Spanien im Kulturkampf
Nach den spanischen Parlamentswahlen vom kommenden Sonntag könnte die rechtsradikale Vox in die Regierung einziehen. Steht das Land vor einem Epochenwechsel?
Von Julia Macher (Text) und Iris Humm (Bilder), 20.07.2023
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Keine spanische Partei versteht sich derzeit so gut auf cineastische Inszenierungen wie die rechtsradikale Vox. Es ist Samstag, früher Abend. Über Barcelonas Strandpromenade flanieren Touristinnen, ein paar Inlineskater gleiten übers Pflaster. Die Parteistrateginnen haben die Bühne an der Plaça del Mar so errichtet, dass Parteichef Santiago Abascal ins bestmögliche Licht gerückt wird: schräg von der untergehenden Sonne beleuchtet, im Hintergrund das Mittelmeer und die markante, segelförmige Silhouette des Luxushotels W. Aufbruch zu neuen Ufern suggeriert dieses Bild. Vor einem zartrosa gefärbten Abendhimmel wehen riesige Spanienfahnen.
Die populistische Formation vom rechten Rand beherrscht seit Wochen die Schlagzeilen. Nachdem die regierende Linkskoalition, bestehend aus der sozialistischen Arbeiterpartei Partido Socialista Obrero Español (PSOE) und dem linksalternativen Bündnis Unidas Podemos, bei den Kommunal- und Regionalwahlen im Mai abgestraft wurde, hat Premier Pedro Sánchez die Parlamentswahlen vorverlegt – vom Spätherbst auf den kommenden Sonntag, den 23. Juli.
Nun deuten alle Umfragen darauf hin, dass Vox erneut drittstärkste parlamentarische Kraft werden wird. Die konservative Volkspartei Partido Popular hat bereits angekündigt, dass sie beim Verfehlen der absoluten Mehrheit eine Koalition mit Vox eingehen möchte. Erstmals seit dem Ende der Franco-Diktatur (1939–1975) sässen dann Mitglieder einer rechtsextremen Partei im spanischen Kabinett. In den Regionalregierungen in Valencia sowie Kastilien und León ist das bereits jetzt Realität. Und in Extremadura wurde die Kandidatin des Partido Popular mit Stimmen von Vox zur Präsidentin gewählt.
Das grosse Spektakel
«Presidente, presidente», skandieren etwa 600 Parteianhänger und erheben sich von den Stühlen, als der Chef zur Bühne schreitet. Abascal trägt Jeans, das blaue Hemd gebügelt und bis zum dritten Knopf geöffnet, den graumelierten Vollbart akkurat gestutzt. Als einen, der «mit entblösster Brust und hoch gehisster Fahne» die Städte erobert, hat der Vorredner ihn angekündigt.
Heroische Parolen verfangen gut im Publikum, ebenso wie das immer mal wieder eingestreute «Gott segne uns und unser geliebtes Vaterland» oder die Referenzen auf die «klaren, unumstösslichen Prinzipien» der Partei und ihres Führers. Seit den Kommunalwahlen im Mai sitzen in Kataloniens Rathäusern 124 Vox-Stadträte, in den vier Jahren zuvor waren es gerade einmal 3.
Abascal bedankt sich bei den «250’000 Mutigen, die uns gewählt haben» und fügt auf Katalanisch hinzu «Els carrers són nostres també» – «Die Strassen gehören auch uns.»
Der Satz ist die Abwandlung einer Parole der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung aus dem Herbst 2017. Damals hatte die katalanische Regionalregierung eigenmächtig ein Referendum über die Unabhängigkeit der Region angesetzt, das spanische Verfassungsgericht hatte es verboten, die Polizei konfiszierte Wahlurnen, verprügelte Demonstranten. Vier Wochen später rief der damalige Regionalpräsident Carles Puigdemont die Unabhängigkeit aus und setzte sich ins Ausland ab, seinem Kabinett wurde wegen «Aufruhr» der Prozess gemacht.
Die Episode führte zu einer schweren Staatskrise – und wurde für Vox zum wichtigsten Treibstoff. Die 2014 als Abspaltung vom konservativen Partido Popular gegründete Partei hat die Verteidigung der Einheit Spaniens zu ihrem wichtigsten Identitätsmerkmal gemacht, neben der Ablehnung der Einwanderung von ausserhalb Europas und der vorgeblichen «islamistischen Unterwanderung». Bei den Parlamentswahlen 2019 schaffte sie es damit quasi aus dem Stand auf 10 Prozent, bei der Wahlwiederholung ein halbes Jahr später auf 15 Prozent.
Auch in Barcelona ist Abascals Rede gespickt mit Spitzen gegen «Separatisten» und «Vaterlandsverräter». Er erntet dafür Applaus und den einen oder anderen Lacher. Der Separatismus ist aus den Schlagzeilen verschwunden, die Unabhängigkeitsbewegung tief gespalten und für ihre Gegner keine akute Bedrohung mehr. Der von den Vox-Anhängerinnen demonstrativ zur Schau getragene Patriotismus dient vor allem der eigenen Rückversicherung.
Am Merchandising-Stand werden Armbänder in den Farben der Spanienflagge verkauft, die Kragen der Polohemden mancher Besucher sind mit einer rot-gelben Bordüre verziert, und als die Nationalhymne ertönt, lauscht die Menge dem Marsch im Stehen. Manche bewegen lautlos die Lippen. Einen offiziellen Text gibt es zur Hymne nicht mehr, der zuletzt verwendete stammt vom faschistischen Dichter José María Pemán.
Identitätspolitik für junge Männer
Im Publikum: Familien, die sich für den Akt im Sonntagsgewand herausgeputzt haben. Und auffallend viele junge Männer. Javier, der seinen Nachnamen nicht nennen will, hat sich hinten am Rand der Zuschauerbühne postiert, neben ihm ein Freund, der lieber ganz anonym bleibt. Die beiden leben in Sant Martí de Provençals, einem der ehemaligen Zentren von Barcelonas Textilindustrie, im Nordosten der Stadt.
Javier ist 19 Jahre alt und lässt sich zum Logistikfachmann ausbilden, sein Freund ist ein Jahr jünger und hat gerade sein Geschichtsstudium begonnen. Es ist ihre erste Parlamentswahl, ihr Votum stehe «mit 85-prozentiger Wahrscheinlichkeit» fest. «Mir gefällt, dass sie die Dinge beim Namen nennen und nicht bloss schwadronieren», sagt Javier, sein Freund nickt.
Als Santiago Abascal verspricht, der illegalen Immigration Einhalt zu gebieten und die Grenzen zu «schützen», klatschen sie laut. Javier erzählt von ehemaligen marokkanischen Mitschülern, die auf dem Schulhof «Spanien wird bald uns gehören» riefen. «Das hat mich wütend gemacht!» Und abends, beim Ausgehen, gebe es immer wieder Stress mit ‹Menas›. Das Akronym steht für «unbegleitete minderjährige Ausländer». Viele stammen aus Nordafrika, leben ohne Papiere in ärmlichen Verhältnissen auf der Strasse oder in staatlicher Obhut. Wegen ihres Alters gelten sie als besonders schutzbedürftig und dürfen nur ausgewiesen werden, wenn die Familie im Heimatland dem zustimmt.
Javiers Freund pflichtet bei, ergänzt: «Was ich auch nicht mehr hören kann, ist diese Feminismusleier. Egal, über was wir in der Schule diskutiert haben – irgendwann brachten die Lehrer immer das Thema Feminismus auf. Wir Männer sind doch nicht an allem schuld!» Fast alle ihre Freunde dächten ähnlich. «Vox ist gut angesehen unter uns jungen Leuten», sagt Javier. Mit seinen Eltern diskutiert er nicht über Politik. «Die verstehen das nicht.»
Tatsächlich ist Vox die Partei, die laut dem staatlichen Meinungsforschungsinstitut CIS unter Jungwählerinnen am meisten Unterstützung findet: Laut einer Analyse vom April werden 20 Prozent der jungen Spanier, die nun zum ersten Mal an Parlamentswahlen teilnehmen dürfen, der rechtsextremen Partei ihre Stimme geben. Die stärkste Wählergruppe der regierenden Sozialistinnen und der konservativen Volkspartei hingegen sind die 65- bis 74-Jährigen.
«In den Augen vieler junger Menschen ist Vox schlicht ‹Punk›: eine radikale Möglichkeit, ihre Opposition am Bestehenden, am System kundzutun», sagt die Politologin Astrid Barrio. Sie arbeitet an der Universität von Valencia und forscht zu populistischen Strömungen in Spanien. Unter dieses Etikett fasst sie die ultranationalistische Vox ebenso wie die linksalternative Podemos, die nach 2014 im Zug der schweren Finanzkrise zum bestimmenden Faktor der spanischen Politik wurde, sowie die katalanische Unabhängigkeitsbewegung.
Beim Streit um die Unabhängigkeit gehörte Barrio, selbst gebürtige Barcelonerin, zu den wenigen Stimmen, die sich weder auf die Seite der Unabhängigkeitsbefürworter noch auf die der Verteidigerinnen der unbedingten Einheit Spaniens schlugen. Sie ist Präsidentin der konservativ-liberalen katalanischen Splitterpartei Lliga Democràtica und geht mit Stimmungsmache auf der Grundlage von Befindlichkeiten hart ins Gericht: «Vox hat in den letzten Jahren gezielt die Themen besetzt, die in ganz bestimmten Kreisen für den meisten Unmut sorgen.»
Das waren zunächst: die Jagd. Der Stierkampf. Die Migration aus Nordafrika. Und nun das Thema Genderpolitik. Spanien gilt europaweit als federführend bei der Prävention und Verurteilung von Gewalt gegen Frauen. Bereits seit 2005 sanktioniert das «Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt» Delikte besonders schwer, die Partner und Ex-Partner an Frauen begehen.
Initiiert wurde diese Politik damals vom sozialistischen Premier José Luis Rodríguez Zapatero, sein Parteigenosse Pedro Sánchez hat sie mit fortgeführt: Im vergangenen Jahr verschärfte die Linkskoalition das Sexualstrafrecht: Das «Nur Ja heisst Ja»-Gesetz behandelt jeden Geschlechtsverkehr, in den nicht ausdrücklich eingestimmt wurde, als Vergewaltigung. Das Gesetz, geplant als neuer Meilenstein feministischer Politik, geriet allerdings zum politischen Fiasko. Denn durch den Wegfall des Straftatbestands der sexuellen Nötigung konnten Hunderte verurteilte Sexualstraftäter auf vorzeitige Haftentlassung plädieren, weshalb das Gesetz nachträglich mit den Stimmen der Opposition reformiert werden musste.
Doch die Debatte warf nicht nur deswegen hohe Wellen. Bereits davor zirkulierten in den sozialen Netzwerken Memes, auf denen stand, Männer kämen künftig bereits «fürs Flirten in den Knast» oder müssten vor dem Sex eine schriftliche Einverständniserklärung unterzeichnen lassen. Forscher vermuten, sie seien gezielt von Vox gestreut worden, der Partei, die als einzige eine Abschaffung sämtlicher geschlechtsspezifischer Gesetze fordert.
«Viele männliche Jugendliche fühlen sich qua Geschlecht diskriminiert», sagt Barrio, selbst Mutter dreier heranwachsender Söhne. «Für Vox ist das ein idealer Nährboden.» Laut dem Jugendbarometer der spanischen Stiftung zu Drogenprävention hält inzwischen jeder fünfte männliche Jugendliche geschlechtsspezifische Gewalt für eine «ideologische Erfindung». Tendenz steigend.
Derzeit vergeht keine Talkshow, in der Pedro Sánchez nicht auf das Debakel rund um das «Nur Ja heisst Ja»-Gesetz angesprochen wird; meist gefolgt von Fragen nach der punktuellen Unterstützung von Regierungsinitiativen durch die separatistischen katalanischen Parteien und die baskische EH Bildu, in denen auch die politischen Erben der 2018 aufgelösten baskischen Terrororganisation ETA sitzen.
Der spanische Premier absolviert derzeit einen Marathon durch die Fernsehsender und versucht das Bild des «Sanchismo» zu konterkarieren. Mit diesem Etikett hat die rechte und konservative Opposition alles gebrandmarkt, was ihrer Vorstellung einer «guten Regierung» für das «wahre Spanien» zuwiderläuft: Zugeständnisse an die Parteien aus Katalonien und dem Baskenland, ein klares Bekenntnis zu feministischen Prinzipien und Initiativen wie das Gesetz zur demokratischen Erinnerung, das den Opfern der fast vierzigjährigen Franco-Diktatur eine symbolische Wiedergutmachung verspricht.
Und die Wirtschaft?
Sánchez hält mit Wirtschaftsdaten dagegen: Zum ersten Mal seit 2008 sind weniger als 2,7 Millionen Menschen arbeitslos. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverträge ist mit knapp 20,9 Millionen auf einem historischen Höchststand. In kaum einem Land der Euro-Zone wächst die Wirtschaft stärker, in keinem ist die Inflation niedriger: Sie liegt derzeit mit 1,6 Prozent deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 5,5 Prozent. Trotz der Corona-Pandemie, die Spanien ähnlich hart traf wie Italien. Trotz des Russland-Ukraine-Krieges. «Wir machen Politik zum Wohl der gesamten Gesellschaft»: Variationen dieses Satzes bringt Sánchez – 51 Jahre alt, studierter Betriebswirt und seit gut zwei Jahrzehnten in der Politik – in jedem Interview unter.
Doch die guten makroökonomischen Zahlen kommen im alltäglichen Leben vieler Spanierinnen nicht an.
Egal ob der Wocheneinkauf im Supermarkt, die Miete oder die monatlichen Raten für die Hypothek: Die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, Lebensmittel und nichtalkoholische Getränke etwa haben sich im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat um 12 Prozent verteuert. Das tiefe Niveau der generellen Inflation ist vor allem den gesunkenen Energiekosten zu verdanken, die Sánchez für Spanien durch eine Deckelung des Gaspreises in der EU erstritten hat.
Die Zinsen für Hypothekendarlehen dagegen, die im Eigentümerland Spanien besonders relevant sind, sind so hoch wie seit 2008 nicht mehr. Auch Lebensmittel haben sich verteuert. «Auch wenn im Unterschied zur Finanzkrise 2008 während der aktuellen Krise keine Arbeitsplätze vernichtet wurden, sorgen die steigenden Kosten vor allem bei der steuerlich besonders belasteten Mittelklasse für Unzufriedenheit», sagt Politologin Astrid Barrio. Auf Platz eins des monatlichen Sorgen-Rankings des Meinungsforschungsinstituts CIS stehen «wirtschaftliche Probleme», gefolgt von Sorgen um das Gesundheitssystem und die Jobqualität.
Das hat auch Spaniens Linke erkannt. Der kleinere Koalitionspartner Unidas Podemos zieht mit einer Listenverbindung mit der von Arbeitsministerin Yolanda Díaz angeführten Sammlungsbewegung Sumar in den Wahlkampf. Alter Wein in neuen Schläuchen? Zumindest im Auftritt geriert sich das Bündnis aus 20 Parteien substanziell anders als die linkspopulistische Podemos, die die Schlagzeilen der letzten Wahlkämpfe beherrschte.
Damals hatte sich Pablo Iglesias zum Sprachrohr der «Empörten» erhoben, jener von der Finanzkrise abgehängten jungen Menschen, die im Mai 2011 in Madrid, Barcelona und Valencia die öffentlichen Plätze besetzt hatten. Mit Pferdeschwanz, Karohemd und gereckter Faust tingelte er durchs Land, versprach einen «Reset» des Systems, kokettierte mit Schuldenerlass und bedingungslosem Grundeinkommen. Als Teil der Linkskoalition trieb Unidas Podemos dann die Mietpreisdeckelung und eine Grundsicherung für sozial Schwache voran, Massnahmen also, die eher an die klassische Sozialdemokratie als an einen radikalen Systemwandel erinnerten. Aber das Image des Bürgerschrecks blieb.
Yolanda Díaz dagegen gibt sich so staatstragend wie Premier Sánchez. Beim Treffen mit internationalen Korrespondentinnen kurz vor der Wahl spricht sie viel über Spaniens gewachsene Bedeutung in der Europäischen Union, über den Green Deal und die ökologische Transition der Arbeitswelt. Gefragt nach ihrer Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei lacht sie laut auf: «Ich bin eine progressive Frau, Tochter eines kommunistischen Gewerkschafters, der im Widerstand gegen Franco war – und mit ‹-ismen› kann ich wenig anfangen.» Díaz weiss, dass eine Wiederholung der derzeitigen Linkskoalition nach den kommenden Wahlen nur möglich sein wird, wenn ihr Zusammenschluss aus 20 Parteien und Bewegungen, Podemos inklusive, die gesamte Wählerschaft links der PSOE erreicht.
Die Arbeitsministerin ist charmant im Umgang und gilt als unerbittliche und geschickte Verhandlungsführerin. «Die Linke hat gezeigt, dass sie besser verwaltet als die Rechte», sagt Díaz und verspricht eine Politik, die «das Leben aller substanziell verbessert». Auch im Programm: ein «Universalerbe» für mehr Chancengleichheit. Mit der Volljährigkeit soll jeder Spanier unabhängig von der Herkunft Anspruch auf 20’000 Euro haben – als Startkapital für ein Studium, eine Ausbildung oder ein eigenes Unternehmen. Die Idee stammt vom Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, der sich davon eine gerechtere Vermögensverteilung erhofft. Als Wahlkampfversprechen wirkt sie allerdings eher wie ein Versuch, die jungen Wähler zu erreichen.
«Am Ende regiert, wer am besten zockt»
Ortsbesuch in Nou Barris, einem Arbeiterbezirk im Norden Barcelonas. Schnurgerade, platanengesäumte Alleen und achtstöckige, klinkerverkleidete Wohnblöcke prägen das Bild. Das Netto-Jahres-Einkommen lag hier zuletzt bei 14’732 Euro pro Haushalt, deutlich niedriger als Barcelonas Mittelwert von 20’667 Euro. Bei den Kommunalwahlen im Mai hat Vox in Nou Barris ihr zweitbestes Ergebnis erzielt, übertroffen nur von den Resultaten im wohlhabenden bürgerlichen Sarrià-Sant Gervasi. Auf dem weitläufigen Platz vor dem Rathaus spielen ein paar Kinder Fangen, in den Bars unter der Balustrade halten Anwohnerinnen ein Schwätzchen.
Fragt man nach den drängendsten Problemen, fallen immer wieder Begriffe wie «der Dreck auf den Strassen», «fehlende Sicherheit», «Kriminalität und mangelnder Bürgersinn». Mireia Izquierdo, 35 Jahre alt, von Beruf Lehrerin, erzählt, dass in ihrem Wohnblock ein Ladenlokal besetzt wurde. «Ständig gab es Krach, und vor der Tür stapelte sich der Müll.» Der Besitzer hat dann irgendwann ein privates Räumungskommando engagiert, vermutlich die Firma Desokupa, glaubt Izquierdo. Das Unternehmen operiert am Rand der Legalität und unterstützt Vox. «Sympathien habe ich weder für Vox noch für diese schrankbreiten ‹Desokupas›-Männer», sagt Izquierdo. Aber das Lokal ist versiegelt, die Nachbarschaft wieder ruhig.
Daniel, 41 Jahre alt, von Beruf Schweisser – seinen Nachnamen nennt er nicht – macht keinen Hehl aus seinem Votum: «Ich wähle auf jeden Fall Vox.» Warum? «Weil es zu viele Ausländer gibt, vor allem aus Nordafrika. Sie passen sich nicht an unsere Kultur an. Die Strassen sind verdreckt, und nachts ist es laut.» Sein Glaube an das parlamentarische System sei «gering». Denn «am Ende regiert nicht, wer am meisten Stimmen bekommt, sondern wer am besten zockt». Aber irgendwie müsse man ja seine Meinung kundtun.
Zur Linkskoalition bekennt sich nur ein greiser Mann mit schütterem Haar. «Ich habe mein ganzes Leben lang die Sozialisten gewählt, denn sie kämpfen für uns, für das Volk», sagt der 88-jährige Antonio García. Bereits sein Vater sei «ein Linker» gewesen. Der Lehrer kämpfte im Bürgerkrieg gegen die aufständischen Franco-Truppen, bis er nach Frankreich floh und dort in einem Konzentrationslager interniert wurde.
«Das politische Bewusstsein habe ich von meinem Vater geerbt», sagt García. Wenn er sein Kreuz bei den Sozialisten mache, dann tue er das auch aus Familientradition und in Erinnerung an seinen Vater. «Alles andere wäre Verrat an unserer Geschichte.» Die Erfahrungen aus Bürgerkrieg und Franco-Diktatur stiften bis heute Identitäten. Auch das erklärt, warum Spanien so sehr vom Blockdenken geprägt ist – und warum mit so viel Verve um Identitätsthemen gestritten wird. Wer diese Themen besetzt, gewinnt.
Bedrohte Freiheiten
Was passiert, wenn Vox auf diesem Terrain punktet, zeigt sich 300 Kilometer abwärts entlang der Mittelmeerküste. In der Region Valencia ist die rechtsextreme Partei eine Koalition mit der konservativen Volkspartei Partido Popular eingegangen und stellt drei von zehn Regionalministerien: das für Kultur, das für Justiz und Inneres sowie das Landwirtschaftsministerium. Mit der Koalitionsvereinbarung übernehme der Partido Popular die radikale ideologische Agenda von Vox, schrieb die Tageszeitung «El País».
Statt vom Schutz vor «geschlechtsspezifischer» ist lediglich von «intrafamiliärer Gewalt» die Rede. Referenzen auf die Klimakrise fehlen ganz – und das in einer landwirtschaftlich geprägten Region, die besonders unter Dürre und Extremwetter leidet. Erinnerungspolitische Massnahmen wie eine Datenbank zu mutmasslichen Fällen illegaler Adoptionen während der Franco-Diktatur stehen auf dem Prüfstand. Stattdessen hat Vox angekündigt, ein Räumungsbüro einzurichten, um gegen Hausbesetzer vorzugehen, mit harter Hand und «allen rechtlichen und wirtschaftlichen Mitteln».
Nicht nur in den Regionalverwaltungen, auch in den Gemeinden, in denen Vox mitregiert, prägt die Linie der Partei die Politik: In der Madrider Gemeinde Valdemorillo wurde Virginia Woolfs «Orlando» vom Spielplan des städtischen Theaters genommen, weil der Protagonist des Stücks vom Mann zur Frau wird. In der kantabrischen Ortschaft Santa Cruz de Bezana darf der Disney-Film «Lightyear» nicht gezeigt werden, weil sich dort zwei Frauen küssen.
Es sind Weichenstellungen, die für viele über rein symbolpolitische Massnahmen hinausgehen. Ignacio Escolar, Chefredaktor der linksliberalen Online-Zeitung «Eldiario.es» und politischer Kommentator für verschiedene Fernseh- und Radiosender, fühlt sich an die Zeiten der Diktatur erinnert: «Die Zensur der Partido-Popular- und Vox-Regierungen bedroht Freiheiten, die unumstösslich schienen.»
Politologin Astrid Barrio glaubt dennoch nicht, dass Spanien durch eine Rechtskoalition in seinen Grundfesten erschüttert würde: «Der harte Kern des Vox-Programms ist schlicht nicht realisierbar», sagt sie. Abschaffung der autonomen Regionen und Umbau Spaniens zu einem straff zentralistisch organisierten Königreich? Nicht machbar. Die territoriale Struktur ist verfassungsrechtlich verankert, eine Verfassungsreform so gut wie aussichtslos. Ausstieg aus der Agenda 2030? Unmöglich. Bestehende internationale Vereinbarungen sind bindend.
«Der parlamentarische Alltag wird die Partei schnell entzaubern», glaubt Barrio und verweist auf Erfahrungen in Frankreich und Deutschland: «Wo die traditionellen Volksparteien Brandmauern gegen die extreme Rechte errichtet haben, ist sie gewachsen. Doch wo man versucht hat, sie in die Institutionen einzubinden, hat sich zwar der Diskurs verschärft, der politische Einfluss und das Wachstum dieser Parteien aber begrenzt.»
Die Forscherin prognostiziert denselben Effekt, den auch Podemos als Hoffnungsträger der radikalen Linken erfuhr: Ernüchterung durch die Macht des Faktischen.
Doch die Grenzen zwischen Symbol- und Realpolitik sind fliessend. Das zeigt sich vor allem in Katalonien. Der Traum von einer unabhängigen Republik scheiterte im Herbst 2017 nicht in erster Linie am Widerstand aus Madrid, sondern an den separatistischen Parteien, die leichtsinnig eine Sezession zum Unkostenpreis versprochen hatten. Ohne internationale Unterstützung. Ohne Pläne für die Zeit nach dem Referendum. Eine Fake-Revolution, aber eine mit handfesten Folgen. Die politischen Anführer wurden wegen «Aufruhr» mit bis zu 13 Jahren Gefängnis bestraft. In Barcelona brannten tagelang die Container. Spanien war gespalten wie noch nie in seiner kurzen demokratischen Geschichte.
Im Sommer 2021 allerdings hat die spanische Regierung die politische Spitze der Unabhängigkeitsbewegung begnadigt und kurz darauf das Delikt «Aufruhr» aus dem Strafgesetz getilgt. Seitdem ist das Katalonien-Thema aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Doch sowohl Vox wie auch der Partido Popular haben angekündigt, diese Strafrechtsreform rückgängig zu machen. Das könnte den Konflikt erneut entfachen, glaubt Barrio: «Mit Turbulenzen ist zu rechnen.»
Der Ton der öffentlichen Debatte hat sich bereits jetzt verschärft. Auch in Barcelona. Als Abascals Rede kurz von den Rufen dreier junger Frauen unterbrochen wird, stimmen Hunderte Vox-Anhänger wie auf Kommando einen Sprechgesang an, den man aus Fussballstadien kennt: «A por ellos, oé!», übersetzt etwa «Auf sie mit Gebrüll».
Die drei sind von einer Gegendemonstration gekommen, zu der ein LGBTQIA+-Kollektiv aufgerufen hat. Die Polizei hält die etwa 300 Protestierenden durch mehrere Mannschaftswagen und eine Reihe behelmter Beamter zunächst auf Distanz. Doch ein paar hundert Meter stadteinwärts treffen die beiden Gruppen aufeinander. Hinter der Glasfassade einer Fast-Food-Filiale haben ein paar Gegendemonstrantinnen Vox-Sympathisanten erspäht; die zusammengerollten Parteifähnchen gucken aus den Rucksäcken. Die Gruppe versucht, das Lokal zu betreten. Doch die Wachfrau am Eingang hindert sie daran.
Also postieren sich etwa zwanzig Menschen im Halbkreis vor der Tür, skandieren «Fora, feixistes, dels nostres barris», Faschisten, raus aus unseren Vierteln. Höhnisches Gelächter und Stinkefinger sind die Antwort. Schliesslich tritt ein Mann heraus, wohl etwa Mitte 40 und sichtlich wütend. Er hebt drohend die Faust.
«Ich bin auch schwul und wähle, wen ich will!» – «Dein Votum wird dich und uns das Leben kosten!» – «Am Laternenpfahl aufgeknüpft werden wir Schwule nur in Marokko!» – «Halt die Fresse, Rassist!» – «Zieh dir erst mal was Ordentliches an und geh arbeiten!»
Der Ton wird hitziger, die Stimmung aggressiver, und die Dame vom Sicherheitsdienst, eine eigentlich resolut wirkende Lateinamerikanerin, ist den Tränen nah. Nach einer halben Stunde ruft sie die Polizei. Ruhe kehrt ein. Vorerst.
Zur Autorin und zur Fotografin
Julia Macher ist freie Journalistin und lebt seit 2004 in Barcelona. Sie berichtet unter anderem für den Deutschlandfunk und «Zeit Online» über Politik und Gesellschaft in Spanien und ist Mitglied des Korrespondenten-Netzwerks Weltreporter.net.
Die Fotografin Iris Humm ist in Mailand geboren und aufgewachsen, hat auch Schweizer Wurzeln und lebt in Barcelona. Sie fotografiert, seit sie 15 ist. In ihrer Fotografie ist sie auf der Suche nach intimen und intuitiven Situationen und versucht, den entscheidenden emotionalen Moment festzuhalten.