Serie «Mord in Hongkong» – Teil 1

Eine verhängnis­volle Taxifahrt

Ein Schweizer Diplomatenpaar gerät 1956 in Hongkong zwischen die Fronten des Kalten Krieges – mit tödlichen Folgen. Zufall oder gezielter Anschlag? «Mord in Hongkong», Teil 1.

Von Ernst Herb (Text) und Gregory Gilbert-Lodge (Illustration), 03.09.2022

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Vorgelesen von Dominique Barth
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Einer der letzten Einträge in den Akten «Unfall F. Ernst» im Schweizerischen Bundes­archiv ist ein Artikel aus der englisch­sprachigen Tages­zeitung «Hong Kong Standard» vom 21. August 1959. Darin wird vermeldet, dass ein gewisser «Li Chun, der 1956 bei den Unruhen in Kowloon beinahe getötet worden ist», nun bei einem Verkehrs­unfall in der damaligen britischen Kron­kolonie ums Leben gekommen sei.

Der Grund, warum Li Chuns Unfalltod in Hongkong im Bundes­archiv in Bern zu finden ist, wird im Artikel bloss kurz gestreift: «Während der gewaltsamen Ausschreitungen von 1956 war das Opfer Fahrer des Taxis, in dem Mister Fritz Ernst, der Kanzlei­chef des Schweizer Konsulats, und seine Gattin Ursula Margareta unterwegs waren.» Eine Taxi­fahrt, die in einer Tragödie endete.

Serie «Mord in Hongkong»

Die Taxifahrt eines Schweizer Diplomaten­paars endet in einer Tragödie. Was geschah an diesem Oktober­tag im Jahr 1956 wirklich? Ein historischer Kriminal­fall aus Hongkong. Zur Übersicht.

Sie lesen: Teil 1

Eine verhängnis­volle Taxifahrt

Teil 3

Und die Schweiz schweigt

Es war der 11. Oktober 1956, für das Ehepaar Ernst verlief der verhängnis­volle Tag zunächst offenbar ganz gewöhnlich. Nach getaner Arbeit verabschiedete sich Kanzlei­chef Ernst um 13 Uhr von seinem Vorgesetzten Konsul Georges Bonnant, um «sur le continent» zu gehen, also auf den Festland­teil der Kolonie. Dies schrieb Bonnant später in einem Bericht an das Politische Departement (so hiess das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten bis 1979).

Fritz Ernst war die Nummer zwei des Schweizer Konsulats in Hongkong, das damals formal der Botschaft in London unterstand. Er und seine Ehefrau Ursula Margareta setzten an diesem Tag mit der Passagier­fähre von der Insel in den gegenüber­liegenden Stadtteil auf dem asiatischen Festland über. Die Fahrt dauerte weniger als eine Viertel­stunde. Auf dem Festland stiegen sie in Li Chuns Taxi ein.

Sha Tin Heights Hotel

Hongkong

Anschlag auf

das Ehepaar Ernst

Kowloon

Unfallort des

Taxifahrers Li Chun

Star Ferry Kowloon

Star Ferry Central,

Schweizer Konsulat

Hong Kong Island

Wohnort

Familie Ernst

Gefängnis in

Stanley

Sha Tin Heights Hotel

Hongkong

Anschlag auf

das Ehepaar Ernst

Kowloon

Unfallort des

Taxifahrers Li Chun

Star Ferry

Kowloon

Star Ferry Central,

Schweizer Konsulat

Hong Kong Island

Wohnort

FamilieErnst

Gefängnis in

Stanley

Nur wenige Minuten später zwingt ein wütender Mob von «schätzungs­weise 20 bis 40 Personen» das Taxi zum Anhalten, kippt den Wagen auf die Seite um und setzt, wie Zeugen laut der «South China Morning Post» später aussagen, aus dem Tank auslaufendes Benzin mit einem Streich­holz in Brand. Ernst, der bereits aus dem Taxi gestiegen ist, um sich der wütenden Menge entgegen­zustellen, zieht sich Verbrennungen an den Armen und im Gesicht zu, als er seiner Frau hilft, aus dem lichterloh brennenden Taxi zu entkommen.

Das Diplomaten­paar kann an diesem frühen Nachmittag zwar vor dem Mob fliehen und wird kurz darauf von einer Militär­patrouille gerettet. Doch drei Tage später stirbt «Mrs Ernst», wie sie von den Medien genannt wurde, an ihren schweren Verbrennungen.

Die Justiz macht kurzen Prozess

Die 34 Jahre alte Mutter von zwei Klein­kindern fand den Tod bei diesem Überfall auf das Fahr­zeug von Li Chun. Drei Monate später kommt es zum Prozess. Taxifahrer Li Chun ist neben Fritz Ernst einer der Haupt­zeugen.

Fünf junge Männer werden beschuldigt, für den Tod von Ursula Margareta Ernst verantwortlich zu sein. Vier von ihnen werden Anfang Januar 1957 zum Tod am Galgen verurteilt. Es sind dies der 28-jährige arbeits­lose Tse Sang, der ebenfalls beschäftigungs­lose 27-jährige Choi Kwok-fai, der 31-jährige Hausierer Li Chuen sowie der 26-jährige Tage­löhner Lee Shu-wing. Das Urteil wird in zweiter Instanz bestätigt, ein Gesuch um Begnadigung lehnt der damalige britische Gouverneur in Hongkong, Alexander Grantham, ab. Die Verurteilten werden Ende Juli 1957 in der Straf­anstalt von Stanley hingerichtet – nur wenige hundert Meter entfernt vom Wohnort der Familie Ernst. Die Justiz hatte damit mit aller Härte gesprochen. Doch das Dossier «Unfall F. Ernst» konnte im diplomatischen und politischen Bern damit noch lange nicht ad acta gelegt werden.

Auch 65 Jahre danach sind trotz des Prozesses – oder wahrscheinlich gerade seinetwegen – viele Fragen über die genauen Umstände der Geschehnisse offen. Warum zum Beispiel musste der Schweizer Diplomat und Witwer Fritz Ernst kurz nach der Vollstreckung des Todes­urteils Hongkong fluchtartig verlassen? Unter grösster Geheim­haltung nahm er mit seinen beiden zwei- und vierjährigen Söhnen einen Swissair-Flug in Richtung Tokio. Dies auf Anraten der Special Branch, des Geheim­dienstes der Kolonial­regierung. «Es müssen Informationen vorgelegen haben, dass ein Anschlag auf ihn geplant war oder zumindest wahrscheinlich schien», sagt David Hodson, ehemals hoher Offizier der Hongkonger Polizei und Lehr­beauftragter in Kriminologie an der Hong Kong University.

Ein Rätsel ist auch bis heute, warum das Diplomaten­paar sich am 11. Oktober 1956 ausgerechnet in jenen Stadt­teil begeben hat, nachdem dieser bereits am Vortag von schweren Unruhen erschüttert worden war. Denn tatsächlich führt die mithilfe von verstaubten Akten, vergilbten Zeitungs­ausschnitten und Gesprächen mit Zeit­zeugen rekonstruierte verhängnis­volle Taxifahrt des Schweizer Diplomaten­paars mitten in einer der heissesten Phasen des Kalten Krieges auf eines der heissesten Pflaster der damaligen Welt.

Die Unruhen vom Oktober 1956 in Hongkong sind als Double Ten Riots in die Geschichte eingegangen, weil sie am zehnten Tag des zehnten Monats des Jahres ausgebrochen sind. Sie sollten neben dem Leben der jungen Schweizerin weitere 60 Todes­opfer fordern und grossen materiellen Schaden anrichten. Der Herbst 1956 war überhaupt eine enorm angespannte Zeit – mit der Suez­krise, dem sich anbahnenden Aufstand in Ungarn, der sich intensivierenden Unabhängigkeits­bewegung in Algerien, den stark von aussen­politischen Fragen geprägten US-Präsident­schafts­wahlen und nicht zuletzt den Macht­kämpfen innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). All dies schlug auch auf den isolierten britischen Aussen­posten in Fernost durch.

«Die Kronkolonie Hongkong stand an vorderster Front des Ost-West-Konflikts, wo sich inmitten eines nicht beendigten chinesischen Bürger­kriegs die mächtigen politischen und militärischen Strömungen der USA und der Sowjet­union kreuzten», schreibt US-Historikerin Tracy Steele in ihrem Beitrag zu dem Buch «Hong Kong in the Cold War» (2016).

Zum historischen Kontext

Kolonie Hongkong

Hongkong war von 1843 bis 1997 eine Kolonie Gross­britanniens. Das Gebiet umfasste nicht nur Hong Kong Island und Kowloon auf dem Festland, sondern ab 1898 auch die New Territories. Diese Bezeichnung meint weitere Inseln, vor allem aber das ländliche Hinterland von Kowloon, das strategisch wichtig war für die Briten. Durch die hügelige Landschaft liess sich Hongkong besser gegen allfällige Angriffe schützen, gleichzeitig diente sie als Wasser­reservoir für die Stadt.

Die Zeit als britische Kolonie wurde einmal unterbrochen: Japan griff Hongkong im Zweiten Weltkrieg zeitgleich mit Pearl Harbor an, wegen der Datums­grenze am 7. und nicht am 8. Dezember 1941. Hongkong wurde fast vier Jahre lang von den Japanern besetzt. Als diese am 15. August 1945 kapitulierten, ging Hongkong mitsamt den New Territories an Gross­britannien zurück.

Chinesischer Bürgerkrieg

Von 1927 bis 1949 wütete der Chinesische Bürger­krieg, unterbrochen nur zur Zeit der japanischen Besetzung respektive während des Zweiten Welt­krieges. Darin kämpften um die politische Vorherrschaft zum einen die Kommunistische Partei Chinas, angeführt von Mao Zedong, und zum anderen der rechte Flügel der Kuomintang (Nationalistische Partei Chinas) unter Chiang Kai-shek. Am 1. Oktober 1949 wurde die Volks­republik China ausgerufen, Mao kam mit seiner Kommunistischen Partei an die Macht. Die Verlierer, die Kuomintang unter Chiang Kai-shek, zogen sich nach Taiwan zurück und gründeten die Republik China. Deren Autonomie wird von der Volks­republik nicht anerkannt, sie wird nach wie vor als abtrünniger Teil Chinas betrachtet (Ein-China-Politik). Immer weniger Staaten unterhalten heute mit Taiwan diplomatische Beziehungen.

Während des Bürger­kriegs flohen viele Chinesinnen beider Seiten in die sichere Kolonie Hongkong.

Double Ten Riots

1956 kommt es in Hongkong zu Unruhen zwischen den Parteien des chinesischen Bürger­kriegs. Hongkong erlaubt beiden Seiten Kund­gebungen zu ihren jeweiligen National­feiertagen; am 1. Oktober feiert die Volksrepublik China und am 10. Oktober die Republik China (Taiwan). Die Spannungen entladen sich am 10. Oktober in gewaltsamen Auseinander­setzungen, die zwei Tage andauern.

Beginn der Dekolonisation

Die britische Regierung ist durch den Ausgang der Suez­krise von 1956 geschwächt, die Dekolonisation ist international auf dem Vormarsch. Den Forderungen der Volks­republik China kann der Gouverneur von Hongkong, Alexander Grantham, immer weniger entgegenhalten, auch in Hongkong wächst der Unmut gegenüber den Besatzern.

Ost-West-Konflikt

Anders als Gross­britannien (und die Schweiz) erkannten die USA die Volks­republik China bis 1979 nicht an; während des Korea­krieges (1950–1953) war sie zudem gegnerische Kriegs­partei. Für die USA – wie für viele weitere westliche Länder – war weiterhin die auf Taiwan beschränkte Republik Chinas legitime Vertreterin. Damit geriet Hongkong geografisch und politisch mitten in das Spannungs­feld des Kalten Krieges.

Für die Nebelwand sind neben dem globalen Chaos aber auch diplomatische Täuschungs­manöver, geheim­dienstliche Winkel­züge und nicht zuletzt die während des Kalten Krieges ideologisch gefärbte Bericht­erstattung in den Schweizer Medien verantwortlich. In der Legende eines in der folgenden Woche von der «Schweizer Illustrierten» veröffentlichten Fotos über den Gewalt­ausbruch in Hongkong wird die Schuld dafür reflexartig dem kommunistischen Lager zugeschoben, was zwar nicht den komplexen Tatsachen, doch umso mehr dem medial verbreiteten einseitigen Bild des Kalten Krieges entsprach.

Im Brenn­punkt blutiger Unruhen

Hat an jenem 11. Oktober 1956 im fernen Hongkong eine fatale Aneinander­reihung von unglücklichen Umständen die Familie Ernst zerstört? Oder sind die Schweizer mit Absicht zum Ziel eines Anschlags geworden?

Tatsache ist: Im Herbst 1956 erlebt das Welt­geschehen einen gewaltigen Ruck. Ähnlich wie heute angesichts des russischen Angriffs­krieges gegen die Ukraine wandelte die Schweiz damals auf einem gefährlich schmalen Grat mit ihrem aussen­politischen Neutralitäts­kurs und ihrer extrem export­abhängigen Wirtschaft.

Das galt auch für Hongkong. Die Kolonie am Rande Chinas war nicht nur bedroht von einer Invasion durch die kommunistische Volks­befreiungs­armee und durch Aktionen der Nationalisten, die im Chinesischen Bürger­krieg unterlegen waren. Sie sah sich auch konfrontiert mit Gewalt­ausbrüchen in der – politisch rechtlosen und grösstenteils bettelarmen – Bevölkerung gegen die kleine Minder­heit der meist hoch privilegierten Ausländer.

Zugleich war Hongkong eine zentrale Dreh­scheibe des Schwarz­handels von strategisch wichtigen Gütern, Devisen, gefälschten Zoll­papieren und Pässen. Mit der Schmuggel­ware wurde das Wirtschafts­embargo unterlaufen, das die USA nach dem Ausbruch des Korea­krieges 1950 gegen China verhängt hatten. Der Schwarz­handel legte den Grund­stein nicht nur für den Aufstieg Hongkongs zu einer der reichsten Volks­wirtschaften Asiens, sondern auch für die weltweit grössten Familien­vermögen. Die Schweiz als damals sechst­grösster Handels­partner Chinas spielte bei diesem blühenden Geschäft keine unwichtige Rolle.

Gleichzeitig war Hongkong für die USA und ihre westlichen Verbündeten ein wichtiger Horch­posten vor dem kommunistischen China. Obwohl in der Kolonie damals weniger als 1000 US-Bürgerinnen lebten, waren hier neben einer grossen Zahl von häufig geheim operierenden Agenten 5 amerikanische Konsuln und 25 Vizekonsuln tätig.

In diesen Strudel wurde auch das Ehepaar Ernst gerissen. Der Stadt­teil Sham Shui Po, der Brennpunkt der blutigen Unruhen von 1956, war bereits damals einer der am dichtesten besiedelten und lebhaftesten Stadt­teile Hongkongs. Das Quartier liegt am westlichen Ende der Boundary Street. Diese Strasse bildete jahrzehnte­lang die Grenze zwischen souveränem britischem Gebiet und den New Territories, die England 1898 für 99 Jahre von China gepachtet hatte. Die Grenze erlosch 1997 mit dem Auslaufen des Pacht­vertrages.

1956 lebten dort und in den umliegenden slum­ähnlichen Siedlungen chinesische Flüchtlinge auf engstem Raum, die nach dem Sieg der KPCh im Chinesischen Bürger­krieg vor den brutalen politischen Säuberungen und der Zwangs­kollektivierung geflohen waren. Innerhalb von fünf Jahren hatte sich Hongkongs Bevölkerung von 600’000 auf 2,5 Millionen Einwohner mehr als vervierfacht.

Und Sham Shui Po litt noch an einer anderen offenen Wunde. Unweit von der Grenze dieses Stadt­teils hatten japanische Truppen im Dezember 1941 die britischen Verteidigungs­linien durchbrochen, zeitgleich mit der Bombardierung von Pearl Harbor. Unter den kriegerischen Handlungen und der Besatzung in den folgenden Jahren litt die Zivil­bevölkerung. Und es sollte auch das Ende des British Empire einläuten, das im Herbst 1956 mit der Suezkrise den endgültigen Todes­stoss erhielt.

In dieses soziale und politische Pulverfass ist das Schweizer Diplomaten­paar Ernst am 11. Oktober 1956 also hinein­gefahren, um zum Sha Tin Heights Hotel zu gelangen, das auf einer von der Stadt etwas abgelegenen Hügel­kette stand. Ernsts Vorgesetzter, Konsul Georges Bonnant, schrieb in einem ersten Bericht an seine Vorgesetzten in Bern, «dass sein Mitarbeiter und dessen Frau von chinesischen Freunden zum Lunch eingeladen» gewesen seien.

Das Politische Departement hatte eine Woche nach dem Überfall, am 18. Oktober 1956, verlangt, «die näheren Umstände, die Herrn Ernst zur Fahrt nach Kowloon veranlasst» hatten, zu klären. Davon ist in den Akten im Bundes­archiv und auch in den damaligen Presse­berichten aber zunächst nur am Rand und später überhaupt nicht mehr die Rede. Dabei lag die Frage auf der Hand. Eine Schweizerin, die damals als 14-Jährige mit ihrer Familie in Hongkong lebte, sagt: «Ich erinnere mich, dass sich die Leute gewundert haben, warum Herr und Frau Ernst ausgerechnet an dem Tag nach Kowloon gefahren sind.»

Die Polizei­kräfte waren überfordert

Was sich am frühen Nachmittag an jenem Donnerstag vor Ort abgespielt hat, wurde während des Prozesses Anfang 1957 breit ausgerollt. Nur zehn Minuten vor dem Überfall hatte das Schweizer Ehepaar nach seiner kurzen Fahrt auf der Fähre, die die Insel Hongkong mit Kowloon verbindet, an der Anlege­stelle der Star Ferry das besagte Taxi von Li Chun genommen. Die Fahrt nahm dann weniger als fünf Kilometer davon entfernt um 13.20 Uhr ihr brutales Ende.

Während des Prozesses sagten Augen­zeugen aus, dass ein Mann am Tatort gerufen haben soll: «Hier kommt das Auto mit Europäern.» Nur eine Stunde zuvor hatten die Hong­konger Behörden eine Proklamation erlassen, in der die Einwohner Sham Shui Pos «im eigenen Interesse und dem der für Ruhe und Ordnung sorgenden Sicherheits­kräfte streng davor gewarnt werden, an diesem Tag ihre Häuser zu verlassen».

Bereits am Vortag, also am Mittwoch, dem 10. Oktober, waren in Sham Shui Po zunehmend gewaltsam verlaufende Proteste ausgebrochen. An jenem Tag hatten die chinesischen Nationalisten den Jahrestag der Rebellion gegen das Kaiser­haus und die Ausrufung der Republik von 1912 gefeiert. Dies, nachdem die Nationalisten 1949 nach Jahren des Bürgerkriegs der KPCh unterlegen waren.

Bis zum späten Morgen des 11. Oktober wurde zunächst über den Rundfunk verbreitet, dass sich die Lage beruhigt habe. Um 12.30 Uhr wurden dann allerdings zur Unterstützung der völlig überforderten Polizei drei Armee­brigaden aufgeboten. In der Proklamation hiess es: «Um Recht und Ordnung aufrecht­zuerhalten, werden Truppen nach Kowloon verlegt.» Hatte das Ehepaar Ernst ganz einfach die Sicherheits­lage falsch eingeschätzt?

«Die Regierung der Kronkolonie hat am Donnerstag Panzer und Düsen­flugzeuge eingesetzt, um des seit zwei Tagen andauernden Aufstands in der Kolonie Herr zu werden», war in der Freitags­ausgabe der damals in Basel erscheinenden «National Zeitung» zu lesen.

Der 10. Oktober (double ten) ist bis heute der National­feiertag der 1912 gegründeten Republik China, wie das seit dem Ende des Bürger­krieges de facto von der Volks­republik unabhängige Taiwan bis heute offiziell heisst. Die britische Kolonial­verwaltung bewilligte die von Märschen, Reden und Fest­essen begleitete Feier, ebenso wie sie am 1. Oktober die Feierlich­keiten des Jahres­tages der Gründung der von den Kommunisten beherrschten Volks­republik China zugelassen hatte. Dies allerdings mit der Auflage, dass an öffentlichen Gebäuden keine Fahnen oder Transparente der im Bürgerkrieg besiegten Nationalisten angebracht werden durften. Doch am 10. Oktober hingen solche Flaggen dann eben doch.

Und als ein Beamter am frühen Vormittag deren Entfernung anordnete, brach in Sham Shui Po buchstäblich die Hölle los.

Zum Autor

Ernst Herb ist freier Journalist und war von 2003 bis 2020 Fernost­korrespondent der Wirtschaftszeitung «Finanz und Wirtschaft». Zuvor war er Nahost­korrespondent mit Sitz in Kairo.

Zur weiterführenden Literatur

Priscilla Roberts und John M. Carroll (Hg.): «Hong Kong in the Cold War». Hong Kong University Press, 2016. 268 Seiten.

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