«Ich will die Welt verändern»

Am Wochenende wird Lisa Mazzone zur Partei­präsidentin der Grünen gewählt. Im Interview spricht sie über ihre Motivation, die Differenzen mit der SP und die Abwägung zwischen Klimaschutz und Landschafts­schutz.

Von Lukas Häuptli, Priscilla Imboden (Text) und Fabian Hugo (Bilder), 03.04.2024

Vorgelesen von Regula Imboden
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«Mein Ziel ist: mobilisieren», sagt Lisa Mazzone, zukünftige Präsidentin der Grünen.

Lisa Mazzone, Sie übernehmen das Präsidium der Grünen in einem schwierigen Moment. Bei den letzten Wahlen hat Ihre Partei fünf Sitze im Nationalrat und zwei Sitze im Ständerat verloren. Was wollen Sie anders machen als Ihr Vorgänger?
Wir wollen alle Kräfte bündeln und für die grüne Sache einstehen, Kräfte aus der Zivil­gesellschaft, der Kultur, der Wissenschaft und der Wirtschaft. So schaffen wir die Grundlage für eine bessere Zukunft. Die Bündelung der Kräfte ist wichtiger denn je, weil ökologische Anliegen zurzeit im Gegenwind stehen.

Bündelung der Kräfte: Was heisst das?
Vom Naturschutz­verband bis zum Start-up, von der Autorin bis zur Wohnbau­genossenschaft gibt es viele Kräfte, die sich für die ökologische Wende einsetzen. Diese Akteure des Wandels möchte ich zusammen­bringen und daraus einen hoffnungs­vollen Horizont schaffen. Ich habe bereits damit angefangen, Besuche in den Kantonen zu machen, und es wird unter dem Titel «Treffpunkt Zukunft» weiterhin mein Fokus sein. Daneben müssen wir zeigen, wie breit die Grünen aufgestellt sind. Zum Beispiel im Parlament: Wir haben Franziska Ryser, die ein Unternehmen führt, und Léonore Porchet, die Gewerkschafterin ist. Oder wir haben den Anwalt Mathias Zopfi und den Biobauern Kilian Baumann. Was dazukommt: Die Menschen in Genf und, sagen wir, Glarus leben in verschiedenen Realitäten. Aber sie haben die gleichen grünen Anliegen. Wir wollen die Grünen aus der ganzen Schweiz zusammen­bringen. Mein Ziel ist: mobilisieren.

Wie denn?
Wir stehen an einem entscheidenden Punkt. Bis Ende Jahr stimmen wir ab über den Autobahn­ausbau, die Energiewende und die Krise der Biodiversität. Das Jahr 2024 ist eigentlich wichtiger als die letzten Wahlen: Wir müssen zusammen zeigen, wie stark wir sind. Was die Grünen betrifft, wird es künftig jedes Jahr einen Anlass geben, zu dem alle Mitglieder und alle anderen Interessierten eingeladen sind. Mit internationalen Gästen und Debatten stärken wir den Austausch. So können wir Menschen mobilisieren, und zwar innerhalb und ausserhalb der Partei.

Zur Person

Lisa Mazzone stieg früh in die Politik ein und arbeitete sich schnell hinauf auf die nationale Bühne. Sie wuchs in Versoix bei Genf auf und gründete dort als 18-Jährige ein Jugend­parlament. Wenig später trat sie der Grünen Partei bei und wurde in den Gemeinderat, den Grossrat und 2015 in den Nationalrat gewählt. Vier Jahre später gelang ihr die Wahl in den Ständerat. 2023 wurde sie abgewählt. Im Parlament setzte sie sich für ein modernes Sexual­strafrecht, mehr Transparenz bei der Politik­finanzierung und den wirtschaftlich Berechtigten von Unternehmen sowie für die Energie- und Klimapolitik ein. Die 36-jährige schweizerisch-italienische Doppel­bürgerin engagiert sich als Co-Präsidentin der Plattform Sans-Papiers und sitzt im Initiativ­komitee der Demokratie-Initiative, die eine erleichterte Einbürgerung verlangt.

Mit welchen politischen Schwer­punkten wollen Sie diese Menschen mobilisieren?
Der Kern der Grünen ist und bleibt die Klima- und die Umwelt­politik. Diese Wende muss eine Hoffnung für mehr Gerechtigkeit und ein besseres Leben sein. Das ist aus mehreren Gründen wichtig. Der Widerstand gegen solche Forderungen ist im Parlament seit dem Rechtsrutsch massiv gewachsen. Für die Bevölkerung aber sind Klima- und Umwelt­schutz zentrale Anliegen. Das zeigen Umfragen wie auch die stetig steigende Mitgliederzahl der Grünen. Auch deshalb müssen wir den Druck aufrecht­erhalten – einerseits mit den Mitteln im Parlament, andererseits mit denjenigen der direkten Demokratie.

Sie planen weitere Initiativen und Referenden?
Ja, wenn es nötig ist. Nehmen Sie das Umweltschutz­gesetz. Das Parlament hat darin den Lärmschutz und den Ozonschutz derart ausgehöhlt, dass wir – sollte es während der Beratungen dabei bleiben – gegen das Gesetz das Referendum ergreifen werden.

Zurück zu den inhaltlichen Schwer­punkten. Die Grünen laufen Gefahr, eine Ein-Themen-Partei zu sein und zu bleiben.
Das stimmt nicht. Gleichstellung, Migration, globale Gerechtigkeit und Sozial- und Wirtschafts­politik: Die Grünen sind seit 40 Jahren in diesen Bereichen engagiert und haben ein klares Profil.

Ein anderes Problem Ihrer Partei ist: Sie gilt als Verhinderer-Partei.
Auch das trifft nicht zu. Wir sind eine Partei, die gestaltet.

Nämlich?
Die Grünen wollen Lösungen, und für diese Lösungen braucht es Mehrheiten. In der Schweiz erreicht man politische Ziele nie allein, man ist immer auf Partner und auf Kompromisse mit diesen Partnern angewiesen.

Ein Beispiel für einen solchen Kompromiss ist das Stromgesetz, das im nächsten Juni zur Abstimmung kommt.
Ja. Wir haben uns stark dafür eingesetzt, dass mit dem Stromgesetz die Energiewende im Einklang mit der Natur erfolgt. Das Gesetz sieht den Ausbau von Solar­energie, Wind­energie und Wasser­kraft­werken vor. Wir konnten im Parlament verhindern, dass dieser Ausbau auf Kosten der Natur erfolgt; so bleiben besondere Biotope und Zugvogel­reservate weiterhin geschützt. Mit diesem Kompromiss erreichten wir eine Balance zwischen dem Ausbau der Strom­versorgung und der Wahrung des Natur­schutzes, die für uns dringend nötig ist.

Was sagen Sie jenen Grünen, die gegen das Gesetz sind, weil sie befürchten, es gefährde schützenswerte Landschaften?
Ich sage ihnen, dass es ein ausgewogenes Gesetz ist. Es regelt unsere Energie­versorgung so, dass der Ausstieg aus den fossilen Energien und aus der Atom­energie möglich wird. Und es schützt weiterhin schützenswerte Landschaften. Ich bin zuversichtlich: Erst kürzlich haben die Grünen des Kantons Graubünden, die lange kritisch gegenüber dem Stromgesetz waren, die Ja-Parole beschlossen.

Die Grünen haben bei den letzten Wahlen einen Wähleranteil von 9,8 Prozent erreicht. Wie hoch soll er bei den nächsten Wahlen ausfallen?
Ich setze mir keinen bestimmten Wähler­anteil zum Ziel. Mein Ziel ist es, dass die Grünen stärker werden und die Schweiz prägen.

Und damit Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat haben?
Wir Grünen haben diesen Anspruch bereits jetzt. Wir sind in vielen Kantonen, Städten und Gemeinden in der Regierungs­verantwortung. Diese Verantwortung wollen wir auch auf nationaler Ebene übernehmen. Schauen Sie: Eine Partei mit einem Wähleranteil von 10 Prozent muss einen Sitz im Bundesrat haben. Das Macht­kartell der vier bisherigen Regierungs­parteien ist gefährlich für die Schweiz. Es schliesst wichtige politische Kräfte aus. Es politisiert am Volk vorbei. Wir Grünen haben immer gesagt: Wir wollen Regierungs­verantwortung übernehmen. Schliesslich bietet ein Sitz im Bundesrat auch ganz andere Möglichkeiten, die Politik der Schweiz zu gestalten.

Wenn Sie Ihre politischen Ziele erreichen wollen, sind Sie auch auf die SP angewiesen. Sie sind Verbündete, aber auch Konkurrenten. Was heisst das für die Grünen, die Junior­partnerin der SP?
Ich finde, hier muss man unterscheiden zwischen politischen Inhalten und politischer Macht. Bei den Inhalten ist es extrem wichtig, dass wir gut zusammen­arbeiten. Wir können es uns nicht erlauben, zu streiten, dazu sind wir beide zu schwach. Und unsere Anliegen zu wichtig.

«Eine Partei mit einem Wähleranteil von 10 Prozent muss einen Sitz im Bundesrat haben.»

Und bei der politischen Macht?
Hier geht es unter anderem um einen Sitz im Bundesrat, und da müssen wir Grünen für uns schauen. Wenn der Bundesrat den Ausbau der Autobahn auf sechs Spuren einfach so annimmt, dann finde ich: Es macht einen Unterschied, ob eine Grüne oder ein Grüner im Bundesrat sitzt oder nicht.

Auch wenn sie oder er einen SP-Bundesrat verdrängt?
Ja, es macht einen Unterschied.

Apropos gestalten und verhindern: Wie stehen Sie eigentlich zu den Klimakleberinnen?
Die Klimakleber sind eine andere Bewegung als die Grünen. Was aber feststeht: Die Frage nach den Klimaklebern lenkt von den wahren Problemen in der Klima- und Umwelt­politik ab. Und unsere politischen Gegner missbrauchen die Klimakleber für ihre eigenen Zwecke.

Weite Teile der Bevölkerung ärgern sich über die Klimakleber – und über einen Klima- und Umwelt­schutz, der ihr tägliches Leben teurer macht.
Die Klimawende muss sozial abgefedert werden. Dazu muss die Politik viel mehr in den Klima- und Umwelt­schutz investieren, vor allem in die entsprechende Infrastruktur. Diese brauchen wir für den Übergang in eine nachhaltige Welt. Deswegen haben wir zusammen mit der SP die Klimafonds­initiative lanciert, die solche Investitionen ermöglicht.

Viele Stimmberechtigte waren 2021 gegen das CO2-Gesetz, weil dieses das Autofahren und das Fliegen verteuert hätte.
Das Geschäfts­modell der Low-Cost-Anbieter ist ein Skandal. Die Tickets sind viel zu billig, sie widerspiegeln die echten Kosten nicht. Flug­gesellschaften können Destinationen wie Paris oder London nur deswegen so billig anbieten, weil die Folgen für die Umwelt und die Gesundheit von uns allen getragen werden. Das ist eine indirekte Subventionierung, dem Klima zu schaden.

Die Leute könnten auch von sich aus aufs Fliegen oder Autofahren verzichten.
Deshalb müssen wir den ÖV weiter verbessern. Ich finde, dass die Städte und Gemeinden viel mehr Platz für autofreies Leben schaffen müssten. Auch ist es verantwortungslos, dass der Bund jetzt Autobahnen auf Kosten des Kultur­landes und des Klimas ausbauen will.

Noch zu einem ganz anderen Thema: Die Grünen lancieren dieser Tage zusammen mit der Operation Libero und der Europäischen Bewegung eine EU-Initiative. Warum das? Die Schweiz beginnt ja gerade ihre Verhandlungen zur Weiter­entwicklung der bilateralen Verträge mit der EU.
Wir Grünen glauben an das Projekt Europa, an die europäische Integration und an die Friedens­sicherung. Dem wollen wir mit der Initiative Nachdruck verschaffen und gegen die isolationistischen Kräfte kämpfen. Deshalb begrüssen wir auch, dass die Schweiz ihre Beziehungen zur EU endlich vertieft. Und dass der Bundesrat Verhandlungen mit Brüssel aufnimmt. Es war höchste Zeit.

Zumindest in einem Punkt haben Sie aber sicher keine Freude an der EU: Diese beurteilt Atomenergie als umweltfreundlich.
Das stimmt, das sehen wir völlig anders. Auch aussen­politisch ist es indiskutabel: Uran kommt im grossen Mass aus Russland. Deshalb werden wir uns das Strom­abkommen, das die Schweiz mit der EU aushandeln will, ganz genau anschauen. Für uns ist klar: Das Abkommen muss im Sinne der Energiewende ausgestaltet sein, also weg von der Energie aus fossiler und nuklearer Quelle hin zu erneuerbarer Energie führen.

Frau Mazzone, warum machen Sie überhaupt Politik?
Weil ich die Welt verändern will: Ich möchte sie mit allen Verbündeten nachhaltiger, gerechter und glücklicher machen.

Weshalb führte Sie dieser Wunsch zu den Grünen?
Ich bin in einer grünen Familie aufgewachsen. Schon als Kind gehörte Politik zu meinem Alltag. Als Jugendliche habe ich ein Jugend­parlament gegründet, dann bin ich in die Grüne Partei eingetreten, und so ging es Schritt für Schritt weiter.

Nach Ihrer Abwahl als Ständerätin im letzten Herbst erklärten Sie, Sie würden sich aus der Politik zurück­ziehen. Warum kehren Sie jetzt zurück?
Schauen Sie: Mir ist das Engagement für meine Werte einfach zu wichtig. Und mir sind die Grünen zu wichtig. Deshalb freue ich mich, sie in den nächsten Jahren als Präsidentin mitzugestalten.

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