Gerät das Stromnetz aus dem Gleichgewicht?

Wasser- und Atomkraftwerke sind stabil genug, um den Strombedarf selbst bei starken Schwankungen abzudecken. Ob das auch mit Sonne und Wind funktioniert, ist unsicher.

Von Arian Bastani (Text) und Alexander Glandien (Illustrationen), 12.02.2021

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Sobald man durch die Eingangstür des Kraftwerks Augst tritt, hört man es: das dumpfe Grollen aus der Tiefe der Anlage. Es bringt das ganze Gebäude zum Zittern und wird heftiger, je näher man zum Herzstück des über hundert­jährigen Werks gelangt: den Turbinen, die sich, angetrieben vom Wasser des Rheins, in atem­beraubender Geschwindigkeit um die eigene Achse drehen.

Solche Turbinen – tonnenschwer, mit meterhohen Schaufeln, aus dickem Stahl – standen am Ursprung, als Elektrizitäts­werke vor über hundert Jahren begannen, Strom industriell zu produzieren. Und sie bilden bis heute das Rückgrat der Versorgung. Hunderte von Turbinen drehen sich allein in der Schweiz rund um die Uhr. Die meisten in Wasser­kraftwerken, einige auch in Kern­kraftwerken, wo sie von heissem Dampf in Rotation gehalten werden.

Die rotierenden Massen speisen Elektrizität ins Netz ein und halten es stabil. Doch mit der Energiewende verschwinden sie immer mehr. So kommt etwa die Fotovoltaik ganz ohne bewegliche Teile aus. Und an Windrädern drehen sich zwar Rotorblätter, doch diese sind nur indirekt mit dem Netz verbunden.

Gewinnen diese neuen Energieformen an Bedeutung, so ist das im Grunde erfreulich: Kohle- und Gaskraftwerke abzuschalten (wo Strom ebenfalls mit Turbinen produziert wird, allerdings auf sehr CO2-intensive Weise), ist für den Klimaschutz unabdingbar – je schneller es geschieht, desto besser.

Trotzdem macht die Aussicht auf eine voll erneuerbare Strom­versorgung «viele Netzbetreiber in Europa nervös», wie Petr Korba sagt, Stromnetz­forscher an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Denn die Tausenden von Turbinen, die quer über den Kontinent verteilt in den heutigen Kraftwerken laufen, haben einen wesentlichen Vorteil: Sie halten die Versorgung auch in kritischen Situationen sprichwörtlich in Schwung.

Bei der Solar- und Windkraft ist dies nicht der Fall.

Grosse Räder drehen kleine Räder

Um zu verstehen, warum das ein Problem sein kann, blenden wir zurück zum Ende des 19. Jahrhunderts. Damals gingen in Europa erste Strom­leitungen in Betrieb. Aufsehen erregte die «Internationale Elektrotechnische Ausstellung» in Frankfurt am Main: 1891 wurde dort Strom zu Demonstrationszwecken über 175 Kilometer von einem Wasserkraftwerk in Lauffen am Neckar an den Ausstellungs­standort übertragen. Daran beteiligt war mit der Maschinenfabrik Oerlikon übrigens auch ein Schweizer Unternehmen.

Dem Publikum in seinen weiten Roben und edlen Fracks wurde damals vor Augen geführt, was ein Stromnetz ist: ein Mittel, um Energie von einem Ort an den anderen zu transportieren. Die Energie stammt zum Beispiel von einem Fluss: Dieser treibt zunächst ein grosses Wasserrad an – eine Turbine. Sie ist mit einem Generator verbunden, einer Maschine mit Draht­spulen und Magneten, die die Bewegungs­energie in elektrischen Strom umwandelt. Über eine Leitung gelangt der Strom zu den Verbrauchern, die damit ihre eigenen Räder antreiben – etwa die Motoren eines Gebäudelifts oder eines Mixers.

Eine Erfindung, die solche Energie­übertragungen möglich machte, war der Wechselstrom. Nikola Tesla, ein serbischer Elektro­ingenieur, erkannte, dass sich Strom dieses Typs effizient über weite Distanzen transportieren liess. Anders als beim Gleichstrom, der von Teslas amerikanischem Konkurrenten Thomas Edison propagiert wurde, ändert der Strom dabei immer wieder die Richtung: Die Elektronen fliessen in den Metall­drähten hin und zurück.

Ich will es genauer wissen: Wie funktioniert das Stromnetz?

Elektrischer Strom entsteht, wenn Elektronen – Elementarteilchen mit negativer Ladung – durch einen Metalldraht fliessen. Um eine Birne zum Glühen zu bringen, muss ein Elektron aber nicht den ganzen Weg vom Kraftwerk bis ins Wohnzimmer zurücklegen: Die Bewegung eines Elektrons ganz zu Beginn der Netzleitung genügt, um augenblicklich alle restlichen Elektronen nach vorne zu drücken. In welche Richtung sich die Elektronen bewegen, ist dabei für die Glühbirne egal.

Die Kraft, die die Elektronen bewegt, heisst Spannung. Um bei der Übertragung über weite Distanzen Reibungsverluste zu vermeiden, wird die Spannung mithilfe von sogenannten Transformatoren erhöht. Für den Verbrauch wird die Spannung ebenfalls über einen Transformator wieder reduziert – damit uns im Haushalt nicht alles um die Ohren fliegt. Ende des vorletzten Jahrhunderts waren solche Spannungs­veränderungen nur mit Wechselstrom möglich (der ständig die Richtung ändert), nicht aber mit Gleichstrom (der kontinuierlich in eine Richtung fliesst). Daher basieren heutige Stromnetze rund um die Welt auf Wechselstrom.

Schon in den Pioniertagen bestand also eine Verbindung: von den Turbinen, die durchs vorbeifliessende Wasser angetrieben werden, zum Strom, der am anderen Ende aus der Steckdose kommt. An diesem Prinzip hat sich bis heute wenig verändert: Wann immer zu Hause der Haarföhn eingeschaltet wird, braucht es irgendwo eine Turbine, die über einen Generator den nötigen Strom ins Netz einspeist. Und wann immer ein Elektrizitäts­kraftwerk hochgefahren wird, braucht es gleichzeitig Leute, die sich die Haare föhnen.

Denn Produktion und Verbrauch müssen sich stets die Waage halten, nur so funktionieren die Kraftwerke und Endgeräte einwandfrei. Andernfalls kommt es zu Überlastungen, Notabschaltungen, Stromausfällen.

Jederzeit im Gleichgewicht

Deshalb braucht jedes Stromnetz nebst einer lückenlosen Verbindung also auch ein gutes Management. Zu Beginn war dies eine relativ simple Aufgabe. Das Stromnetz im heutigen Sinne existierte noch nicht, sondern es gab viele kleine Verbünde. Leitungen wurden zwischen wenigen Kraftwerken und Industriekunden gebaut.

Auch im Kraftwerk Augst war das so, wie der technische Geschäftsleiter Michael Krarup erklärt: «Nach der Fertigstellung im Jahr 1912 wurden nach und nach Fabriken in der Region errichtet, zum Beispiel Giessereien.» Die Fabriken hatten einen klar definierten Zeitplan. Tagsüber war ziemlich konstanter Betrieb, abends wurden die Maschinen meist abgestellt. «Das machte es für die Kraftwerke relativ einfach, den Bedarf vorherzusehen und eine entsprechende Strommenge zu erzeugen», sagt Krarup.

Nach den Weltkriegen wurde Strom allmählich zum Massengut. Immer mehr Privat­haushalte wurden ans Netz angeschlossen. Dieses wuchs rasant an – und mit ihm wuchsen auch die Kraftwerke, die es mit Energie belieferten.

Immer stärkere Turbinen

Leistung der grössten Kraftwerke zur jeweiligen Zeit

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Quelle: ETH

Die zunehmende Stromproduktion machte es möglich, Wohnzimmer zu beleuchten, auf den damals modernen elektrischen Herdplatten zu kochen und Nahrungs­mittel in Kühl­schränken zu lagern. Mit der rasanten Expansion wurde der Bedarf allerdings auch weniger vorhersehbar. Um sich gegenseitig bei der Einhaltung des Netz­gleichgewichts zu unterstützen, schlossen sich darum immer mehr regionale Netze zusammen. Erst bildeten sich nationale und ab Ende der 1950er-Jahre schliesslich internationale Verbundnetze.

Heute kommen neue Herausforderungen hinzu. Zunehmendes Homeoffice macht es beispielsweise schwieriger, Ort und Zeit des Stromverbrauchs zu prognostizieren. Durch den Elektrizitäts­handel werden zunehmende Strommengen über das Netz transportiert. Und der steigende Anteil erneuerbarer Energie­produktion sorgt dafür, dass die Produktion unregelmässiger wird: Grosse Strommengen werden dann erzeugt, wenn gerade die Sonne scheint und der Wind weht. Neben Kraftwerks- oder Sicherungs- und Leitungsausfällen – wie zuletzt Anfang Januar in Osteuropa – kann all dies zu Ungleichgewichten im Netz beitragen.

Netzbetreibern macht dies zu schaffen. Ein Blick auf die Schweiz zeigt: Die Netzeingriffe nehmen zu. 2011 musste der hiesige Betreiber Swissgrid nur zweimal eingreifen, um das Netz­gleichgewicht zu erhalten. 2018 waren es bereits 382 Eingriffe. Bei solchen Eingriffen weist Swissgrid beispielsweise lokale Kraftwerke an, ihre Leistung zu erhöhen.

Das Netz wird instabiler

Jährliche Eingriffe ins Netzgleichgewicht

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Quelle: Swissgrid

Ich will es genauer wissen: Was passiert bei einem Netzeingriff?

Ungleichgewichten wird mit einem dreistufigen Prozess aktiv entgegengewirkt.

Innerhalb von einigen Sekunden wird zuerst die sogenannte Primär­regelenergie aktiv: Verlangsamt oder beschleunigt die Turbine eines Kraftwerks aufgrund eines Netz­ungleichgewichts, wird das lokal registriert. Ein Regler, der die Dampfzufuhr zur Turbine kontrolliert, öffnet oder schliesst entsprechende Klappen. Die Leistung des Kraftwerks wird damit angepasst und dem Netzungleichgewicht entgegengewirkt. Dies geschieht lokal, ohne Zutun der Netzbetreiber.

Nach einigen Minuten löst die Sekundär­regelung die Primär­regelung ab. Dabei passen, je nachdem, wo das Ungleichgewicht auftritt, lokale Kraftwerke aufgrund eines automatischen Signals der Netzbetreiber ihre Leistung an.

Rund eine Viertelstunde nach Detektion des Ungleichgewichts setzen die Netzbetreiber schliesslich manuell die Tertiär­regelenergie ein. Dabei fordern sie einzelne Kraftwerke im In- oder Ausland auf, ihre Leistung anzupassen.

Aber noch bevor ein Netzbetreiber wie Swissgrid etwas unternehmen kann – unmittelbar nachdem ein Ungleichgewicht im Netz auftritt –, kommt ein stabilisierender Effekt zum Tragen. Dieser hängt mit den Turbinen zusammen, die an Orten wie dem Fluss­kraftwerk Augst in permanenter Bewegung sind.

Spinning-Räder im Takt

Dessen Turbinen sind nämlich so etwas wie eine Energiereserve.

  • Wird weniger Strom verbraucht als erzeugt, «staut» sich die Energie im Netz. In diesem Fall nimmt die Turbine Energie auf, dreht schneller.

  • Wird mehr Strom verbraucht als erzeugt, wird das Netz sozusagen leer gesaugt. In diesem Fall gibt die Turbine Energie ab, verlangsamt.

Vorstellen kann man sich das wie bei einem Spinning-Bike im Fitnessstudio: Anfangs, wenn man noch frisch ist, tritt man kräftig in die Pedale, und das Schwungrad beschleunigt. Ermüdet man und braucht eine kurze Pause, dreht sich das Schwungrad durch die in der Bewegung gespeicherte Energie weiter. Die rotierende Masse hilft, die Spinning-Geschwindigkeit stabil zu halten.

Im Stromnetz hilft die rotierende Masse aller Turbinen so, das Gleichgewicht aus Erzeugung und Verbrauch stabil zu halten. Die Turbinen einzelner Wasser-, Atom- oder Kohle­kraftwerke sind dabei nicht auf sich allein gestellt: «Über das Netz sind alle Turbinen aneinander­gehängt», erklärt Florian Dörfler, der an der ETH Zürich zu Regelungs­technik forscht, «ähnlich wie eine Gruppe von Spinning-Rädern, die über Riemen verbunden sind.»

Die rotierenden Turbinen ziehen sich gegenseitig also buchstäblich mit.

Ich will es genauer wissen: Wie zieht eine Turbine eine andere mit?

Ein Stromnetz verbindet nicht nur Produzenten und Verbraucher, sondern auch die Produzenten untereinander. Das heisst: Durch die Spulen eines Generators in einem Kraftwerk fliesst zu jedem Zeitpunkt auch der Strom, den die restlichen Kraftwerke im Netz erzeugen. Dort erzeugt der Strom ein rotierendes Magnetfeld. Fällt ein Kraftwerk aus, so wird der Generator gewissermassen zum Motor: Das Magnetfeld sorgt zusätzlich zur eigenen Trägheit dafür, dass die Turbine in Bewegung bleibt. Das geht so lange, bis die Störung im Kraftwerk behoben ist und der Generator wieder ausreichend durch die eigene Turbine angetrieben wird.

Das geschieht quer durch ganz Europa: Von Portugal bis Griechenland sind Kraftwerke übers Netz miteinander verbunden. Jeden Augenblick sind unheimlich viele Turbinen in Schwung. Sie rotieren synchron und geben zusammen die Netzfrequenz von 50 Hertz vor – den Strompuls Europas.

Bei Strommangel wandeln sie Bewegungs­energie in Strom um und verlangsamen dadurch leicht. Bei Strom­überschuss nehmen sie die elektrische Energie aus dem Netz auf und beschleunigen. Dabei verändert sich jeweils die Netzfrequenz ein kleines bisschen: Sie fällt leicht unter oder steigt leicht über 50 Hertz (die Netzfrequenz ist deshalb auch ein wichtiger Indikator: Sie zeigt an, in welchem Zustand das Stromnetz gerade ist).

In Augst ist dieser Effekt sogar akustisch wahrnehmbar. «Wenn die Turbinen ihre Geschwindigkeit ändern, hört man das», sagt Geschäftsleiter Krarup. «Beim Verlangsamen klingt es so, als würden sie regelrecht in die Knie gehen.»

Dieses In-die-Knie-Gehen ist wichtig, um etwa Strom­ausfälle zu verhindern. Denn es verleiht dem Netz eine gewisse Trägheit, die abrupte Ungleichgewichte abfedert. «Das Stromnetz wurde auf diesem Prinzip konzipiert», betont Florian Dörfler. «Es funktioniert auch heute noch so.»

Doch was passiert, wenn es in Zukunft weniger rotierende Massen gibt?

Die Frage, die niemand beantworten kann

Einen Vorgeschmack darauf gab die Corona-Pandemie. Als Europa in den Shutdown ging, sank der Strombedarf deutlich. Und plötzlich bekamen die erneuerbaren Energien einen höheren Stellenwert:

  • Und in Dänemark, dem Champion der Windenergie, erzeugten Windanlagen zeitweise über eineinhalbmal so viel Strom, wie im Land verbraucht wurde.

Wäre eine solche Konstellation auch auf die Dauer tragbar? Ist ein Netz aus Wind- und Solaranlagen genug robust, um starke Schwankungen aufzufangen, die im Stromnetz immer wieder auftauchen können?

Erstaunlicherweise wird diese Frage bisher kaum thematisiert.

Studiert man die wissenschaftliche Literatur, so fällt auf: Der Netzstabilität wird nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Stattdessen dominieren Analysen zur Energiebilanz. Dabei geht es darum, ob generell genug erneuerbare Energie erzeugt werden kann. «Doch diese Studien untersuchen nicht, ob in solchen Systemen auch die plötzlichen, in Sekunden­bruchteilen auftretenden Ungleichgewichte behoben werden können», sagt Mario Paolone, der an der EPFL in Lausanne übers Stromnetz forscht.

Solche Untersuchungen seien zurzeit gar nicht möglich. Denn dazu müssten Computer die Netze sehr detailliert modellieren, so Paolone. «Die enorme Komplexität dieser Modelle bringt heutige Rechner an den Anschlag.»

Mit anderen Worten: Die Wissenschaft kann zum heutigen Zeitpunkt nicht seriös bejahen, dass ein Stromnetz mit sehr hohen Anteilen von Wind- und Solarenergie verlässlich funktioniert. Das bestätigt auch Petr Korba von der ZHAW: «Ob eine stabile Versorgung gross­mehrheitlich durch Wind- und Sonnenstrom gewährleistet werden kann, ist bisher noch unklar.»

Versuche mit kleineren Modellnetzen zeigen jedoch: Es könnte schwieriger sein als gedacht. Oder, wie es etwas umständlich formuliert in einer Studie zum südaustralischen Netz heisst: «Im Vergleich zu einem traditionellen Stromsystem steigt das Risiko eines Ausfalls in einem Netz mit hohem Anteil erneuerbarer Energien wegen einer geringeren System­trägheit erheblich an.»

Ähnliches hat sich auch in Laborexperimenten gezeigt, die Petr Korba mit einem Miniatur­stromnetz durchgeführt hat: «Ohne Trägheit konnten wir das Versuchsnetz gar nicht erst zum Laufen bringen», berichtet er.

Rotierende Massen sind für die Systemstabilität also zentral. Doch die Behörden realisieren dies erst nach und nach. Dies bestätigt Michael Moser, Forschungs­verantwortlicher für Netze beim Bundesamt für Energie. «Erst vor gut vier Jahren wurde uns richtig bewusst, wie wichtig auch Untersuchungen der Netz­trägheit sind. Einige sind damals aus allen Wolken gefallen.»

Blackout in Südaustralien

Aus den Wolken fiel auch Südaustralien. Und zwar am 28. September 2016. Damals zog ein heftiger Sturm über den australischen Bundesstaat. Winde von 120 Stunden­kilometern wehten an jenem Tag, 50’000 Blitze schlugen ein. Kirchendächer wurden weggerissen, Eukalyptus­bäume umgemäht – ein Wetterereignis, wie es statistisch nur alle 50 Jahre vorkommt.

Um 16.18 Uhr ging in Südaustralien das Licht aus. Ein «Black system»-Event war eingetreten – der gesamte Strom war weg. Mit eine Rolle spielten dabei: die fehlenden rotierenden Massen in der lokalen Versorgung.

Südaustralien ist nur über vereinzelte Stromleitungen ans restliche Land gebunden. Und es generiert knapp die Hälfte seiner Elektrizität mit Wind. Als der Sturm einsetzte, fielen etliche Windturbinen innert Minuten aus. So musste kurzfristig viel mehr Strom aus anderen Regionen importiert werden. Doch das wurde für die Leitungen zu viel: Um sie vor Schäden zu bewahren, wurden sie durch automatische Sicherungen vom südaustralischen Netz getrennt. In der Folge sassen 1,7 Millionen Menschen eine Nacht im Dunkeln.

Unter anderen Bedingungen hätte der Bundesstaat den totalen Blackout wohl verhindern können, etwa durch die kontrollierte Abtrennung von gewissen Strom­verbrauchern. Doch dazu hätte es ein wenig Zeit gebraucht. Zeit, die etwa rotierende Kraftwerks­turbinen den Netzbetreibern verschafft hätten, durch die Systemträgheit, die sie erzeugen. Doch da damals Wind- und Sonnenstrom die Hälfte des Verbrauchs deckten, fehlte diese Trägheit.

Der südaustralische Blackout von 2016 ist eines der wenigen Beispiele, die den Worst Case der erneuerbaren Strom­versorgung illustrieren – den Fall, in dem Sekunden darüber entscheiden, ob es zu einem weitflächigen Ausfall kommt.

Vernetzung als Schlüssel

In Europa wäre dieses Szenario unwahrscheinlicher. Denn selbst Länder wie Dänemark, in denen phasenweise nur Windstrom aus der Steckdose kommt, sind ausreichend geschützt. Dank ihrer Einbettung ins gesamt­europäische Netz können sie von der System­trägheit profitieren, die andere Länder gewährleisten. Sprich: Wasser­kraftwerke in der Schweiz und Kernkraftwerke in Frankreich helfen mit, die dänische Strom­versorgung zu stabilisieren.

So hat sich während des Shutdowns im vergangenen Frühjahr gezeigt, dass auch Netze mit sehr hohem Anteil von Wind- und Solarstrom funktionieren können – zumindest regional. Denn mit Ausnahme der britischen Inseln, Skandinaviens und des Baltikums ist fast ganz Europa miteinander vernetzt.

Am selben Puls

Synchronisierte Stromnetze in Europa

Stromnetze
Kontinentaleuropa
Baltikum
Nordische Länder
Grossbritannien
Irland
Isolierte Systeme

Nordirland gehört, anders als in der politischen Darstellung hier, zum irischen Netz. Quelle: ENTSO-E

Wie wichtig diese Vernetzung ist, zeigte sich am 9. August 2019 in England. Ein Blitzschlag in der Nähe von Cambridge setzte damals eine Kettenreaktion in Gang: Diverse Verteil­stationen und Produktions­anlagen fielen aus, es kam zu einem rund 40-minütigen Stromausfall. Der Anteil der Windkraft lag zum damaligen Zeitpunkt bei einem Drittel. Mehr Trägheit hätte geholfen. Das britische Netz ist zwar ans kontinental­europäische Netz angebunden, aber nicht synchronisiert – es profitiert nicht von der Trägheit des Festlandnetzes.

Ab welchen Anteilen von Wind- und Solarstrom im kontinental­europäischen Netz Stabilitäts­schwierigkeiten auftreten, kann bisher niemand sagen. Doch Zahlen von Swissgrid legen nahe, dass die Wahrung der Netz­stabilität auch in der Schweiz zu einer immer grösseren Heraus­forderung wird. Netzbetreiber mehrerer Länder und Akteure wie das Bundesamt für Energie oder der Schweizerische Nationalfonds haben deshalb Forschungs­projekte ins Leben gerufen. Sie sollen das Thema untersuchen und Lösungen aufzeigen.

Mehrere Ansätze kommen infrage:

1. Generatoren im Leerlaufbetrieb

Die naheliegendste Massnahme gegen das Verschwinden von rotierender Masse ist, einen Teil davon zu behalten – nämlich den Generator. Dieser wird so umfunktioniert, dass er nicht von der Turbine, sondern von Strom aus dem Netz angetrieben wird. Bei Bedarf kann er Energie genauso wie bisher augenblicklich zurückspeisen.

Im süddeutschen Biblis wurde diese Variante von 2012 bis 2018 ausprobiert. Vom dortigen Netzbetreiber wurde damals für 7 Millionen Euro einer der Generatoren des abgeschalteten Kernkraftwerks so umgerüstet, dass er im sogenannten Leerlauf­modus betrieben werden konnte. In diesem Modus lieferte er dem Netz Trägheit – ohne Atom­spaltung im Hintergrund.

Ähnliches wird auch in Schweden in Betracht gezogen. Und der britische Netzbetreiber hat letztes Jahr Verträge im Wert von 400 Millionen Franken mit Firmen abgeschlossen, die solche Dienstleistungen erbringen werden.

Dort, wo Kraftwerken so eine längere Lebensdauer ermöglicht werden kann, bietet sich diese Lösung zumindest übergangsweise an. «Doch langfristig ist das sicher nicht die ökonomischste Option», wendet Florian Dörfler von der ETH Zürich ein.

2. Schnelle Leistungsanpassung

Eine elegantere Lösung ist, die schnelle Reaktions­fähigkeit von Wind- und Solaranlagen auszunutzen. Kraftwerke mit tonnen­schweren Turbinen können ihre Leistung nur langsam verändern: Es dauert einige Sekunden, bis etwa eine Dampfklappe öffnet und die Turbine dadurch beschleunigt.

Windturbinen und Solarpanels sind schneller. Da sie nicht mechanisch ans Netz gebunden sind, können sie ihre Leistung bei Bedarf sehr rasch herab- oder hinauffahren (sofern sie an einen Energiespeicher, wie etwa eine Batterie, angehängt sind). Die elektronische Steuerung dieser Anlagen kann also helfen, das Netz im Gleichgewicht zu halten. In Irland, wo entlang der rauen Küste viele Windparks stehen, wird das bereits erfolgreich praktiziert.

Zusätzlich dazu dürfte in Zukunft auch der Verbrauch in den Haushalten vermehrt elektronisch gesteuert werden – über sogenannte Smartgrids. Damit hätten Netzbetreiber einen zusätzlichen Ausgleichshebel.

Doch so schnell die Elektronik auch ist – durch die Kontrollschlaufen der Regelung ist eine gewisse Verzögerung unausweichlich. Ausserdem ist sie auf eine bestimmte Grund­stabilität angewiesen. Denn ihren Strom speisen die Anlagen gemäss der vorliegenden Netzfrequenz ein: Sie messen den «Puls» und kopieren ihn. Oder, wie man im Fachjargon sagt: Sie sind «netzfolgend».

In diesem Modus dürften Batterien, Windturbinen und Solarpanels die rotierende Masse gewöhnlicher Kraftwerke nicht ganz ersetzen können.

3. «Netzbildende» Elektronik

Sollen Stromnetze ohne rotierende Massen auskommen, wird zumindest ein Teil der Wind­anlagen und Sonnen­kollektoren künftig daher eine besondere Rolle übernehmen müssen: jene der Netzbildung. Sie kopieren dann nicht mehr den Puls des Netzes, sondern erzeugen mithilfe eines Energie­speichers ihren eigenen Puls. Das ist so, als würden die Wind- und Solaranlagen einen Herz­schrittmacher erhalten: Bei Ungleich­gewichten könnten sie ihre Stromfrequenz anpassen und so Gegensteuer geben.

Erste Simulationen mit relativ kleinen Netzen wie jenem in Irland sind in dieser Hinsicht vielversprechend verlaufen. Auch reale Anwendungsbeispiele in kleinem Rahmen, etwa in Australien, existieren. Doch ob und wie dies auch in grossen Netzen funktionieren würde, ist nicht abschliessend geklärt. Offen bleibt laut Florian Dörfler etwa, «wie sich diese Geräte auf eine vergleichbare Weise wie die Kraftwerks­turbinen synchronisieren liessen».

Gute Ansätze gibt es also einige, wie Dörfler bestätigt. «Doch eine fertige Lösung gibt es für dieses Problem bisher nicht», so der Forscher.

Wind, Sonne – und Wasser

Die Energiewende ist in vollem Gang: Länder wie Dänemark decken ihren Strombedarf zeitweise vollständig durch Wind- und Solarenergie. Andere Staaten sind auf gutem Weg zu einer erneuerbaren Stromversorgung. Dass bei diesem grundlegenden Umbau auch Fragen auftauchen, ist verständlich.

Dem Ausbau erneuerbarer Energien deshalb einen Riegel zu schieben, wäre aber falsch. Gerade im europäischen Netz ist noch sehr viel Schwungmasse vorhanden. Und: Wahrscheinlich lässt sich selbst mit heutigen Technologien ein Stromnetz betreiben, das zu zwei Dritteln aus Sonnen- und Windenergie gespiesen wird. Die Grenze wird sicher nicht in den nächsten Jahren erreicht.

Doch langfristig werden wir uns etwas einfallen lassen müssen, wenn wir uns ausschliesslich mit erneuerbarem Strom versorgen wollen. Das trifft insbesondere auf Regionen zu, die nicht viel Wasserkraft nutzen können.

Tritt man aus dem Kraftwerks­gebäude in Augst wieder ins Freie, so fällt der Blick auf den abfliessenden Rhein. Seit hundert Jahren treibt sein Wasser die Turbinen unermüdlich an. Gut zu wissen, dass dies noch eine Weile so bleibt: Die dumpf grollenden Maschinen werden noch wertvolle Dienste leisten.

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