Aus der Redaktion

Wer im Rothaus sitzt

Wer kritischen Journalismus macht, sollte auch kritisch nach innen recherchieren. Wie steht es um das Geschlechter­verhältnis in der Republik? Die vierte Jahresbilanz.

Von Pascal Müller, Patrick Venetz (Text) und Nadine Redlich (Illustration), 15.06.2022

Synthetische Stimme
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Wissen Sie noch, wo Sie am 14. Juni 2019 waren? Wenn Sie eine Frau sind, vielleicht schon. Hunderttausende von Frauen versammelten sich an diesem Tag. Sie sangen, pfiffen und forderten lautstark gleiche Löhne für gleiche Arbeit, Bekämpfung von Sexismus und sexueller Gewalt. Und die Republik zählte – anlässlich des Frauenstreiks – zum ersten Mal, wie viele ihrer Beiträge von Frauen verfasst wurden.

Unser erstes Fazit 2019 war ziemlich ernüchternd. Das Ziel, dass Frauen und Männer zu gleichen Teilen in der Republik publizieren, hatten wir verfehlt. Seither werteten wir intern Monat für Monat die Autorinnen­zeile aus. Und tun das bis heute.

Wer steht in der Autorinnenzeile?

Anteil Beiträge von Männern, Frauen und gemischten Teams

01.06.2021–31.05.202229 % nur weiblich31 % gemischt40 % nur männlich01.06.2020–31.05.202127 % 29 % 44 % 01.06.2019–31.05.202028 % 24 % 48 % 01.01.2018–31.05.201925 % 13 % 62 %

Basierend auf 3980 Beiträgen, bei denen eine oder mehrere Personen in der Autorenzeile einem binären Geschlecht zugeordnet werden können.

Wir analysieren die Autorinnenzeile, weil sie uns vor Augen führt, welche Menschen in der Republik eine Stimme erhalten. Die Grafik zeigt den Anteil von Beiträgen, die von Frauen, Männern oder gemischten Teams verfasst wurden. Demnach ist der Anteil von Frauen seit Juni letzten Jahres um 2 Prozent­punkte gestiegen, der von Männern ist um 4 Prozent­punkte gesunken.

Insgesamt sind wir unterdessen also sehr nahe an unser erklärtes Ziel gerückt, dass es im Geschlechter­verhältnis nicht mehr als 10 Prozent Differenz geben darf: In der letzten Periode betrug der Unterschied 11 Prozent. Im ersten Publikationsjahr lag er noch bei 39 Prozent

Diese Entwicklung begrüssen wir. Und dennoch ist der Anteil weiblicher und männlicher Autorinnen noch immer unausgewogen. Diese Unausgewogenheit besteht nicht nur in der Autorenzeile – sie zeigt sich auch in der Verlegerschaft und im Dialog.

Doch bevor wir genauer darauf zu sprechen kommen, eine Rückblende auf die letzten drei Jahre, eine Art «Was bisher geschah».

Am Scheideweg

Während also am 14. Juni 2019 vormittags um 11 Uhr landesweit Frauen ihre Arbeit niederlegten und Gleichstellung forderten, veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» im gleichen Zeitraum eine Artikel­serie unter dem Hashtag #MediaToo: Journalistinnen berichteten von Diskriminierung am Arbeitsplatz und sexueller Belästigung. Es war nicht zuletzt dieser Skandal, der uns bei der Republik aufhorchen liess. Und den wir zum Anlass nahmen, die eigene Redaktion auf offene und verborgene Ungleichheiten zu durchleuchten.

Nach der ersten Analyse 2019 legten wir ein Jahr später, im Juni 2020, erneut Rechenschaft ab. Wir vermeldeten, dass wir den Anteil der Beiträge, die von Frauen verfasst wurden, steigern konnten. Aber auch, dass der Frauen­anteil bei den redaktionellen Stellen­prozenten lediglich 36 Prozent beträgt. 2021 ergründeten wir, weshalb wir unser Ziel nicht konstant erreichten – und welche Unzulänglichkeiten unsere Auswertung hat.

Auf gesellschaftlicher Ebene ist viel passiert seit #MediaToo und dem Sommer des Frauen­streiks.

Rund ein halbes Jahr später tauchte ein Virus auf, und die Pandemie dominierte die öffentliche Aufmerksamkeit. Und während man durchaus argumentieren könnte, die Pandemie habe gezeigt, dass eine rasche und zuvor undenkbare Veränderung möglich ist – so blieb die Krise doch letztlich an den Frauen hängen.

Heute, gute zwei Jahre nach Beginn der Pandemie, drei Jahre nach dem fulminanten Frauen­streik und knapp fünf Jahre nach #MeToo, stehen wir als Gesellschaft am Scheideweg.

Einerseits führte die Anklage gegen einen einflussreichen männlichen Film­produzenten, dem zig Schauspielerinnen sexuelle Belästigungen und Vergewaltigung vorwarfen, dazu, dass Gerichte und Gesellschaft seit #MeToo nicht mehr per se dem mächtigen Mann Glauben schenkten. Es schien plausibel, dass all diese Frauen die Übergriffe nicht erfunden hatten. Doch andererseits stellt der Gerichts­fall Johnny Depp gegen Amber Heard diese scheinbare Gewissheit wieder infrage. Er verdeutlicht, wie die #MeToo-Bewegung und damit viele feministische Errungenschaften der letzten Jahre heftigem Gegenwind ausgesetzt sind.

Hart erkämpfte Fortschritte können nur allzu leicht verblassen und geräuschlos in tausend Jahre lang ausgewaschene patriarchale Bahnen zurück­gleiten.

Nachdem wir uns vor einem Jahr gefragt hatten, was die monatliche Auswertung der Autorinnen­zeile eigentlich bewirkt, kamen wir zum Schluss: Sie sensibilisiert jeden Monat aufs Neue für die Geschlechter­balance. Und wir hielten fest, dass dies eigentlich eine «gefährliche Nachricht» ist – wir könnten versucht sein, uns zurück­zulehnen.

Das wollen wir nicht.

Grosse Anstrengungen, kleine Früchte

In diesem Jahr stellten wir unter anderem fest, dass die Zahl gemischter Teams im Laufe der Jahre angestiegen ist. Typische Beiträge von Teams mit unter­schiedlicher Zusammen­setzung sind die Briefings. Sie entstehen durch Beteiligung mehrerer Journalistinnen unter­schiedlichen Geschlechts. Ebenfalls als Beitrag eines gemischten Teams gezählt wird die Reportage eines Mannes, wenn eine Fotografin diese bebildert.

Beispiel, wie alle Namen einer Autorenzeile nach Geschlecht klassifiziert werden.

Das führt uns zu einer Überlegung: Bisher gingen wir davon aus, dass uns Fotografinnen und Illustratorinnen bei der Geschlechter­balance helfen. Das war aber nur ein Gefühl. Wirklich ausgewertet haben wir das nie. Deshalb nahmen wir in diesem Jahr die Autoren­zeile auseinander und analysierten nicht nur die Namen darin, sondern auch, was sie zu einem Stück beigetragen haben: Text, Übersetzung, Bild, Illustration usw.

Wir wollten ganz konkret wissen, wie die Geschlechter­balance aussieht, wenn wir nur die Schreibenden in der Autorinnen­zeile auswerten.

Beispiel, bei dem nur «Schreibende» in der Autorenzeile klassifiziert werden.

Mit diesem «Filter» werteten wir die Autorenzeile also noch einmal aus. Und siehe da: Der Anteil gemischter Teams wird kleiner, die Balken verschieben sich zugunsten beider Geschlechter.

Wer schreibt laut Autorenzeile?

Anteil Beiträge von Männern, Frauen und gemischten Teams, wobei nur Schreibende berücksichtigt werden

01.06.2021–31.05.202236 % nur weiblich17 % gemischt47 % nur männlich01.06.2020–31.05.202135 % 17 % 48 % 01.06.2019–31.05.202031 % 16 % 53 % 01.01.2018–31.05.201932 % 7 % 61 %

Basierend auf 3844 Beiträgen, bei denen eine oder mehrere Personen in der Autorenzeile als Schreibende («Text») und einem binären Geschlecht zugeordnet werden können.

Verglichen mit der ersten Auswertung haben Beiträge, die nur von Frauen stammen, nicht nur einen grösseren Anteil – der Anteil nimmt über die Zeit stetig zu. Tatsächlich scheinen gemischte Teams in der ersten Auswertung diese Entwicklung kaschiert zu haben.

Der steigende Anteil von Beiträgen, die nur von Frauen verfasst wurden, ist erfreulich. Ausserdem liegt hier die Differenz des Geschlechter­verhältnisses bei 11 Prozent und ist damit nahe an der Zielmarke von 10 Prozent. Das zeigt uns, dass die täglichen Anstrengungen der Blattmacher und Redaktorinnen, ein möglichst diverses Magazin zu produzieren, Früchte tragen.

Dafür kommen wir bei einer anderen wichtigen Zielgrösse nicht vom Fleck.

Seit dem Start der Republik besetzen Frauen rund 40 Prozent der Stellen­prozente. (Mit ein, zwei Prozent­punkten Unter­schied ist das auch der Fall, wenn wir uns nur redaktionelle Stellen­prozente anschauen.)

Das änderte sich über die Jahre kaum.

Stagnierendes Verhältnis bei den Stellenprozenten

Alle Stellenprozente, aufgeteilt nach Frauen und Männern zu einem Stichtag

per 31.05.202239 % Frauen61 % Männerper 31.05.202140 % 60 % per 31.05.202041 % 59 % per 31.05.201941 % 59 %

Basierend auf Festangestellten. Ende Mai 2022 bestand die fest angestellte Crew aus 19 Frauen und 27 Männern, wobei Frauen im Durchschnitt zu 73 Stellenprozent angestellt sind, Männer zu 80 Stellenprozent.

Apropos Männerüberhang: Die Veranstalter des Musik­festivals «Moon & Stars» in Locarno präsentierten jüngst ein Programm, in dem keine einzige Künstlerin zu finden war. Keine einzige.

Als Begründung, warum auf der Piazza Grande nur Männer auftreten, schrieben die Verantwortlichen auf Instagram: «Die gesamte Event- und Musikbranche wurde aufgrund von Corona mit verschiedenen Heraus­forderungen konfrontiert, welche sich auch auf unser diesjähriges Programm ausgewirkt haben.»

Vielleicht eine Ausrede, sicher aber ein Ausdruck dafür, wie die Geschlechter­balance kippen kann, wenn sie nicht konstant und nachhaltig thematisiert wird.

Die Teppich­etage der Republik

Ohne die Verlegerschaft gäbe es keine Republik. Sie ermöglicht, dass wir selbsttragend sind. Sie ist vielleicht der wichtigste der Pfeiler, auf denen unser Magazin steht.

Mit Blick auf die Geschlechter­balance in der Teppich­etage stellen wir fest, dass über die Jahre der Anteil an weiblichen Verlegerinnen gestiegen ist. Nicht in grossen Sprüngen, aber stetig.

Immer mehr Frauen unter den Verlegerinnen

Anteil der Verlegerinnen, aufgeteilt nach weiblichem und männlichem Vornamen zu einem Stichtag

per 31.05.202242 % weiblicher Vorname58 % männlicher Vornameper 31.05.202141 % 59 % per 31.05.202039 % 61 % per 31.05.201935 % 65 % per 31.05.201834 % 66 %

Basierend auf hinterlegten Namen in Nutzerkonten. Ob der Vorname weiblich oder männlich ist, lässt sich im Schnitt bei 85 Prozent der Nutzerkonten mit Mitgliedschaft oder Abonnement zum Stichtag bestimmen.

Waren es zum (ersten) Stichtag im Mai 2018 gerade mal 34 Prozent, wuchs der Anteil der Verlegerinnen während vier Jahren auf 42 Prozent im Mai 2022.

Das steht in krassem Kontrast zu einem weiteren Herzstück der Republik: dem Dialog. Frauen­stimmen machen hier nur knapp ein Viertel aus.

Dialogbeiträge

Beiträge im Dialog, aufgeteilt nach weiblichen und männlichen Vornamen

weiblicher Vorname
männlicher Vorname
01.06.2021–31.05.202226 % 74 % 01.06.2020–31.05.202126 % 74 % 01.06.2019–31.05.202028 % 72 % 01.01.2018–31.05.201921 % 79 %

Basierend auf 116’551 Dialogbeiträgen, bei denen sich die Vornamen der Verfasserinnen dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zuordnen lassen. Das ist bei 87 Prozent der Dialogbeiträge möglich.

So sehr uns der steigende Anteil an Verlegerinnen freut, so sehr macht uns stutzig, dass mit 74 Prozent der Grossteil der Debatten­beiträge von Männern stammt. Etwas, das sich über die Jahre so gut wie nicht verändert hat.

Woran liegt «das»?

Vor gut einem Jahr haben wir gefragt: «Wie erleben Sie das Ungleich­gewicht von Männer- und Frauen­stimmen in Ihrem Alltag?», und wir haben Erhellendes und Nieder­schmetterndes gelesen.

Weil wir uns mehr weibliche Perspektiven im Dialog wünschen, möchten wir noch einmal nachhaken. Was hält Sie als Frau davon ab, am Dialog teilzunehmen?

Hier gehts zur Debatte.

Über die Daten

Die Auswertung kategorisiert alle erschienenen Beiträge zwischen Januar 2018 und Mai 2022 aufgrund der Autorenzeile nach den binären Geschlechtern «weiblich» und «männlich» sowie den Kategorien «gemischt» oder «nicht bekannt». Beiträge, die als «nicht bekannt» klassifiziert sind, werden von der Auswertung ausgenommen (z. B. Newsletter ohne öffentliche Autorinnen­zeile oder weil unbekannt, mit welchem Geschlecht sich eine Person identifiziert).

Die Vornamen von Mitgliedern, Abonnentinnen und Dialog­teilnehmern werden über den im Konto hinterlegten Vornamen bestimmt und aufgrund der Daten des Bundesamts für Statistik einem binären Geschlecht zugeordnet.

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