Vox-Anhänger im Wahlkampf: Wie schneidet die ultra­nationalistische Partei am nächsten Sonntag ab?

Spanien im Kulturkampf

Nach den spanischen Parlaments­wahlen vom kommenden Sonntag könnte die rechtsradikale Vox in die Regierung einziehen. Steht das Land vor einem Epochen­wechsel?

Von Julia Macher (Text) und Iris Humm (Bilder), 20.07.2023

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Vorgelesen von Egon Fässler
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Keine spanische Partei versteht sich derzeit so gut auf cineastische Inszenierungen wie die rechts­radikale Vox. Es ist Samstag, früher Abend. Über Barcelonas Strand­promenade flanieren Touristinnen, ein paar Inline­skater gleiten übers Pflaster. Die Partei­strateginnen haben die Bühne an der Plaça del Mar so errichtet, dass Partei­chef Santiago Abascal ins bestmögliche Licht gerückt wird: schräg von der untergehenden Sonne beleuchtet, im Hinter­grund das Mittelmeer und die markante, segelförmige Silhouette des Luxus­hotels W. Aufbruch zu neuen Ufern suggeriert dieses Bild. Vor einem zartrosa gefärbten Abend­himmel wehen riesige Spanien­fahnen.

Die populistische Formation vom rechten Rand beherrscht seit Wochen die Schlag­zeilen. Nachdem die regierende Links­koalition, bestehend aus der sozialistischen Arbeiter­partei Partido Socialista Obrero Español (PSOE) und dem links­alternativen Bündnis Unidas Podemos, bei den Kommunal- und Regional­wahlen im Mai abgestraft wurde, hat Premier Pedro Sánchez die Parlaments­wahlen vorverlegt – vom Spätherbst auf den kommenden Sonntag, den 23. Juli.

Nun deuten alle Umfragen darauf hin, dass Vox erneut dritt­stärkste parlamentarische Kraft werden wird. Die konservative Volkspartei Partido Popular hat bereits angekündigt, dass sie beim Verfehlen der absoluten Mehrheit eine Koalition mit Vox eingehen möchte. Erstmals seit dem Ende der Franco-Diktatur (1939–1975) sässen dann Mitglieder einer rechts­extremen Partei im spanischen Kabinett. In den Regional­regierungen in Valencia sowie Kastilien und León ist das bereits jetzt Realität. Und in Extremadura wurde die Kandidatin des Partido Popular mit Stimmen von Vox zur Präsidentin gewählt.

Das grosse Spektakel

«Presidente, presidente», skandieren etwa 600 Partei­anhänger und erheben sich von den Stühlen, als der Chef zur Bühne schreitet. Abascal trägt Jeans, das blaue Hemd gebügelt und bis zum dritten Knopf geöffnet, den grau­melierten Vollbart akkurat gestutzt. Als einen, der «mit entblösster Brust und hoch gehisster Fahne» die Städte erobert, hat der Vorredner ihn angekündigt.

Heroische Parolen verfangen gut im Publikum, ebenso wie das immer mal wieder eingestreute «Gott segne uns und unser geliebtes Vaterland» oder die Referenzen auf die «klaren, unumstösslichen Prinzipien» der Partei und ihres Führers. Seit den Kommunal­wahlen im Mai sitzen in Kataloniens Rathäusern 124 Vox-Stadträte, in den vier Jahren zuvor waren es gerade einmal 3.

Abascal bedankt sich bei den «250’000 Mutigen, die uns gewählt haben» und fügt auf Katalanisch hinzu «Els carrers són nostres també» – «Die Strassen gehören auch uns.»

Der Satz ist die Abwandlung einer Parole der katalanischen Unabhängigkeits­bewegung aus dem Herbst 2017. Damals hatte die katalanische Regional­regierung eigenmächtig ein Referendum über die Unabhängigkeit der Region angesetzt, das spanische Verfassungs­gericht hatte es verboten, die Polizei konfiszierte Wahlurnen, verprügelte Demonstranten. Vier Wochen später rief der damalige Regional­präsident Carles Puigdemont die Unabhängigkeit aus und setzte sich ins Ausland ab, seinem Kabinett wurde wegen «Aufruhr» der Prozess gemacht.

Vox-Kandidat auf einem Podium. Die Partei bewirtschaftet Themen wie Migration, Stierkämpfe und Genderpolitik.
Die Partei kämpft gegen angebliche «Vaterlands­verräter».
Spitzenkandidat Santiago Abascal gibt vor, worauf es bei Vox ankommt.

Die Episode führte zu einer schweren Staats­krise – und wurde für Vox zum wichtigsten Treibstoff. Die 2014 als Abspaltung vom konservativen Partido Popular gegründete Partei hat die Verteidigung der Einheit Spaniens zu ihrem wichtigsten Identitäts­merkmal gemacht, neben der Ablehnung der Einwanderung von ausserhalb Europas und der vorgeblichen «islamistischen Unterwanderung». Bei den Parlaments­wahlen 2019 schaffte sie es damit quasi aus dem Stand auf 10 Prozent, bei der Wahl­wiederholung ein halbes Jahr später auf 15 Prozent.

Auch in Barcelona ist Abascals Rede gespickt mit Spitzen gegen «Separatisten» und «Vaterlands­verräter». Er erntet dafür Applaus und den einen oder anderen Lacher. Der Separatismus ist aus den Schlagzeilen verschwunden, die Unabhängigkeits­bewegung tief gespalten und für ihre Gegner keine akute Bedrohung mehr. Der von den Vox-Anhängerinnen demonstrativ zur Schau getragene Patriotismus dient vor allem der eigenen Rückversicherung.

Am Merchandising-Stand werden Armbänder in den Farben der Spanien­flagge verkauft, die Kragen der Polo­hemden mancher Besucher sind mit einer rot-gelben Bordüre verziert, und als die National­hymne ertönt, lauscht die Menge dem Marsch im Stehen. Manche bewegen lautlos die Lippen. Einen offiziellen Text gibt es zur Hymne nicht mehr, der zuletzt verwendete stammt vom faschistischen Dichter José María Pemán.

Identitätspolitik für junge Männer

Im Publikum: Familien, die sich für den Akt im Sonntags­gewand heraus­geputzt haben. Und auffallend viele junge Männer. Javier, der seinen Nachnamen nicht nennen will, hat sich hinten am Rand der Zuschauer­bühne postiert, neben ihm ein Freund, der lieber ganz anonym bleibt. Die beiden leben in Sant Martí de Provençals, einem der ehemaligen Zentren von Barcelonas Textil­industrie, im Nord­osten der Stadt.

Javier ist 19 Jahre alt und lässt sich zum Logistik­fachmann ausbilden, sein Freund ist ein Jahr jünger und hat gerade sein Geschichts­studium begonnen. Es ist ihre erste Parlaments­wahl, ihr Votum stehe «mit 85-prozentiger Wahrscheinlichkeit» fest. «Mir gefällt, dass sie die Dinge beim Namen nennen und nicht bloss schwadronieren», sagt Javier, sein Freund nickt.

Als Santiago Abascal verspricht, der illegalen Immigration Einhalt zu gebieten und die Grenzen zu «schützen», klatschen sie laut. Javier erzählt von ehemaligen marokkanischen Mitschülern, die auf dem Schulhof «Spanien wird bald uns gehören» riefen. «Das hat mich wütend gemacht!» Und abends, beim Ausgehen, gebe es immer wieder Stress mit ‹Menas›. Das Akronym steht für «unbegleitete minderjährige Ausländer». Viele stammen aus Nord­afrika, leben ohne Papiere in ärmlichen Verhältnissen auf der Strasse oder in staatlicher Obhut. Wegen ihres Alters gelten sie als besonders schutzbedürftig und dürfen nur ausgewiesen werden, wenn die Familie im Heimat­land dem zustimmt.

Sie kämpfen für ihr Spanien: Junge Anhänger von Vox – und Vertreterinnen der LGBTQIA+-Community. Szenen aus L’Hospitalet de Llobregat, einer Vorstadt von Barcelona.

Javiers Freund pflichtet bei, ergänzt: «Was ich auch nicht mehr hören kann, ist diese Feminismus­leier. Egal, über was wir in der Schule diskutiert haben – irgendwann brachten die Lehrer immer das Thema Feminismus auf. Wir Männer sind doch nicht an allem schuld!» Fast alle ihre Freunde dächten ähnlich. «Vox ist gut angesehen unter uns jungen Leuten», sagt Javier. Mit seinen Eltern diskutiert er nicht über Politik. «Die verstehen das nicht.»

Tatsächlich ist Vox die Partei, die laut dem staatlichen Meinungsforschungs­institut CIS unter Jung­wählerinnen am meisten Unterstützung findet: Laut einer Analyse vom April werden 20 Prozent der jungen Spanier, die nun zum ersten Mal an Parlaments­wahlen teilnehmen dürfen, der rechts­extremen Partei ihre Stimme geben. Die stärkste Wähler­gruppe der regierenden Sozialistinnen und der konservativen Volkspartei hingegen sind die 65- bis 74-Jährigen.

«In den Augen vieler junger Menschen ist Vox schlicht ‹Punk›: eine radikale Möglichkeit, ihre Opposition am Bestehenden, am System kundzutun», sagt die Politologin Astrid Barrio. Sie arbeitet an der Universität von Valencia und forscht zu populistischen Strömungen in Spanien. Unter dieses Etikett fasst sie die ultra­nationalistische Vox ebenso wie die links­alternative Podemos, die nach 2014 im Zug der schweren Finanz­krise zum bestimmenden Faktor der spanischen Politik wurde, sowie die katalanische Unabhängigkeits­bewegung.

Beim Streit um die Unabhängigkeit gehörte Barrio, selbst gebürtige Barcelonerin, zu den wenigen Stimmen, die sich weder auf die Seite der Unabhängigkeits­befürworter noch auf die der Verteidigerinnen der unbedingten Einheit Spaniens schlugen. Sie ist Präsidentin der konservativ-liberalen katalanischen Splitter­partei Lliga Democràtica und geht mit Stimmungs­mache auf der Grundlage von Befindlichkeiten hart ins Gericht: «Vox hat in den letzten Jahren gezielt die Themen besetzt, die in ganz bestimmten Kreisen für den meisten Unmut sorgen.»

Politologin Astrid Barrio: «In den Augen vieler junger Menschen ist Vox schlicht ‹Punk›.»

Das waren zunächst: die Jagd. Der Stierkampf. Die Migration aus Nord­afrika. Und nun das Thema Gender­politik. Spanien gilt europaweit als federführend bei der Prävention und Verurteilung von Gewalt gegen Frauen. Bereits seit 2005 sanktioniert das «Gesetz gegen geschlechts­spezifische Gewalt» Delikte besonders schwer, die Partner und Ex-Partner an Frauen begehen.

Initiiert wurde diese Politik damals vom sozialistischen Premier José Luis Rodríguez Zapatero, sein Partei­genosse Pedro Sánchez hat sie mit fortgeführt: Im vergangenen Jahr verschärfte die Links­koalition das Sexual­strafrecht: Das «Nur Ja heisst Ja»-Gesetz behandelt jeden Geschlechts­verkehr, in den nicht ausdrücklich eingestimmt wurde, als Vergewaltigung. Das Gesetz, geplant als neuer Meilen­stein feministischer Politik, geriet allerdings zum politischen Fiasko. Denn durch den Wegfall des Straftat­bestands der sexuellen Nötigung konnten Hunderte verurteilte Sexual­straftäter auf vorzeitige Haft­entlassung plädieren, weshalb das Gesetz nachträglich mit den Stimmen der Opposition reformiert werden musste.

Doch die Debatte warf nicht nur deswegen hohe Wellen. Bereits davor zirkulierten in den sozialen Netzwerken Memes, auf denen stand, Männer kämen künftig bereits «fürs Flirten in den Knast» oder müssten vor dem Sex eine schriftliche Einverständnis­erklärung unterzeichnen lassen. Forscher vermuten, sie seien gezielt von Vox gestreut worden, der Partei, die als einzige eine Abschaffung sämtlicher geschlechts­spezifischer Gesetze fordert.

«Viele männliche Jugendliche fühlen sich qua Geschlecht diskriminiert», sagt Barrio, selbst Mutter dreier heran­wachsender Söhne. «Für Vox ist das ein idealer Nährboden.» Laut dem Jugend­barometer der spanischen Stiftung zu Drogen­prävention hält inzwischen jeder fünfte männliche Jugendliche geschlechts­spezifische Gewalt für eine «ideologische Erfindung». Tendenz steigend.

Derzeit vergeht keine Talkshow, in der Pedro Sánchez nicht auf das Debakel rund um das «Nur Ja heisst Ja»-Gesetz angesprochen wird; meist gefolgt von Fragen nach der punktuellen Unterstützung von Regierungs­initiativen durch die separatistischen katalanischen Parteien und die baskische EH Bildu, in denen auch die politischen Erben der 2018 aufgelösten baskischen Terror­organisation ETA sitzen.

Der spanische Premier absolviert derzeit einen Marathon durch die Fernseh­sender und versucht das Bild des «Sanchismo» zu konterkarieren. Mit diesem Etikett hat die rechte und konservative Opposition alles gebrandmarkt, was ihrer Vorstellung einer «guten Regierung» für das «wahre Spanien» zuwiderläuft: Zugeständnisse an die Parteien aus Katalonien und dem Baskenland, ein klares Bekenntnis zu feministischen Prinzipien und Initiativen wie das Gesetz zur demokratischen Erinnerung, das den Opfern der fast vierzig­jährigen Franco-Diktatur eine symbolische Wieder­gutmachung verspricht.

Und die Wirtschaft?

Sánchez hält mit Wirtschafts­daten dagegen: Zum ersten Mal seit 2008 sind weniger als 2,7 Millionen Menschen arbeitslos. Die Zahl der sozial­versicherungs­pflichtigen Arbeits­verträge ist mit knapp 20,9 Millionen auf einem historischen Höchst­stand. In kaum einem Land der Euro-Zone wächst die Wirtschaft stärker, in keinem ist die Inflation niedriger: Sie liegt derzeit mit 1,6 Prozent deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 5,5 Prozent. Trotz der Corona-Pandemie, die Spanien ähnlich hart traf wie Italien. Trotz des Russland-Ukraine-Krieges. «Wir machen Politik zum Wohl der gesamten Gesellschaft»: Variationen dieses Satzes bringt Sánchez – 51 Jahre alt, studierter Betriebswirt und seit gut zwei Jahrzehnten in der Politik – in jedem Interview unter.

Doch die guten makro­ökonomischen Zahlen kommen im alltäglichen Leben vieler Spanierinnen nicht an.

Egal ob der Wochen­einkauf im Super­markt, die Miete oder die monatlichen Raten für die Hypothek: Die Lebenshaltungs­kosten sind gestiegen, Lebensmittel und nicht­alkoholische Getränke etwa haben sich im Mai im Vergleich zum Vorjahres­monat um 12 Prozent verteuert. Das tiefe Niveau der generellen Inflation ist vor allem den gesunkenen Energie­kosten zu verdanken, die Sánchez für Spanien durch eine Deckelung des Gas­preises in der EU erstritten hat.

Die Zinsen für Hypotheken­darlehen dagegen, die im Eigentümer­land Spanien besonders relevant sind, sind so hoch wie seit 2008 nicht mehr. Auch Lebensmittel haben sich verteuert. «Auch wenn im Unterschied zur Finanz­krise 2008 während der aktuellen Krise keine Arbeitsplätze vernichtet wurden, sorgen die steigenden Kosten vor allem bei der steuerlich besonders belasteten Mittel­klasse für Unzufriedenheit», sagt Politologin Astrid Barrio. Auf Platz eins des monatlichen Sorgen-Rankings des Meinungsforschungs­instituts CIS stehen «wirtschaftliche Probleme», gefolgt von Sorgen um das Gesundheits­system und die Job­qualität.

Die Wirtschaft läuft, doch viele merken in ihrem Alltag nichts davon.

Das hat auch Spaniens Linke erkannt. Der kleinere Koalitions­partner Unidas Podemos zieht mit einer Listen­verbindung mit der von Arbeits­ministerin Yolanda Díaz angeführten Sammlungs­bewegung Sumar in den Wahlkampf. Alter Wein in neuen Schläuchen? Zumindest im Auftritt geriert sich das Bündnis aus 20 Parteien substanziell anders als die links­populistische Podemos, die die Schlagzeilen der letzten Wahl­kämpfe beherrschte.

Damals hatte sich Pablo Iglesias zum Sprachrohr der «Empörten» erhoben, jener von der Finanz­krise abgehängten jungen Menschen, die im Mai 2011 in Madrid, Barcelona und Valencia die öffentlichen Plätze besetzt hatten. Mit Pferde­schwanz, Karo­hemd und gereckter Faust tingelte er durchs Land, versprach einen «Reset» des Systems, kokettierte mit Schulden­erlass und bedingungslosem Grund­einkommen. Als Teil der Links­koalition trieb Unidas Podemos dann die Mietpreis­deckelung und eine Grund­sicherung für sozial Schwache voran, Massnahmen also, die eher an die klassische Sozial­demokratie als an einen radikalen System­wandel erinnerten. Aber das Image des Bürger­schrecks blieb.

Yolanda Díaz dagegen gibt sich so staatstragend wie Premier Sánchez. Beim Treffen mit internationalen Korrespondentinnen kurz vor der Wahl spricht sie viel über Spaniens gewachsene Bedeutung in der Europäischen Union, über den Green Deal und die ökologische Transition der Arbeits­welt. Gefragt nach ihrer Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei lacht sie laut auf: «Ich bin eine progressive Frau, Tochter eines kommunistischen Gewerkschafters, der im Widerstand gegen Franco war – und mit ‹⁠-ismen› kann ich wenig anfangen.» Díaz weiss, dass eine Wiederholung der derzeitigen Links­koalition nach den kommenden Wahlen nur möglich sein wird, wenn ihr Zusammen­schluss aus 20 Parteien und Bewegungen, Podemos inklusive, die gesamte Wählerschaft links der PSOE erreicht.

Die Arbeits­ministerin ist charmant im Umgang und gilt als unerbittliche und geschickte Verhandlungs­führerin. «Die Linke hat gezeigt, dass sie besser verwaltet als die Rechte», sagt Díaz und verspricht eine Politik, die «das Leben aller substanziell verbessert». Auch im Programm: ein «Universalerbe» für mehr Chancen­gleichheit. Mit der Volljährigkeit soll jeder Spanier unabhängig von der Herkunft Anspruch auf 20’000 Euro haben – als Start­kapital für ein Studium, eine Ausbildung oder ein eigenes Unternehmen. Die Idee stammt vom Wirtschafts­wissenschaftler Thomas Piketty, der sich davon eine gerechtere Vermögens­verteilung erhofft. Als Wahlkampf­versprechen wirkt sie allerdings eher wie ein Versuch, die jungen Wähler zu erreichen.

«Am Ende regiert, wer am besten zockt»

Orts­besuch in Nou Barris, einem Arbeiter­bezirk im Norden Barcelonas. Schnurgerade, platanen­gesäumte Alleen und achtstöckige, klinker­verkleidete Wohn­blöcke prägen das Bild. Das Netto-Jahres-Einkommen lag hier zuletzt bei 14’732 Euro pro Haushalt, deutlich niedriger als Barcelonas Mittelwert von 20’667 Euro. Bei den Kommunal­wahlen im Mai hat Vox in Nou Barris ihr zweitbestes Ergebnis erzielt, übertroffen nur von den Resultaten im wohlhabenden bürgerlichen Sarrià-Sant Gervasi. Auf dem weitläufigen Platz vor dem Rathaus spielen ein paar Kinder Fangen, in den Bars unter der Balustrade halten Anwohnerinnen ein Schwätzchen.

Keine Sympathien für Vox: Mireia Izquierdo.

Fragt man nach den drängendsten Problemen, fallen immer wieder Begriffe wie «der Dreck auf den Strassen», «fehlende Sicherheit», «Kriminalität und mangelnder Bürgersinn». Mireia Izquierdo, 35 Jahre alt, von Beruf Lehrerin, erzählt, dass in ihrem Wohnblock ein Laden­lokal besetzt wurde. «Ständig gab es Krach, und vor der Tür stapelte sich der Müll.» Der Besitzer hat dann irgendwann ein privates Räumungs­kommando engagiert, vermutlich die Firma Desokupa, glaubt Izquierdo. Das Unternehmen operiert am Rand der Legalität und unterstützt Vox. «Sympathien habe ich weder für Vox noch für diese schrank­breiten ‹Desokupas›-Männer», sagt Izquierdo. Aber das Lokal ist versiegelt, die Nachbarschaft wieder ruhig.

Daniel, 41 Jahre alt, von Beruf Schweisser – seinen Nachnamen nennt er nicht – macht keinen Hehl aus seinem Votum: «Ich wähle auf jeden Fall Vox.» Warum? «Weil es zu viele Ausländer gibt, vor allem aus Nord­afrika. Sie passen sich nicht an unsere Kultur an. Die Strassen sind verdreckt, und nachts ist es laut.» Sein Glaube an das parlamentarische System sei «gering». Denn «am Ende regiert nicht, wer am meisten Stimmen bekommt, sondern wer am besten zockt». Aber irgendwie müsse man ja seine Meinung kundtun.

Zur Links­koalition bekennt sich nur ein greiser Mann mit schütterem Haar. «Ich habe mein ganzes Leben lang die Sozialisten gewählt, denn sie kämpfen für uns, für das Volk», sagt der 88-jährige Antonio García. Bereits sein Vater sei «ein Linker» gewesen. Der Lehrer kämpfte im Bürger­krieg gegen die aufständischen Franco-Truppen, bis er nach Frankreich floh und dort in einem Konzentrations­lager interniert wurde.

Nou Barris im Norden Barcelonas: Hohe Wohn­blöcke mit Sicht­mauerwerk prägen das Bild in diesem Arbeiterbezirk.

«Das politische Bewusstsein habe ich von meinem Vater geerbt», sagt García. Wenn er sein Kreuz bei den Sozialisten mache, dann tue er das auch aus Familien­tradition und in Erinnerung an seinen Vater. «Alles andere wäre Verrat an unserer Geschichte.» Die Erfahrungen aus Bürger­krieg und Franco-Diktatur stiften bis heute Identitäten. Auch das erklärt, warum Spanien so sehr vom Block­denken geprägt ist – und warum mit so viel Verve um Identitäts­themen gestritten wird. Wer diese Themen besetzt, gewinnt.

Bedrohte Freiheiten

Was passiert, wenn Vox auf diesem Terrain punktet, zeigt sich 300 Kilometer abwärts entlang der Mittelmeer­küste. In der Region Valencia ist die rechts­extreme Partei eine Koalition mit der konservativen Volkspartei Partido Popular eingegangen und stellt drei von zehn Regional­ministerien: das für Kultur, das für Justiz und Inneres sowie das Landwirtschafts­ministerium. Mit der Koalitions­vereinbarung übernehme der Partido Popular die radikale ideologische Agenda von Vox, schrieb die Tages­zeitung «El País».

Statt vom Schutz vor «geschlechts­spezifischer» ist lediglich von «intrafamiliärer Gewalt» die Rede. Referenzen auf die Klima­krise fehlen ganz – und das in einer landwirtschaftlich geprägten Region, die besonders unter Dürre und Extrem­wetter leidet. Erinnerungs­politische Massnahmen wie eine Datenbank zu mutmasslichen Fällen illegaler Adoptionen während der Franco-Diktatur stehen auf dem Prüfstand. Stattdessen hat Vox angekündigt, ein Räumungs­büro einzurichten, um gegen Haus­besetzer vorzugehen, mit harter Hand und «allen rechtlichen und wirtschaftlichen Mitteln».

Nicht nur in den Regional­verwaltungen, auch in den Gemeinden, in denen Vox mitregiert, prägt die Linie der Partei die Politik: In der Madrider Gemeinde Valdemorillo wurde Virginia Woolfs «Orlando» vom Spielplan des städtischen Theaters genommen, weil der Protagonist des Stücks vom Mann zur Frau wird. In der kantabrischen Ortschaft Santa Cruz de Bezana darf der Disney-Film «Lightyear» nicht gezeigt werden, weil sich dort zwei Frauen küssen.

Es sind Weichen­stellungen, die für viele über rein symbol­politische Massnahmen hinausgehen. Ignacio Escolar, Chefredaktor der links­liberalen Online-Zeitung «Eldiario.es» und politischer Kommentator für verschiedene Fernseh- und Radio­sender, fühlt sich an die Zeiten der Diktatur erinnert: «Die Zensur der Partido-Popular- und Vox-Regierungen bedroht Freiheiten, die unumstösslich schienen.»

Politologin Astrid Barrio glaubt dennoch nicht, dass Spanien durch eine Rechts­koalition in seinen Grund­festen erschüttert würde: «Der harte Kern des Vox-Programms ist schlicht nicht realisierbar», sagt sie. Abschaffung der autonomen Regionen und Umbau Spaniens zu einem straff zentralistisch organisierten König­reich? Nicht machbar. Die territoriale Struktur ist verfassungs­rechtlich verankert, eine Verfassungs­reform so gut wie aussichtslos. Ausstieg aus der Agenda 2030? Unmöglich. Bestehende internationale Vereinbarungen sind bindend.

«Der parlamentarische Alltag wird die Partei schnell entzaubern», glaubt Barrio und verweist auf Erfahrungen in Frankreich und Deutschland: «Wo die traditionellen Volks­parteien Brand­mauern gegen die extreme Rechte errichtet haben, ist sie gewachsen. Doch wo man versucht hat, sie in die Institutionen einzubinden, hat sich zwar der Diskurs verschärft, der politische Einfluss und das Wachstum dieser Parteien aber begrenzt.»

Die Forscherin prognostiziert denselben Effekt, den auch Podemos als Hoffnungs­träger der radikalen Linken erfuhr: Ernüchterung durch die Macht des Faktischen.

Doch die Grenzen zwischen Symbol- und Real­politik sind fliessend. Das zeigt sich vor allem in Katalonien. Der Traum von einer unabhängigen Republik scheiterte im Herbst 2017 nicht in erster Linie am Widerstand aus Madrid, sondern an den separatistischen Parteien, die leichtsinnig eine Sezession zum Unkosten­preis versprochen hatten. Ohne internationale Unterstützung. Ohne Pläne für die Zeit nach dem Referendum. Eine Fake-Revolution, aber eine mit handfesten Folgen. Die politischen Anführer wurden wegen «Aufruhr» mit bis zu 13 Jahren Gefängnis bestraft. In Barcelona brannten tagelang die Container. Spanien war gespalten wie noch nie in seiner kurzen demokratischen Geschichte.

Im Sommer 2021 allerdings hat die spanische Regierung die politische Spitze der Unabhängigkeits­bewegung begnadigt und kurz darauf das Delikt «Aufruhr» aus dem Straf­gesetz getilgt. Seitdem ist das Katalonien-Thema aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Doch sowohl Vox wie auch der Partido Popular haben angekündigt, diese Strafrechts­reform rückgängig zu machen. Das könnte den Konflikt erneut entfachen, glaubt Barrio: «Mit Turbulenzen ist zu rechnen.»

Bei den Kommunal­wahlen im Mai hat Vox hier in Nou Barris ihr zweitbestes Resultat erzielt.

Der Ton der öffentlichen Debatte hat sich bereits jetzt verschärft. Auch in Barcelona. Als Abascals Rede kurz von den Rufen dreier junger Frauen unterbrochen wird, stimmen Hunderte Vox-Anhänger wie auf Kommando einen Sprech­gesang an, den man aus Fussball­stadien kennt: «A por ellos, oé!», übersetzt etwa «Auf sie mit Gebrüll».

Die drei sind von einer Gegen­demonstration gekommen, zu der ein LGBTQIA+-Kollektiv aufgerufen hat. Die Polizei hält die etwa 300 Protestierenden durch mehrere Mannschafts­wagen und eine Reihe behelmter Beamter zunächst auf Distanz. Doch ein paar hundert Meter stadteinwärts treffen die beiden Gruppen aufeinander. Hinter der Glasfassade einer Fast-Food-Filiale haben ein paar Gegen­demonstrantinnen Vox-Sympathisanten erspäht; die zusammen­gerollten Partei­fähnchen gucken aus den Rucksäcken. Die Gruppe versucht, das Lokal zu betreten. Doch die Wach­frau am Eingang hindert sie daran.

Also postieren sich etwa zwanzig Menschen im Halb­kreis vor der Tür, skandieren «Fora, feixistes, dels nostres barris», Faschisten, raus aus unseren Vierteln. Höhnisches Gelächter und Stinke­finger sind die Antwort. Schliesslich tritt ein Mann heraus, wohl etwa Mitte 40 und sichtlich wütend. Er hebt drohend die Faust.

«Ich bin auch schwul und wähle, wen ich will!» – «Dein Votum wird dich und uns das Leben kosten!» – «Am Laternen­pfahl aufgeknüpft werden wir Schwule nur in Marokko!» – «Halt die Fresse, Rassist!» – «Zieh dir erst mal was Ordentliches an und geh arbeiten!»

Der Ton wird hitziger, die Stimmung aggressiver, und die Dame vom Sicherheits­dienst, eine eigentlich resolut wirkende Latein­amerikanerin, ist den Tränen nah. Nach einer halben Stunde ruft sie die Polizei. Ruhe kehrt ein. Vorerst.

Zur Autorin und zur Fotografin

Julia Macher ist freie Journalistin und lebt seit 2004 in Barcelona. Sie berichtet unter anderem für den Deutschlandfunk und «Zeit Online» über Politik und Gesellschaft in Spanien und ist Mitglied des Korrespondenten-Netzwerks Weltreporter.net.

Die Fotografin Iris Humm ist in Mailand geboren und aufgewachsen, hat auch Schweizer Wurzeln und lebt in Barcelona. Sie fotografiert, seit sie 15 ist. In ihrer Fotografie ist sie auf der Suche nach intimen und intuitiven Situationen und versucht, den entscheidenden emotionalen Moment festzuhalten.

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