Auf lange Sicht

Die unterschätzte Solarenergie

Die Internationale Energieagentur erwartet bei der «grünen Energie» einen starken Aufwärtstrend. Warum erst jetzt? Wie die Welt ihren Hunger nach Energie im Jahr 2040 stillen wird.

Von Arian Bastani, 26.10.2020

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Die Internationale Energieagentur (IEA) ist vergleichbar mit dem Internationalen Währungs­fonds oder der Weltgesundheits­organisation. Ihr Wort hat Gewicht – für Regierungen, in der Wirtschaft und Wissenschaft.

Besonders beachtet wird die Publikation, welche die Energie­agentur jeweils im Herbst herausgibt – der «World Energy Outlook». In dem 500-seitigen Dokument stellt sie Prognosen auf: Wie wird die Welt ihren Energie­bedarf decken, falls die Politik sich nicht verändert? Wie könnte der Energiemix aussehen, wenn Regierungen rund um den Globus eine nachhaltige Entwicklung anstreben?

Die Ausgabe 2020 des World Energy Outlook wurde mit grosser Spannung erwartet. Denn die Corona-Krise hat die Energie­welt auf den Kopf gestellt: Die Nachfrage nach fossilen Rohstoffen brach ein, der Ölpreis fiel zeitweilig unter null – und die weltweiten Treibhausgas-Emissionen gingen deutlich zurück.

Würde dies die Energie­prognosen grundlegend verändern?

Der neue Energieausblick

Das Material, das die Energieagentur geliefert hat, deutet effektiv auf einen Umschwung hin. So hat sie hat etwa ihre Prognosen für fossile Energien und Atomkraft nach unten korrigiert – besonders betroffen war davon die Kohle. Dagegen rechnet die Agentur bei erneuerbaren Energien mit höherem Wachstum.

Das zeigt sich zum Beispiel bei der Strom­erzeugung. Selbst im Szenario, das nur gerade die Politik mit einbezieht, die bereits beschlossen ist – das sogenannte «Stated Policies»-Szenario» – zeigen sich deutliche Veränderungen:

  • Vor zwei Jahren ging die Energieagentur noch davon aus, dass 2040 trotz Klimawandel noch immer über 10’300 Terawatt­stunden Strom mit Kohle produziert würden. Inzwischen beträgt die Prognose knapp 9000 Terawatt­stunden. Auch das ist zu viel fürs Klima. Aber es ist ein Minus von 13 Prozent.

  • Umgekehrt sagte die Energieagentur vor zwei Jahren voraus, dass erneuerbare Energien 2040 rund 16’700 Terawatt­stunden Strom beisteuern würden. Mittlerweile sind es fast 18’800 Terawatt­stunden – ein Plus von 12 Prozent.

Selbst im Szenario mit der am wenigsten ambitionierten Klima­politik deutet sich also ein Wandel an – hin zu einem klima­verträglicheren Energiemix.

Strom wird zunehmend grüner

Elektrizitätsproduktion im Jahr 2040

Kohle−13 % 0Erdgas−8 % 0Atomkraft−8 % 0Erneuerbare Energien0+12 % −20 +0 +40 +20 +60 %

Veränderung in den «Stated Policies»-Prognosen zwischen 2018 und 2020. Quelle: IEA

Geht man in die Details, so sticht vor allem die Solar­energie hervor. Ihr Beitrag zur weltweiten Strom­versorgung im Jahr 2040 wird von der IEA heute um unglaubliche 43 Prozent höher eingeschätzt als noch vor zwei Jahren. Etwas schwächer ist das veranschlagte Wachstum bei Wind­energie. Dagegen sollen konventionelle Erneuerbare wie etwa Wasser­kraft und Bioenergie in einer Welt gemäss den «Stated Policies» um 4 Prozent weniger beitragen.

Wind und Sonne preschen vor

Elektrizitätsproduktion im Jahr 2040

Fotovoltaik0+43 % Wind0+16 % Übrige−4 % 0−20 +0 +20 +40 +60 %

Veränderung in den «Stated Policies»-Prognosen zwischen 2018 und 2020. Quelle: IEA

Die erneuerbaren Energien legen auch im klima­freundlicheren «Sustainable Development Scenario» der Energie­agentur um einen ähnlichen Faktor zu wie bei den «Stated Policies». Der Trend existiert also unabhängig von den politischen Beschlüssen, die in den vergangenen zwei Jahren gefällt wurden.

Die IEA wurde in der Vergangenheit immer wieder dafür kritisiert, diese Entwicklung zu unterschätzen. Besonders bei der Fotovoltaik vernachlässige die Organisation die rapide technische Entwicklung, schrieben Forscherinnen.

Auf dem gelben Auge blind

Ein Rückblick auf vergangene Berichte zeigt, was sich dahinter verbirgt. In den 2000er-Jahren nahm die Energie­agentur die Technologie noch kaum ernst. Im «World Energy Outlook» von 2001 steht etwa, Fotovoltaik sei etwas für ländliche Regionen – Anlagen im industriellen Mass­stab seien in den nächsten 20 Jahren nicht zu erwarten. Unterdessen gibt es jedoch Solarkraftwerke mit einer ähnlichen Leistung wie jene der grössten Kernkraftwerke der Schweiz.

2010 sagte die Energieagentur voraus, dass die Fotovoltaik bis ins Jahr 2035 rund 2 Prozent der globalen Strom­produktion ausmachen würde. Die Marke wurde bereits 2018 erreicht. Die Anzahl der installierten Panels, die man 2011 für das Jahr 2020 prognostiziert hatte, wurde bereits 2014 erreicht. Und so weiter.

Die hartnäckige Unterschätzung der Fotovoltaik ist in der folgenden Grafik dargestellt, die inspiriert ist vom Energieanalysten Auke Hoekstra und auf Daten der Internationalen Energieagentur basiert. Sie zeigt den jährlichen Netto­zubau von Solarstrom­kapazität – so, wie er jeweils in den Berichten vorausgesagt wurde (in Gelbtönen, gestrichelt), und so, wie er tatsächlich stattfand (in Schwarz).

Wiederholt nahm die Energie­agentur an, dass bald ein Wachstums­plateau erreicht werde. Doch dem war nicht so: Der jährliche Zubau stieg noch mehr an.

Wie die Solarkraft unterschätzt wurde

Jährlicher Zubau an Fotovoltaik-Kapazität

20002010202020302040 2006 2010 2012 2014 2016 2017 2018 2019 2020050100150 Gigawatt

Prognostizierter Zubau gemäss «Stated Policies»-Szenario in den jeweiligen Berichtsjahren (Gelbtöne) und reale Daten (schwarz). Quelle: IEA

Erst mit dem diesjährigen Bericht (in Rot) wagt es die Energieagentur, die starke Aufwärts­tendenz fortzuschreiben – und posaunt dies gleich ziemlich offensiv in die Welt hinaus: Solarenergie sei der neue «König» auf den welt­weiten Energie­märkten, liess Chef Fatih Birol via Twitter verlauten.

Die Organisation erklärt ihren Sinnes­wandel unter anderem dadurch, dass sie ihre Analyse­methode zu den Kosten dieser Technologie angepasst hat. Sie schätzt den Preis von Solar­panels teilweise nur noch halb so teuer ein wie letztes Jahr. Ausserdem kommt der Fotovoltaik das Baustein­prinzip zugute, betont die Chefanalytikerin des Berichtes, Laura Cozzi. Dieses erlaubt auch kleine Investitionen, was gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten von Vorteil ist.

Institutionelle Trägheit

Doch warum gingen Birol, Cozzi und ihre Kolleginnen so lange von zu hohen Kosten aus? Beobachter haben dafür verschiedene Erklärungen vorgebracht: Die IEA stecke mit dem fossilen Sektor unter einer Decke; sie sei konservativ; sie verwende die falschen Modelle; sie scheitere, weil die Modellierung von Technologien, die sich rapide verändern, aus Prinzip schwierig sei.

Naomi Oreskes, eine Wissenschafts­historikerin der Universität Harvard, betont im Gespräch mit der Republik die historische Nähe der Energieagentur zur Fossil­industrie – und erwähnt die mögliche, damit verbundene Vor­eingenommenheit. Die IEA wurde als Reaktion auf die Erdölkrise von 1973 im Jahr darauf gegründet; der Fokus auf die Versorgung mit fossiler Energie steckt also gewissermassen in ihrer DNA.

Obwohl die Organisation sich in den letzten Jahren zunehmend als Vorkämpferin für die Energie­wende in Szene setzt, wirkt die Vergangenheit noch immer nach. Zum Beispiel auch in den Prognosen zur Kohle: Diese hat ihren Höhe­punkt wohl bereits hinter sich (schwarz). Doch davon wollte die Internationale Energieagentur bisher wenig wissen: Lange nahm sie an, dass der Kohle­verbrauch bis 2040 ansteigen oder zumindest auf einem gleich­bleibenden Niveau verharren würde (Grautöne).

Fossiler Sinneswandel

Jährliche Energieproduktion mit Kohle

Achse gekürzt2010202020302040 2014 2015 2016 2018 2019 20204000050000 Terawattstunden

Prognostizierter Verbrauch gemäss «Stated Policies»-Szenario in den jeweiligen Berichtsjahren (Grautöne) und reale Daten bzw. Schätzung für 2020 (schwarz). Quelle: IEA

Erst dieses Jahr hat sie auch hier korrigiert. In ihrem «Stated Policies»-Szenario (rot) ist nun eine Abwärts­tendenz erkennbar. Die Corona-Krise hat die Energieagentur also auch bei der Kohle zum Umdenken bewegt.

Allerdings muss man den Analysten zugutehalten: Es ist tatsächlich sehr schwierig, exponentielle Wachstums­kurven zu antizipieren – gerade im schwerfälligen Energiesystem. Und auch politische Massnahmen, die den erneuerbaren Energien auf die Sprünge helfen, kündigen sich nicht zwingend an. Überraschend vermeldete beispielsweise die Regierung von China vor kurzem, das Land werde bis 2060 die CO2-Neutralität anstreben. Und auch in Indien wächst die Strom­erzeugung durch Kohle weit langsamer, als noch letztes Jahr erwartet.

Und man muss der Energieagentur auch anrechnen, dass sie immer wieder betont, wie unabdingbar nötig profunde strukturelle Veränderungen des Energie­sektors sind, um die Erd­erwärmung aufzuhalten. Dazu liefert sie auch gleich Pläne, wie etwa den Bericht zu einer nachhaltigen Erholung der Wirtschaft nach Corona. Erstmals hat sie dieses Jahr auch ein 1,5-Grad-Szenario präsentiert.

Fazit

Erneuerbare Energien zeigen einen starken Aufwärts­trend – allen voran die Fotovoltaik. Das liegt daran, dass diese Technologie mit zunehmender Verbreitung immer günstiger wird. Aber auch an der Politik: China, Japan und die EU haben Netto-null-Ziele bis um die Mitte des Jahrhunderts angekündigt. Auch die USA könnten nach den Wahlen auf eine klima­freundlichere Politik umschwenken.

Je mehr die Ziele in konkrete politische Massnahmen umgemünzt werden, desto stärker wird sich die Energie­wende auch in den Prognosen der Internationalen Energieagentur widerspiegeln. Allerdings bleibt noch ein weiter Weg: Der Energiemix, den die Organisation im neusten Outlook für 2040 voraussagt, ist noch längst nicht CO2-neutral. Die «Stated Policies» müssen noch viel grüner werden.

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