2-mal Wortwucht

Er wohnte auf einer ehemaligen Nato-Raketenstation, war begnadeter Performer, wird frenetisch verehrt. Sie lebte isoliert in der tiefsten Provinz und schuf ihren ureigenen literarischen Sound. Thomas Kling und Christine Lavant – eine Einladung, die beiden modernen Klassiker (neu) zu entdecken.

Von Daniel Graf, 11.02.2021

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Lustvoller Wörterzerhäcksler und Silbendeformierer: Thomas Kling, der Provokateur (Bild: 1993). Brigitte Friedrich/Süddeutsche Zeitung Photo

Seit kürzlich die Werk­ausgabe von Thomas Kling ausgeliefert wurde, erreicht die Begeisterung für den Dichter und Performance­künstler noch einmal eine neue Stufe. Fünfzehn Jahre nach seinem Tod erscheinen in den Feuilletons hymnische Würdigungen mit hohem Superlativ-Gehalt, in den sozialen Netzwerken gluckst es mancherorts vor Glück.

Knapp 3000 Seiten, vier Bände im Schuber: eine Boom-Box.

Ebenso seit kurzem in einer edel gestalteten Kassette erhältlich: die Werkausgabe von Christine Lavant, ebenfalls 3000 Seiten und vier Bände stark; eine Edition, die, anders als bei Kling, in den vergangenen Jahren sukzessive erschien und nun als Ganzes vorliegt.

Auch Lavant ist längst eine Klassikerin der Nachkriegslyrik.

Und doch ist es gut möglich, dass selbst literarisch Interessierte weder ihren Namen noch den von Thomas Kling je gehört haben. Beide sind, so paradox das tönt, randständig und kanonisiert auf einmal. Marginale Klassiker.

Es sind gerade die voluminösen Editionen im Schuber, die auf solche Ungleichzeitigkeiten aufmerksam machen.

Für alle, die sich dagegen in den vergangenen Jahrzehnten auch nur am Rande mit deutsch­sprachiger Lyrik beschäftigt haben, müssen die Worte «randständig» oder «marginal» aus dem oben stehenden Absatz geradezu grotesk wirken: Hat nicht die lange vergessene Christine Lavant (1915–1973) in den letzten Jahren eine beispiellose Renaissance erfahren? Und der 2005 verstorbene Thomas Kling gilt ohnehin nicht wenigen als der wichtigste deutsch­sprachige Dichter der vergangenen Jahrzehnte. Die meisten Buchkäuferinnen ausserhalb der Lyrik-Community hingegen dürften eher beim Wort «Klassiker» ein dickes Frage­zeichen machen. Thomas wer?

Also vielleicht einfach mal die Labels beiseite­lassen und sich ins (Wieder-)Lesen stürzen?

Es sind scheinbar zwei komplett verschiedene literarische Universen, die nun in neuen, kenntnisreich kommentierten Leseausgaben zu entdecken sind.

Hier die Autodidaktin aus dem tiefsten Kärntner Lavanttal (daher ihr Pseudonym), eine mit Krankheit, bitterer Armut und Aussen­seitertum geschlagene Autorin, der bis heute das Klischee vom weltfremd-katholischen Kräuter­weibchen anhaftet – und die mit ihrer Bild- und Wortfindungs­kraft den eigenwilligsten Stil der Nachkriegs­dichtung schuf. Dort der literarische Berserker mit der klang­rhythmischen Feinsensorik: Rampensau, Nonkonformist, breitbeiniger Polemiker und Vortrags­virtuose, bei dem das Gedicht direkt an den Ladestationen von Geschichte und Gegenwart hängt.

Doch auch wenn die Gleichzeitigkeit der beiden Werkausgaben reiner Zufall ist: Die Konstellation Lavant/Kling hat ihre eigenen Pointen.

Kling-Sound

Man kann literarisch auch nach Bern reisen, um zu besichtigen, was die Eigenart von Thomas Klings Gedichten ausmacht.

Da ist sein Berner Totentanz. Pardon: «berner totntnnz» – schliesslich folgt Klings Rechtschreibung dem ganz eigenen Thomas-Kling-Regelwerk:

(1) gewalktes bern. kein mantel-und-
degnstükk. di messersignaturen. er-
blühende hunzrose (…)

So beginnt das zweiteilige Gedicht, an dem der Autor auch seine eigenen «signaturen» angebracht hat: Alle Merkmale von Klings Stil sind hier wie unterm Brennglas versammelt.

Wie da einer lustvoll die Wörter zerhäckselt und die Silben deformiert. Wie sich Slang und Fach­sprache mischen. Wie sich das Gedicht in die Geschichte gräbt.

der lombardische krieg, lange barten di
da stochern, akkurates geripp.

Wovon ist da die Rede?

Das Gedicht selbst legt die Fährten, hilft uns beim Dechiffrieren, schon im Titel: «berner totntnnz. (niklaus manuel, genannt deutsch)». Und wer sich auf dieses Spiel einlässt, landet auch ohne tiefere Kenntnis der Schweizer Kultur­geschichte im frühen 16. Jahr­hundert: bei dem monumentalen, fast 100 Meter breiten Totentanz-Gemälde, das der Künstler und Söldner Niklaus Manuel Deutsch zwischen 1516 und 1519 samt eigener Begleit­verse auf den Berner Kloster­mauern schuf – und das im Jahr 1660 bei städtebaulichen Massnahmen vollständig zerstört wurde.

So besteht dann der vollständige zweite Teil von Klings Gedicht aus einem einzigen Wort plus Fussnote:

(2) abgerissn.*

* (1660)

Das ist ebenfalls typisch Kling: «nie um die zündende Pointe verlegen», wie sein Heraus­geber und Schriftsteller­kollege Marcel Beyer schreibt. Auch wenn die Pointen fast immer ins historisch Abgründige zielen.

Kling hat seine Dichtung in grösst­möglicher Weise auf den mündlichen Vortrag hin angelegt. Aus seinen energie­geladenen Performances ist früh ein Hype und bald ein Mythos geworden: «Sprach-Installationen», bei denen Kling mit feinen Abstufungen die Stimme modulierte (wie sich in dieser Aufnahme zumindest ansatzweise nachempfinden lässt).

Kling pflegte seine Macken und Schrulligkeiten ebenso wie den auftrumpfenden Macker-Habitus. Er liebte die Rolle als Punk und Provokateur und war zugleich treues Mitglied im Deutschen Alpenverein. So ist er, auch mithilfe offensivster Selbst­inszenierung, zum vorerst letzten deutschen Dichter geworden, um den ein regelrechter Kult entstanden ist. Seine Wohnung auf der ehemaligen Nato-Raketenstation Hombroich bei Neuss, wo er mit seiner Frau, der Malerin Ute Langanky, bis zu seinem Krebstod lebte, ist bis heute eine Pilger­stätte der Kling-Jünger und Sitz des Thomas-Kling-Archivs, das seine Witwe verwaltet.

Was aber heisst es für die Kling-Rezeption der Nachgeborenen, wenn die Texte nun ohne das Performance­genie auskommen müssen? Ist die Sprach­energie auch heute noch spürbar? Oder ist Kling künftig auf die Reanimations-Rhetorik der Germanistik angewiesen? (Für einen Punk und Provokateur nicht unbedingt das Karriere­ziel, aber man wird da nicht gefragt.)

Vielleicht liegt gerade in der verlorenen Unmittelbarkeit eine Chance. Denn inhaltlich waren Klings Texte ohnehin immer viel mehr an der medialen Prägung unserer Erfahrung interessiert.

«ich will ‹attaca› schreiben, solang die kraft reicht», lautete Klings Motto. Von ihm stammt allerdings auch der Satz, es sei «ein lästiger Zug der Avantgarden», dass ihre «Manifeste immer ästhetische Umerziehungs­programme sind, Didaktik, Missionsgeste, Totalitätsanspruch».

Also: Bloss keine Überwältigungskunst!

Sondern Literatur, die auf das aktive Mitdenken des Publikums aus ist. Und so stossen wir in Klings realitäts­gesättigter Dichtung immer wieder auf Bilder, die das mediale und kulturelle Gedächtnis uns allen in die Köpfe gepflanzt hat. Nine eleven zum Beispiel.

Kling hatte in den 90ern einen seiner bekanntesten Gedicht­zyklen geschrieben: «Manhatten Mundraum», eine lyrische Reaktion auf das Sprach­babel der Megacity. Doch weil nach dem 11. September 2001 eine neue Gegenwart das Vergangene überschrieben hatte, schrieb Kling noch einmal einen New-York-Zyklus: «Manhattan Mundraum Zwei».

toter trakt, ein algorithmen-wind.
und alles wie paniert.

in tätigkeit
stetig das loopende auge.

(…)

septemberdatum dies
das gegebene,
dies ist die signatur
von der geschichte;
verwehte wehende unverwehte
loopende wie hingeloopte

augn-zerrschrift

Der 11. September mit seiner Endlos­schleife der Horror­szenen: Kling wiederholt nicht das vorgängige Geschehen im Gedicht; er schaut auf das medial Vermittelte. Darauf, wie sich die Bilder in unsere Erinnerungen graben.

Harter Schnitt.

Lavant-Sound

Es hat gedauert, bis Christine Lavants Lyrik anders gelesen wurde als durch die Brille der Klischees: die fromme Schmerzens­frau. Natur­magische Dichtung mit katholischem Einschlag.

Für Irritation dürfte ihr Beschwörungs­ton tatsächlich auch noch heute sorgen.

Muss jetzt einen Singsang finden
für das bisschen Haut und Knochen,
und den gelben Schierling kochen
und das Seilchen richtig winden.

Jahr war voller Schlangenschlingen,
jeder Tag ein Löwenzähnchen –.
Finger rupft das rote Hähnchen,
bald wird es im Feuer singen.

(…)

Schon in der ersten Nachkriegs­zeit, als Lavant eruptiv in wenigen Jahren den Grossteil ihres Gesamt­werks niederschrieb (zunächst Erzählungen, dann nur noch Lyrik), waren solche Verse unzeitgemäss, doch wurde die Autorin wegen der religiösen Motivik und des vermeintlichen Gebets­charakters ihrer Dichtung vom konservativen Eskapismus gerne vereinnahmt. Mit dem Ende der restaurativen Tendenzen seit den 60ern schien ihre Dichtung dann vollends aus der Zeit gefallen.

Als Lavant in ihrer Jugend zur Literatur fand, bedeuteten Lesen und Schreiben für sie tatsächlich eine Art Überlebens­technik. 1915 als neuntes und jüngstes Kind einer Bergarbeiter­familie geboren, schwerhörig, kurzsichtig und von ständigen Krankheiten heimgesucht, sah sie sich von einer Umgebung, die auf jede Abweichung von der vermeintlichen Norm feindlich reagierte, in die Isolation gedrängt.

Tiefgreifende psychische Krisen begleiteten Lavant ein Leben lang, ebenso wie materielle Not. Mit dem Stricken in der Stube – schon in der Kindheit die Tätigkeit, die mit dem Lesen Hand in Hand ging – bestritt sie den Lebens­inhalt für sich und ihren 36 Jahre älteren Mann.

Es wäre absurd, ihrem Schreiben biografische Dimensionen abzusprechen. Nur liegt das literarisch Entscheidende eben ganz woanders. In einem Spiel mit literarischer Form und Maskerade. Und vor allem in der sprachlichen Bildgewalt:

Die Stadt ist oben auferbaut
voll Türmen ohne Hähne;
die Närrin hockt im Knabenkraut,
strickt von der Unglückssträhne
ein Hochzeitskleid, ein Sterbehemd
und alles schaut sie an so fremd,
als wär sie ungeboren.
Sie hat den Geist verloren,
er grast als schwarz und weisses Lamm
mit einem roten Hahnenkamm
hinauf zur hochgebauten Stadt,
weil er den harten Auftrag hat,
dort oben aufzuwachen.
(…)

Ist das der Lavant-Sound?

Ja, weil die deutsch­sprachige Lyrik nirgendwo sonst so klingt. Und nein, weil Lavants Werk nuancen­reicher ist, als dass es eine allzu enge Festlegung zuliesse. Das gilt selbst dort, wo es motivisch ganz im Lavant-Kosmos bleibt:

Dieser Abend dumpf wie mein Gehirn.
Her mit einem Fetzen greller Hoffart!
Alter Himmel, der die Erde narrt,
hängt den Mond an einen dünnen Zwirn.

(…)

Sind die Sterne alle krüppelhaft?
Dort der Kümmerling ist wohl mein Abbild. (…)

Natürlich: Es gibt bei Lavant die gebets­artigen Anrufe, die kaum etwas anderes zuzulassen scheinen als eine religiöse Deutung. In ihren wortmächtigsten Texten aber wird die metaphysische Verkleidung durchsichtig auf ganz und gar Irdisches: soziale Macht- und Ausgrenzungs­mechanismen zum Beispiel. «Ihre Kraft bezieht diese Dichtung aus einem elementaren Wider­sprechen, einem Einspruch gegen die Zurichtung von Geist und Seele durch Missachtung vor allem – aber nicht nur – weiblicher Körperlichkeit», schrieb der 2016 verstorbene Lyriker und Literatur­wissenschaftler Fabjan Hafner.

«Sind die Sterne alle krüppelhaft?»: Christine Lavant, die stille Aussenseiterin (Bild: 1963). Ernst Peter Prokop

Auch Lavants Liebes­konzeption nimmt sich vom Katholizismus die Emphase der Leiblichkeit, führt aber zurück ins konkret Körperliche: ins Sinnlich-Erotische ebenso wie auf das Bedürfnis nach menschlicher Nähe und Zugehörigkeit. So kommt dann im Gewand des scheinbar naiven Gebetstons die Blasphemie daher:

Auch ist mein Herz so nach Liebe aus,
nach der einfachen wärmenden Menschenliebe

(…)

Deshalb, Herr Christus, ist mein Gebet
vielleicht ein Köder, der gar nicht dich meint.

Diese Dimensionen ihres Werks hat man erst lange nach Lavants Abkehr von der Literatur zu entdecken begonnen.

Als Thomas Bernhard 1987 eine Lavant-Anthologie zusammen­stellte, um die Autorin in den Kanon der deutsch­sprachigen Lyrik zurück­zuholen, schrieb er im Begleit­brief zu seiner Auswahl, der liebe Gott möge ihm verzeihen, dass er ihn so viel als möglich aus dem Band verjagt habe.

Jahre später hat ein anderer bekannter Autor mit einem Essay massgeblich zu einem neuen Lavant-Bild beigetragen, als er vehement klarstellte, die Autorin sei keine brave katholische Schmerzens­frau, sondern eine «gezielt Randalierende» in der von Körper­hass geprägten «reaktionären Nachkriegszeit».

Da war allerdings auch ein gehöriger Anteil Selbst­projektion im Spiel. Überhaupt frappiert an diesem Essay, wie nah darin das Hellsichtige beim Fragwürdigen steht; und wie der Autor mit der ihm eigenen Berserker-Art ins Misogyne langt, wo er doch emphatisch loben will. Sein Name: Thomas Kling. Siehe Werkausgabe, Band 4.

Zu den Büchern

Thomas Kling: «Werke in vier Bänden». Heraus­gegeben von Marcel Beyer in Zusammen­arbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix. Suhrkamp, Berlin 2020. 2692 Seiten, ca. 190 Franken.

Christine Lavant: «Werke in vier Bänden». Heraus­gegeben von Klaus Amann und Doris Moser. Wallstein, Göttingen 2020. 2998 Seiten, ca. 134 Franken.

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