Donezk
Lesha und seine Freunde bringen Hilfsgüter zu den Soldaten im Krieg. Und sprechen mit ihnen darüber, was sein wird, wenn der Krieg vorbei ist.
Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Übersetzung und Bildredaktion), 12.12.2022
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Über das Netzwerk Livyj Bereh und seine Tätigkeiten habe ich hier vor kurzem berichtet: Es organisiert einerseits den Wiederaufbau von Häusern, die im Krieg beschädigt wurden. Andererseits engagieren sich die Freiwilligen des Netzwerks auch stark an der Front, indem sie die Truppen dort mit zusätzlichem Material versorgen: Dinge wie warme Kleider, gute Schuhe, Funkgeräte oder Autos sind dort sehr nützlich.
Die Wiederaufbauaktivitäten von Livyj Bereh waren Teil einer Ausstellung in Düsseldorf im September, das Honorar dafür wurde in ein Auto fürs Militär investiert. Und da das Netzwerk durch Spenden noch ein zweites Fahrzeug kaufen konnte, kamen die Leute von Livyj Bereh auf mich zu mit der Idee, dass ich sie begleiten und ihre Reise an die Front dokumentieren könnte. Abgesehen davon brauchten sie noch einen Fahrer.
Ich sagte zu, und der Trip wurde zu einer meiner intensivsten Erfahrungen der letzten neun Monate. Es war auch ein sehr persönliches Erlebnis, denn seit 2014 war ich nie mehr so nahe an meiner Heimat Donezk. Ich musste es erst mal verarbeiten, deshalb berichte ich erst jetzt darüber, obwohl ich die Reise bereits im Oktober unternommen habe.
Am ersten Tag treffe ich mich mit Zhanna in einem kleinen Dorf in Poltawa. Sie will dort ihr Auto abholen und umfärben, damit es an der Front noch Dienste leisten kann. Es ist nicht alt und zudem zuverlässig und praktisch, weil sich in jedem noch so kleinen Kaff Ersatzteile dafür auftreiben lassen. Spät am Abend stossen Vlad und Ihor zu uns, mit einem Auto, das ebenfalls noch umgefärbt werden muss. Ihor besteht darauf, zumindest die Basis in der Nacht schon aufzusprayen, um dann bei Tageslicht das Werk zu vollenden.
Der nächste Tag soll lang werden, zum Ziel sind es viele Kilometer. Nach einer sehr kurzen Nacht stehen wir deshalb bereits um 4.30 Uhr auf und machen uns auf den Weg. Die ersten und die letzten Stunden der Strecke sind anstrengend, es ist dunkel und die Strassen sind sehr löchrig.
Vlad und Ihor haben mich gewarnt – es war ihnen wichtig, dass ich mir bewusst bin, dass dieser Trip Risiken birgt und dass sie nicht für meine Sicherheit garantieren können. Natürlich erlebte ich im Vorfeld Momente der Angst und stellte mir vor, was uns alles passieren könnte. Diese Gedanken lösten sich aber in Luft auf, sobald wir unterwegs waren.
Als wir an Dnipro vorbeikommen, habe ich erste Flashbacks. Ich kenne diese Strasse. Vor fast zehn Jahren bin ich auf einer Fahrradreise genau hier durchgekommen. Sie führte uns von Donezk nach Dnipro und war eine meiner ersten und sicher längsten Reisen – wir radelten etwa 285 Kilometer an einem Tag. Erinnerungen an diese Tage ploppen in meinem Kopf auf.
Die Landschaft von Donezk ist einzigartig und ich merke, wie sehr ich sie vermisse. Sie ist stark von Menschenhand geprägt, mehr als jede andere Region in der Ukraine, vielleicht sogar in ganz Osteuropa. Es ist ein vielfältiger Mix an industrieller Infrastruktur: Minen, Kohlebergwerke, deren kegelförmige Aushubhalden, moderne Kraftwerke und Fabriken mit ihren hohen Kaminen. Eine auf ihre Art beeindruckende und einzigartige Landschaft, die wegen des Kriegs zu verschwinden droht. Die meisten Minen und Fabriken sind geschlossen.
Die Region erinnert mich auch sehr stark an meine Heimat, Kindheitserinnerungen kommen auf. Ich bin in der Industriestadt Jenakijewe aufgewachsen, und wenn ich nicht gerade bei meinen Grosseltern in Luhansk in den Ferien war, erkundete ich mit meinen Freunden die Industriegelände der Umgebung. Viele meiner Erinnerungen haben mit diesen industriellen Strukturen zu tun.
Sobald der Krieg vorbei ist, werde ich all diese Schauplätze meiner Kindheit und Jugend wieder besuchen. Unser Familienalbum ist auch noch irgendwo in Jenakijewe, zusammen mit anderen Erinnerungsstücken. Vielleicht sind sie für immer verloren – aber vielleicht auch nicht und sie warten nur darauf, dass ich sie wiederfinde. Jenakijewe befindet sich seit 2014 unter russischer Besatzung.
Je näher wir an die Front vorrücken, desto weniger Zivilisten sehen wir. Die Strassen füllen sich mit Tarnlastwagen, gepanzerten Fahrzeugen, Militärtanklastwagen, Ambulanzen und Panzern. Manchmal sind die Strassen so schlecht und zerbombt, dass eine Ausweichstrasse parallel dazu im Feld entstanden ist. Der Krieg fühlt sich hier noch mal ganz anders an, viel gegenwärtiger. In Kiew sind wir zwar unter ständigem russischem Beschuss, leben aber doch eine Art Alltag. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie es sich für einen Soldaten anfühlen muss, in die Stadt zu kommen.
Spät am Abend kommen wir an. Die Soldaten der Brigade, für die die Autos bestimmt sind, freuen sich sehr über unseren Besuch. Und natürlich über die Autos. Wir essen zusammen und verbringen die Nacht in ihrer Unterkunft. Am nächsten Tag nehmen sie uns mit auf eine Tour, zeigen uns die zerstörten Dörfer, erzählen uns, wie sie arbeiten. Ich bin beeindruckt von ihrer Zuversicht und ihrer unglaublichen Freundlichkeit. Sie sind überzeugt von unserem Sieg, mehr noch als die Menschen in Kiew oder anderen Städten weit weg von der Front.
Das ist etwas, was mir an diesem Tag aufgefallen ist. In der Haltung und der Einstellung gibt es Unterschiede zwischen den Militärs und der Zivilbevölkerung. Als am 24. Februar die Russen die gesamte Ukraine angriffen, reagierte die Bevölkerung mit Furcht und Panik. Ich würde sagen, die meisten dachten: «Ich werde nächstens sterben.» Nach ein paar Wochen erfolgreicher Abwehr und Widerstand änderte sich die Haltung in: «Okay, ich kann jede Sekunde sterben, aber bis dahin kann ich auch das Leben geniessen.»
Und das hat bis jetzt angehalten, egal wo und wer du bist in der Ukraine, Russland kann dich jederzeit treffen. Darum werden keine langfristigen Pläne geschmiedet, die Menschen versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.
An der Front hingegen sprechen die Soldaten bereits von ihren Plänen nach dem Krieg, als wäre das eine Sache von ein paar Tagen. Die einen denken über eine berufliche Neuausrichtung nach, andere über Ideen für ein eigenes Geschäft. Ich war echt beeindruckt und mir wurde einmal mehr bewusst, wie wichtig es ist, sie zu unterstützen. Denn je mehr Unterstützung sie erhalten, desto schneller bekommen wir unsere Zukunft zurück.