erzählen oder ein Narrativ zu produzieren, in dem trans sein im Mittelpunkt steht

Duval schrieb in Paris auf, was sie zu trans zu sagen hatte, damit es ein für allemal geschrieben und gesagt war. Damit die Leute aufhören, sie um Antworten zu trans zu bitten. Und sie sich um anderes kümmern kann.

Warum trans loswerden und nicht eher die Geschlechts­kategorien selbst? Sie antwortet mit einem Buchtitel, über den wir ein paar Stunden früher vor einem der Stapel gesprochen haben: «Man muss sich realistische Utopien aussuchen.»

Das Ende der Geschlechter sei keine realistische Utopie – eher würden wir das Ende der menschlichen Zivilisation erleben, schreibt sie. Der dualen Ordnung des Systems Geschlecht ist kaum zu entkommen: weil ihre Normen uns von klein auf konstruieren, weil wir diese Normen lernen und automatisieren wie eine Sprache. Weil der Blick der anderen unausweichlich ist (und diese anderen gewohnt sind, Körper binär zu lesen). Weil Geschlecht, nebst viel nurture, eben auch nature ist.

Trans als Etikett ergibt innerhalb des Systems Geschlecht keinen Sinn – so Duval. Vielmehr sei trans eine Verschiebung innerhalb dieses Systems: «Ein Übergang, ein Adjektiv, aber niemals ein Seiendes an sich

Die Philosophin zeichnet dazu ein Gedanken­experiment: Zwei Körper sehen genau gleich aus und werden gleich wahrgenommen. Sie unterscheiden sich lediglich in ihren Geschlechts­organen. (Oder: Die Geschlechts­organe des einen Körpers unterschieden sich vor einer Operation von denen des anderen.) Muss man diese beiden Körper voneinander unterscheiden, indem man den einen trans und den anderen cis nennt? Wenn ja: «Warum nicht die Scheinheiligkeit ablegen und zugeben, dass es, wenn von trans oder cis die Rede ist (…), um das (geht), was ein Mensch zwischen den Beinen hat?»

Hat uns zu interessieren, was in der Unterhose von Mitmenschen liegt? Wenn trans eine abgeschlossene Bewegung bezeichnet: Soll für die Gesellschaft eine Rolle spielen, dass die Bewegung einmal stattgefunden hat?

Ginge es nach Duval, nähme das alles weniger Platz ein in Debatten. «Die Leute würden weniger darüber nachdenken und es natürlicher leben.»

Vielleicht würden so weniger trans Menschen auf trans reduziert.

Duval fordert mit «Nach Trans» ein Privileg, das Männer schon immer genossen: anerkannt zu werden, nicht als Mitglied einer Gruppe, eingeladen zu werden, nicht als trans Frau. Sondern um ihrer selbst willen: als Expertin ihres Fachgebiets, als Philosophin, als Schrift­stellerin, als Denkerin. Als Mensch mit ihren verschiedenen Facetten.

Epilog

An diesem Morgen in Madrid hatte ich Duval gefragt, was sie gerade bewege: Ihre Reise an ein Podiums­gespräch in New York wurde abgesagt, mehrere Tage wurden frei, wohin ging und worüber sprach sie stattdessen? Noch bevor die erste Tasse auf dem Tisch stand, hatte Duval mit einem Zitat aus einem Essay­film geantwortet: «Ich bin mehrmals um die Welt gereist. Jetzt interessieren mich nur noch Banalitäten.»

Es war ein Echo auf ein paar Zeilen aus der Danksagung zum Buch, wo sie schreibt, vielleicht sei es das, «was nach trans kommt: the job, the family, the washing machine, good health, dental insurance, luggage, junk food, walks in the park und chinesische Teigtaschen in Belleville».

Beides klingt cool: Nach einer abgeklärten 23-Jährigen, die so viel erreicht hat, dass sie nichts mehr muss. Aber Ende Nachmittag, irgendwo zwischen dem afrikanischen Fusions-Erdnuss-Rind und dem Espresso, wird mir klar, dass die Geschichte mit den Banalitäten ein Märchen ist, ein Wunsch vielleicht, aber nicht das, was Duval im Alltag lebt.

Sicher, sie hat statt des Podiums­gesprächs in New York einfach Freunde getroffen. Klar, sie ist halt ihren Interessen nachgegangen – Kino, Theater, Lektüre. Das ist etwa so banal wie ihre Arbeit am nächsten Buch, die wöchentlichen Auftritte im Polit­fernsehen oder ihr Engagement für das linke Parteien­bündnis Sumar, dessen Wahlkampagne sie als Sprecherin (für Feminismus, Gleich­berechtigung und LGBTQIA-Rechte) unterstützte und dessen Exekutiv­gruppe sie mittlerweile angehört.

Duval setzt sich ein für eine Politik, die mehr Brücken baut als Schlachten führt. Sie setzt sich ein gegen Faschismus, aber auch gegen den Vorschlag einer linken Partei, homo- und transphobe Social-Media-Kommentare zu bestrafen. Sie fordert eine Linke, die sich vielleicht etwas weniger um identitäts­politische, dafür vermehrt um Verteilungs­fragen kümmert: «Denn auch homophobe, rassistische oder faschistische Arbeiter haben ein Recht auf würdevolle Lebens­bedingungen

Unterwegs zu Hause in Madrid.

Sie sagt, Identitäts­fragen müsse man an Verteilungs­fragen knüpfen.

Es sei wichtig, nun ein sogenanntes Selbstbestimmungs­gesetz zu haben. Aber die rand­ständigsten trans Menschen seien ältere Frauen, die auf der Strasse lebten und denen mit finanziellen Mitteln mehr geholfen sei als mit einer behördlichen Namens­änderung. «Man darf sie also nicht vergessen, nur weil man ja nun ein Gesetz hat, das sich um die Trans-Fragen kümmert», sagt sie. Auch hier dürfe man trans Menschen nicht auf trans reduzieren.

Duval sagt, die Linke müsse sich um Verteilungs­fragen kümmern, gerade weil die Rechte identitäts­politische Fragen vorzuschieben wisse, um Ressourcen nach oben umzuverteilen. In Spanien spielt etwa die Vox-Partei Theater und präsentiert geschlechts­spezifische Gewalt als kulturelle Debatte, als etwas, das man lieber «familien­interne Gewalt» nennen sollte. Was sie hinter der Bühne tut, hat aber sehr reale Auswirkungen: Sie streicht Hilfe­zentren für Frauen die Gelder.

«Eli arbeitet ständig», sagt ihre Freundin beim Espresso zu mir, und zu Duval: «Verrückt, wie in dir stets ein innerer Monolog läuft.» Oft kann Duval deshalb nicht einschlafen, wenn sie allein ist: «Manchmal ist da zu viel mentale Aktivität, zu viel Diskurs, zu viele Gedanken.» Und ein Gefühl der Verantwortung.

«Ja – man kann die Schnauze voll haben und es dennoch nicht lassen wollen», sagt sie.

Die Grosseltern von Duvals Freundin stammen aus dem Süden Spaniens. Eine arme Gegend, in der die spanische Rechte hervorragende Wahl­resultate erzielt. Der Grossvater, 80 Jahre alt, hat sein Leben lang rechts gewählt. Im vergangenen Sommer schrieb er zum ersten Mal die Linken auf den Wahlzettel.

«Was hat ihn verändert?», frage ich.

«Eli.»

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