Europäisches Steuergeld für gigantische Gasprojekte: Die Transadriatische Pipeline bei Fier im Westen von Mittelalbanien. Ilir Tsouko

Europa in der Erdgasfalle

Die Energieindustrie will mit staatlicher Hilfe über 100 Milliarden Euro in Gaspipelines und Gaskraftwerke investieren. Das könnte den Klimaschutz auf Jahrzehnte blockieren.

Von Simon Schmid, Nico Schmidt und Harald Schumann, 06.10.2020

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An einem kühlen Spätsommertag steigt Landrat Stefan Mohrdieck auf den Brunsbütteler Deich, dort, wo die Elbe nördlich von Hamburg in die Nordsee mündet. Mit dem Rücken zum Fluss sieht er von hier aus die Vergangenheit der Energie­politik – und, wie er hofft, die Zukunft.

Vorne ist die tiefschwarze Kohle, die sich vor dem Deich auftürmt, bevor sie auf Kraft­werke verteilt wird. Und daneben ist das still­gelegte Atom­kraftwerk. Doch gleich dahinter, wo jetzt noch ein paar Kühe durchs Gras stapfen, soll bald ein Tank errichtet werden. So hofft es zumindest der Landrat. Ein Tank so gross wie ein fünfzehn­stöckiges Hochhaus. Bis zu 220’000 Kubik­meter Flüssiggas sollen darin lagern, die aus Katar oder den USA mit Tankern hergeschifft werden.

«Das Flüssiggas wird uns helfen, die Dekarbonisierung voran­zutreiben», sagt Mohrdieck, also weniger CO2 in die Atmo­sphäre zu pusten. Denn Erdgas sei sauberer als Öl und werde dringend für die Energie­wende benötigt.

Mit einem fossilen Brennstoff gegen den Klima­wandel? Norbert Pralow, pensionierter Lehrer und Umwelt­aktivist, schüttelt energisch den Kopf. «Wir müssen aller­spätestens bis 2050 aus den fossilen Energien ausgestiegen sein.» Das neue Gasterminal werde aber frühestens 2025 fertiggestellt. «Das wird sich nie amortisieren», sagt er. In seiner Stimme schwingt Wut mit. «Statt hier mit viel Geld eine rückwärts­gewandte Technologie einzuführen, sollte man lieber zukunfts­fähige Projekte finanzieren.»

Gas gegen Klimaschutz: Dieser Streit läuft zurzeit europa­weit. Während Kohle­kraftwerke von Irland bis Griechenland nach und nach abgeschaltet werden, treiben Energie­unternehmen und Regierungen den Ausbau der Erdgas­infrastruktur voran. Dagegen warnen Ökonomen und Klima­forscherinnen, die neuen Pipelines und Kraftwerke führten Europa in die Erdgasfalle.

Wer hat recht?

Investigate Europe, ein Journalistinnen­team aus neun Ländern, hat die Hinter­gründe des europäischen Erdgas­streits unter die Lupe genommen. Und ist zu folgenden Erkenntnissen gekommen:

  1. Die europäische Erdgas­wirtschaft hat in Brüssel ein perfektes Lobbying­system installiert. Sie arbeitet die offiziellen Bedarfs­prognosen zuhanden der EU aus – und übt wesentlichen Einfluss darauf aus, welche Energie­infrastruktur­projekte von den Staaten Förder­mittel erhalten.

  2. Die Prognosen der Industrie sind zu hoch. Bereits jetzt gibt es Über­kapazität für Gasimporte. Neue Pipelines wie Nord Stream 2 und neue Flüssiggas­terminals, die aktuell gebaut werden, um Gas aus den USA und Russland zu importieren, braucht Europa überhaupt nicht.

  3. Die Gasindustrie setzt auf «blauen» Wasser­stoff, um ihre Infrastruktur künftig trotzdem auszulasten. Doch dieser Brenn- und Treib­stoff ist nicht so klima­verträglich, wie die Industrie behauptet. Es gibt ungelöste Probleme bei der Förderung und bei der End­lagerung von Abfallstoffen.

  4. Insgesamt warten in den europäischen Ländern über 100 Milliarden Euro darauf, in Gasprojekte investiert zu werden. Die demokratische Kontrolle über dieses Geld ist ungenügend.

Ohne konsequente Abkehr vom Erdgas riskiert die Europäische Union, ihre Klima­ziele zu verfehlen.

Teil des Problems, nicht der Lösung

Wenn die Erwärmung auf unter 2 Grad begrenzt bleiben soll, wie im Pariser Abkommen von 2016 versprochen, dann dürfen die Europäerinnen insgesamt nur noch 70 Milliarden Tonnen Kohlen­dioxid ausstossen. Das entspricht beim bisherigen Verbrauch von Kohle, Öl und Gas gerade mal den Emissionen von 16 Jahren, rechnen die Energie­experten des Deutschen Instituts für Wirtschafts­forschung vor. Das erfordere eine vollständige Dekarbonisierung. Und daher sei Gas nicht mehr Teil der Lösung – sondern Teil des Problems geworden. «Jede Investition in fossile Infra­struktur wird eine verlorene Investition sein», warnt Claudia Kemfert, Energie­chefin des Instituts. «Dazu gehören auch Gaspipelines und Flüssiggas­terminals.»

Doch die Mehrheit der EU-Regierungen verweigert sich dieser Erkenntnis. Mit ihrer Unter­stützung planen die Energie­konzerne Flüssiggas­terminals entlang aller Küsten und verlegen Pipelines von der Ostsee bis zur Ägäis. Nach Berechnungen von Investigate Europe auf Grund­lage von Daten der Organisationen Global Energy Monitor und Gas Infrastructure Europe plant die Gasindustrie Investitionen in Höhe von mindestens 104 Milliarden Euro.

Wo am meisten investiert wird

Projektsumme in Euro

Grossbritannien016 Mrd. Deutschland014 Mrd. Griechenland013 Mrd. Polen012 Mrd. Rumänien011 Mrd. Italien010 Mrd.

Quelle: Investigate Europe

Sechs Länder kommen sogar im Alleingang auf jeweils 10 Milliarden Euro und mehr – allen voran Grossbritannien, Deutschland und Griechenland. In praktisch keinem EU-Land wird aktuell nicht in Erdgas investiert.

Wie passt das zusammen? Nehmen EU-Kommission und die Regierungen ihr Versprechen, die Union werde bis 2050 klimaneutral, nicht ernst?

Zur Recherche: «Das Greenwashing der Schweizer Gasbranche»

Erdgas ist verantwortlich für ein Fünftel der Schweizer CO2-Emissionen. Die Gaslobby sagt: Alles wird gut – bis 2050 ist die Gasversorgung klimaneutral. Doch ein genauer Blick auf ihre Thesen zeigt, dass das nicht stimmen kann.

Das perfekte Lobbyingsystem

Wer diesen Fragen nachgeht, trifft auf ein dichtes Geflecht der Industrie mit allen politischen Ebenen – vom EU-Parlament über die Kommission bis zu den nationalen Ministerien. Und sie realisiert, dass die alte Denkfigur vom Gas als geostrategischem Macht­instrument ungeachtet aller wirtschaftlichen oder ökologischen Gegen­argumente nach wie vor das Denken dominiert.

Um die Politik zu beeinflussen, operieren Öl- und Gaskonzerne von der britisch-niederländischen Shell bis zur norwegischen Equinor mit Hunderten von Lobbyisten. Allein in Brüssel haben sie sich das im letzten Jahrzehnt rund 250 Millionen Euro kosten lassen, berichtet die Anti-Lobby-Organisation Corporate Europe Observatory. Die Konzerne kaufen damit Zugang und Einfluss, sagt Pascoe Sabido, einer der Autoren des Berichts.

Allein bei den offiziell dokumentierten Treffen kamen die Berater, Anwältinnen und PR-Experten der Fossil­industrie seit 2014 mehr als 300-mal mit den Kommissaren und ihren leitenden Beamten zusammen, um ihre Ansichten und Interessen einzubringen. Und das mit durch­schlagendem Erfolg.

Das beginnt schon bei den Prognosen, wie viel Gas überhaupt benötigt wird. Diese übernimmt die EU-Kommission bisher einfach von der Industrie. Das schrieb sie 2009 sogar per Verordnung fest. Diese verpflichtet Europas Netz­betreiber wie etwa die niederländische Gasunie, die französische GRTgaz und die deutsche Thyssengas, eine Dach­vereinigung zu bilden – namens Entsog. Der Verband arbeitet alle zwei Jahre einen Netz­entwicklungs­plan aus, der eine «europäische Prognose zur Angemessenheit des Angebots» für die nächsten zehn Jahre enthält. Die Netzbetreiber legen also selbst fest, wie viele Pipelines gebraucht werden – ein Interessen­konflikt par excellence.

Schon 2015 bemängelte darum der Europäische Rechnungshof: «Die EU-Kommission hat keine eigenen Kapazitäten, um den künftigen Gasbedarf der EU zu projizieren. Stattdessen nutzt sie Vorhersagen Externer.» Auf deren Grundlage habe die Kommission wiederholt den Gasbedarf überschätzt.

Trotzdem erstellt derselbe Verband auch den Entwurf für den Gasteil des zentralen Planungs­instruments für Europas Energie­politik: die Liste der Projects of Common Interest (PCI) – Projekte von gemeinsamem Interesse. Ein Platz in diesem Katalog qualifiziert Investoren für den Bezug von Förder­geldern und Krediten der Europäischen Investitions­bank. Zwar müssen die EU-Parlamentarierinnen den Projekten ihre Zustimmung geben. Doch sie können nur über die Liste als Ganzes abstimmen – und nicht einzelne Gas­vorhaben aus der Liste streichen.

Würden sie die Liste ablehnen, würde folglich auch der Ausbau von Wind- und Solar­kraft gebremst. «Wir bitten Sie hiermit, die vierte PCI-Liste unter dem Augen­merk der ambitionierten Klima­ziele des Europäischen Green Deals zu prüfen», forderte deshalb eine Gruppe EU-Parlamentarier vor der jüngsten Abstimmung von Frans Timmermans, dem zuständigen Vize­präsidenten der EU-Kommission. Die Liste solle sicher­stellen, dass EU-Gelder nicht für Projekte ausgegeben werden, die den Klima­zielen widersprechen.

Doch Timmermans stellte eine Änderung erst für die nächste Programmliste in Aussicht. So dienen jetzt gleich 32 der 149 schliesslich verabschiedeten Vorhaben dem Ausbau der Erdgasnutzung. Das sorgt auch bei der Kommission selbst für Kritik. «Es ist nicht die Kommission, die hier entscheidet», sagt Klaus-Dieter Borchardt, stellvertretender General­direktor für Energie der EU-Kommission. «Sondern es sind die Entsog-Dachverbände, die festlegen, welche Szenarien genutzt werden.» Als er die finale Liste mit den Projekten von gemeinsamem Interesse gesehen habe, habe er festgestellt, dass diese auch auf Annahmen basierte, die den EU-Klima­zielen widersprachen. «Wir dachten: Was soll das?»

Der Prozess, der darüber bestimmt, ob und wie viel Erdgas­infrastruktur die EU und ihre Staaten unter­stützen, wird also von der Gas­industrie selbst gesteuert. Perfekter könnte ein Lobbying­system gar nicht sein.

Pipelines und noch mehr Pipelines

Als Folge davon fliesst europäisches Steuer­geld in gigantische Gasprojekte, die ganze Landschaften verändern. Eines davon ist die Transadriatische Pipeline. Sie soll jährlich 10 Milliarden Kubik­meter Gas aus Aserbaidschan nach Europa transportieren. Das entspricht dreimal dem Schweizer Jahres­verbrauch.

Beteiligt an der Pipeline ist auch der Schweizer Energie­konzern Axpo. Er besitzt 5 Prozent davon. Die Transadriatische Pipeline «stellt für Axpo eine wichtige Portfolio-Diversifizierung dar und verringert die Abhängigkeit des Unter­nehmens vom Grosshandels­preis für Strom», wie das Unter­nehmen sagt. Axpo habe sich langfristig auch ein «beträchtliches» Volumen an Erdgas aus dem Gasfeld Shah Deniz gesichert, einer Gasquelle in Aserbaidschan.

Die Transadriatische Pipeline führt über Griechenland nach Süditalien. In Apulien, nahe dem Ort Melendugno, trifft sie an Land. Dort führen Strassen durch Oliven­haine, hinter denen die Adria dunkel schimmert. Seit kurzem erheben sich jenseits der Bäume hohe Stacheldraht­zäune rund um die Anlande­station. Zwei Schorn­steine aus der Anlage stehen für die Emissionen, die folgen, sobald ab Ende Jahr hier das Gas für den Weiter­transport aufbereitet wird.

Rund 6 Milliarden Euro hat die Pipeline gekostet. Davon haben die EU sowie deren Europäische Investitionsbank mehr als 2 Milliarden Euro gezahlt oder geliehen. Die Transadriatische Pipeline werde «der Europäischen Union dabei helfen, die Gas­versorgung in Südost­europa zu sichern», werben die Betreiber. Davon sind aber nicht alle überzeugt. Der Regional­präsident nannte das Vorhaben «illegal», und die betroffenen Gemeinden haben das Unter­nehmen verklagt, weil es die Umwelt­wirkungen nicht bedacht habe. Seit diesem Monat müssen sich die verantwortlichen Manager dem örtlichen Gericht stellen.

Auf die Justiz setzt auch der Journalist Malte Heynen, der im branden­burgischen Oderberg, nordöstlich von Berlin, ein Stück Acker­land besitzt. An einem Sommer­nachmittag tritt er dort aus einem Weizen­feld auf eine riesige Schneise aus Schutt und Geröll, die sich durch seinen Acker zieht und von einem Ende des Horizonts bis zum anderen reicht. Hier, anderthalb Meter tief unter dem Schotter, verläuft die sogenannte Eugal-Pipeline. Sie soll russisches Erdgas von der Ostsee zur tschechischen Grenze transportieren.

Das will Heynen mit einer Klage verhindern. Das Ober­verwaltungs­gericht in Berlin wies ihn im März ab, und nun muss das Bundes­verwaltungs­gericht über seine Beschwerde entscheiden. Dort, so hofft er, hat er eine Chance. Denn die Pipeline hätte «nie gebaut werden dürfen», sagt er. «Wir haben beim Klima­schutz noch ein Fenster von wenigen Jahren. Jetzt eine Pipeline zu bauen, die fünfzig Jahre in Betrieb bleibt, ist Unsinn.»

Addiert man die Kosten sämtlicher geplanter und in Bau befindlicher Pipelines nach Europa, kommt man auf die Summe von 45 Milliarden Dollar. Würden Regierungen und Unter­nehmen stattdessen in Solar­energie investieren, könnten sie Zehn­tausende von fussballfeld­grossen Solar­farmen aufstellen.

Klimaschädlich – und teuer

Pipelines und ihre Kosten, in Milliarden Dollar

In BauRussland–Deutschland Nord Stream 2011 Mrd. Russland–Türkei Turk Stream 207,8 Mrd. Griechenland–Italien Trans-Adriatic04,5 Mrd. Bulgarien–Österreich BRUA04,0 Mrd. In PlanungGeorgien–Ukraine White Stream07,4 Mrd. Zypern–Griechenland East Med05,8 Mrd. Aserbaidschan–Rumänien AGRI04,4 Mrd.

Quelle: Investigate Europe

Wie unnütz Pipeline­projekte sein können, belegt auch ein Vorhaben, dem die EU-Kommission und die Gasnetz­betreiber bereits 2013 einen Platz auf der PCI-Liste verschafften: die sogenannte Mid-Cat-Pipeline. Diese Rohr­leitung sollte aus dem spanischen Katalonien durch die Berge der Pyrenäen Erdgas aus Nord­afrika nach Süd­frankreich liefern. «Ein Schlüssel für Europas Energie­sicherheit», versprach der spanische Betreiber Enagás vollmundig.

Doch heraus kam nur eine Pipeline ins Nirgendwo. Eine Auto­stunde ausserhalb von Barcelona in einer kargen Landschaft endet die Leitung nach kaum 80 Kilometern – weit weg von der französischen Grenze. Im Januar 2019 stoppten die spanischen und französischen Aufsichts­behörden das Projekt mangels wirtschaftlichen Interesses. «Die bestehenden Gas­pipelines zwischen Frankreich und Spanien sind nicht über­lastet», schrieben sie.

Die heutige Infrastruktur genügt

Das gilt auch für alle weiteren Leitungen und Terminals in Europa, ergab eine Untersuchung der Organisation Global Energy Monitor, die weltweit Daten zu Energie­infrastruktur­projekten erhebt. Demnach verfügt die EU bereits jetzt über doppelt so viel Kapazität für Gasimporte, als sie tatsächlich benötigt. Und der Bedarf wird ganz sicher sinken. Denn rund drei Viertel der Gas­importe werden fürs Heizen von Wohn- und Arbeits­räumen verwendet. Den dortigen Verbrauch durch Wärme­dämmung zu mindern, ist aber ein Kern­element der Klima­politik. «Die Gas­nachfrage der EU-Staaten wird weiter abnehmen», sagt der grüne niederländische EU-Parlaments­abgeordnete Bas van Eickhout, der die Entwicklung schon seit vielen Jahren verfolgt.

Selbst die Gasindustrie schreibt inzwischen in ihre EU-Szenarien, dass der Gasverbrauch abnehmen wird – wenn auch nur leicht. Die unterschiedlichen Akteure sind sich also darüber einig, dass künftig weniger Erdgas verbraucht wird. Da scheinen die riesigen Bau­vorhaben überall in Europa zunächst paradox. Warum also wird dennoch mehr Gas­infrastruktur gebaut?

Wer der Gasindustrie diese Frage stellt, wird auf die «Energie­sicherheit» verwiesen. Ja, derzeit reiche die Kapazität, sagt etwa Jan Ingwersen, Chef beim Lobby-Dachverband Entsog. Aber es gebe Schwach­stellen, und «aus Gründen der Versorgungs­sicherheit» gebe es zusätzlichen Bedarf. Gemeint ist, dass womöglich aus politischen Gründen die Lieferungen aus Russland oder Nord­afrika ausgesetzt werden, um Druck auf Europa auszuüben.

Doch dem widerspricht eine neue Studie der französischen Beratungsfirma Artelys, die auch für die EU-Kommission arbeitet. «Die bestehende EU-Gasinfrastruktur genügt, um den Bedarf in einer Vielzahl von Szenarien zu decken», konstatieren die Artelys-Experten, «selbst im Falle extremer Versorgungs­unterbrechungen.» Darum seien die meisten Gas­projekte auf der PCI-Liste wohl unnötig. «Die EU riskiert Über­investitionen von 29 Milliarden Euro in unnötige Projekte», sagt Artelys-Direktor Christopher Andrey.

Das Argument ist schlagend. Doch die Industrie setzt auf eine verblüffende Strategie: Erdgas, so heisst es jetzt, werde für die «Dekarbonisierung» der europäischen Industrie benötigt. Der Lobby­verband Eurogas und die EU-Kommission sprechen unisono von «der Dekarbonisierung des Gassektors».

Gaskonzerne pushen Wasserstoff

Das klingt merkwürdig. Schliesslich ist Erdgas ein Kohlen­wasserstoff, bei dessen Verbrennung unvermeidlich Kohlen­dioxid frei wird. Doch wenn es nach der Gas­industrie geht, dann soll ihr Produkt auch den grossen Teil jenes Brenn­stoffs liefern, den Managerinnen, Ingenieure, Gasverbände und Regierungen als Allheil­mittel gegen die Klima­krise preisen: Wasserstoff.

Dieser verbrennt bei hohen Temperaturen zu harmlosem Wasserdampf. Mit seiner Hilfe könnten Stahl gekocht und Chemikalien aller Art hergestellt werden, ohne Treibhaus­gase zu emittieren. Er könnte mit Brenn­stoffzellen schwere Last­wagen antreiben und sogar Flugzeug­triebwerke befeuern, wie der Airbus-Konzern jüngst ankündigte. Die entscheidende Frage ist bisher jedoch noch nicht beantwortet: Woher soll all der Wasser­stoff kommen, um den Energie­hunger der Industrie­gesellschaft zu stillen?

Zwar ist es technisch kein Problem, sogenannt «grünen» Wasser­stoff mit Strom aus sauberen Energie­quellen zu gewinnen – man lässt den Strom dazu einfach durch eine Elektrolyse­anlage laufen. Doch völlig offen ist, ob und wann es je genügend Strom aus erneuerbaren Quellen geben wird, um den gigantischen Bedarf zu stillen. Und eben diese Lücke möchten Gazprom, die norwegische Equinor und die angeschlossenen Gasnetz­betreiber füllen.

Der nötige Wasserstoff, so behauptet ihr Dachverband Entsog, liesse sich am schnellsten mit Erdgas gewinnen. Das könnte mit Strom aus Gaskraftwerken geschehen oder mit einer als «Dampf­reformierung» bezeichneten Methode, die den Wasser­stoff direkt aus dem Erdgas löst. Bei beiden Methoden fallen jedoch grosse Mengen Kohlen­dioxid an. Der Ausweg, so verheissen die Gas­apologeten, wäre das Abfangen und Speichern des Kohlen­dioxids unter der Erde, vielleicht sogar in den leer gepumpten Gasfeldern – ein Verfahren, das meist mit dem Kürzel CCS (Carbon Capture and Storage) benannt wird.

Doch selbst dieser «blaue» Wasser­stoff belastet das Klima. Gemäss einer Studie von Greenpeace Energy entsteht bei seiner Produktion rund 5- bis 8-mal mehr CO2 als beim «grünen» Wasser­stoff (beim aktuell gebräuchlichen «grauen» Wasser­stoff ohne CCS ist die Klima­belastung sogar 15-mal höher).

Nur «grüner» Wasserstoff ist klimafreundlich

Klimabilanz in Gramm CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde

je nach Verfahren
«Grauer» Wasserstoff0398 «Blauer» Wasserstoff0181 «Grüner» Wasserstoff026

Quelle: Greenpeace Energy

Wirklich nachhaltig ist also nur der «grüne» Wasser­stoff. Setzt sich der «blaue» durch, wäre dagegen der Absatz für die Gas­industrie gesichert – bis der letzte Kubik­meter abgepumpt ist. Doch das Klima wäre damit kaum zu schützen.

Das liegt nicht zuletzt am chemischen Stoff, aus dem sich Erdgas zu einem Grossteil zusammen­setzt: Methan. Dieses ist selbst ein starkes Treibhausgas. Nach Angaben des Weltklima­rats heizen Methan­moleküle die Atmosphäre 86-mal stärker auf als Kohlen­dioxid. Rund 30 Prozent der Erderwärmung, die seit dem Industriezeitalter eingesetzt hat, gehen auf das Konto von Methan.

Problem 1: Unsaubere Förderung

Diesen Juli teilten Forscher der Stanford University mit, dass der weltweite Methan­ausstoss einen neuen Höchst­stand erreicht habe. Das Problem beginnt bei der Gas­förderung aus dem Unter­grund. Dabei wird im grossen Stil Methan frei­gesetzt, wie eine ganze Reihe von Studien ergab:

  • Forscher der Umwelt­organisation Environmental Defense Fund haben anhand von Messungen an den Bohrlöchern festgestellt, dass die Öl- und Gasindustrie allein in den USA pro Jahr 13 Millionen Tonnen Methan freisetzt – 60 Prozent mehr, als sie bis dahin angegeben hatte, und genug, um ein Jahr lang 10 Millionen Häuser zu heizen.

  • Und selbst die gewöhnlichen städtischen Gasnetze halten nicht dicht. Zuletzt fanden die Experten des Environmental Defense Fund in Hamburg an 145 Messstellen erhöhte Methanwerte – mit doppelt so hoher Konzentration, wie sie die Netz­betreiber selbst auswiesen.

Auch beim «blauen» Wasserstoff spielen Methan­lecks eine grosse Rolle. Sie sind verantwortlich für bis zu zwei Drittel der Treibhausgas­emissionen. Die Lecks bei der Erdgas­förderung sind aber nur der Anfang der Schwierig­keiten. Fragwürdig ist auch der Prozess am Ende der Herstellung von «blauem» Wasserstoff: die Deponie des anfallenden Kohlen­dioxids unter der Erde.

Problem 2: Unsaubere Lagerung

Davon kündet ein unscheinbares Schild, das rund 40 Kilometer westlich von Berlin aus einem Maisfeld ragt. «Pilotstandort Ketzin – Forschungs­projekt Complete zur CO2-Speicherung», steht darauf in ausgeblichenen Buchstaben.

Hier wurde erstmals in Europa jene Technologie erprobt, auf welche die Gas­giganten nun hoffen. Zwischen 2008 und 2013 injizierten Forscher des Geo­forschungs­zentrums Potsdam Kohlen­dioxid 650 Meter tief unter den Brandenburger Boden. Trotz Befürchtungen gab es in jenen Jahren keine Zwischen­fälle. Das Gas blieb im Boden. «Die Injektion damals lief sicher und zuverlässig», erinnert sich die Projekt­leiterin Cornelia Schmidt-Hattenberger. Ketzin könnte «als Blaupause für grössere nationale CCS-Projekte dienen», meint sie.

Doch diese gibt es bislang nicht. Die Forscher beendeten das Projekt. Und auch weitere 21 CCS-Projekte in Europa wurden eingestellt – nicht zuletzt deshalb, weil bisher nur 60 bis 80 Prozent des Treibhaus­gases abgetrennt werden können, wie das Umwelt­bundesamt feststellte. Nur wenige Regierungen wollen derzeit überhaupt CCS-Versuche ermöglichen.

Eine von ihnen ist jene des Gasförderlandes Norwegen. Sie kündigte jüngst an, ein CCS-Grossprojekt mit 1,6 Milliarden Euro zu finanzieren. Aber selbst wenn die Leckagen verhindert und die Abfang­technologien perfektioniert werden könnten, bliebe ein praktisch unüberwindliches Hindernis: CCS ist teuer. Die norwegischen Ingenieurinnen schätzen die Kosten auf 250 Euro pro Tonne CO– zehnmal so viel wie der aktuelle CO2-Emissions­handelspreis.

Die deutsche Energie­ökonomin Claudia Kemfert rechnet sogar mit Kosten von bis zu 440 Euro pro Tonne. «CCS ist teuer, ineffizient und verlängert nur das Geschäfts­modell der fossilen Energie­träger», sagt sie. «Es lohnt sich nicht, Erneuerbare sind günstiger.» Kemfert hat in einer Studie mit einem Team europäischer Kollegen aufgezeigt, dass sich der steigende Strom­bedarf in Europa vollständig und kosten­günstig decken lässt. Erneuerbare Energien liefern ihr zufolge also genug Strom – auch, um Wasser­stoff zu gewinnen.

Doch dieser Fakt taucht in den Plänen der EU-Kommission nicht auf. Öffentlichkeits­wirksam publizierte sie im Sommer eine europäische Wasserstoffstrategie. Darin räumen die Regierungen Wasser­stoff aus erneuerbaren Energie­quellen künftig viel Bedeutung ein. Doch im EU-Papier wird ausdrücklich auch auf «Wasser­stoff auf fossiler Basis» gesetzt.

Mit umgesetzt werden soll die EU-Strategie von einer Plattform namens «Clean Hydrogen Alliance». Diese soll erarbeiten, welche Wasserstoff­vorhaben künftig finanziert werden. Interne Dokumente, die Investigate Europe vorliegen, zeigen, dass dem Gremium neben Dutzenden von Industrie­vertretern nur vier zivil­gesellschaftliche Organisationen angehören.

Auch hier sitzen also wieder die mächtigen Gaskonzerne am Tisch. Wie schon bei Erdgas- könnten sie künftig auch bei Wasserstoff­projekten mitreden. Es könnte sogar geschehen, dass entsprechende Vorhaben mit Mitteln aus dem 750 Milliarden Euro schweren Corona-Rettungs­fonds finanziert werden: Anfang September öffnete die Mehrheit im EU-Parlament einen Hilfsfonds, der für alte Kohle­regionen gedacht ist, für Gasprojekte.

Zur Rechtfertigung verweist die Gasbranche gerne auf den Weltklimarat. Er hält den Einsatz von CCS für notwendig, um eine klima­neutrale Lebens­weise zu erreichen. Aber die Wissenschaftler des Weltklimarats planen die unter­irdische Verpressung von Kohlen­dioxid vor allem als Möglichkeit, der Atmosphäre zusätzlich Treibhaus­gas zu entziehen. «Wenn CCS nur als Entschuldigung dafür genutzt wird, weiter fossile Energie­träger zu nutzen, wird unser System irgendwann zusammen­brechen», warnt der frühere stellvertretende Klimarat-Chef Jean-Pascal van Ypersele im Gespräch mit Investigate Europe. «Natürlich hilft es, weniger klima­schädliche Gase zu emittieren. Aber sich nur auf CCS zu verlassen, wäre Wahnsinn.»

Irrwege der Geopolitik

Trotz dieser Widersprüche laufen die Erdgas-Ausbaupläne ungebrochen weiter. Welche Projekte etwa in Deutschland gebaut werden, regelt der dortige Netz­entwicklungs­plan Gas. Wie in Brüssel sitzen auch hier die Gas­konzerne mit am Tisch. Und es werden die erwiesener­massen unrealistischen Prognosen der Entsog genutzt. Die Folge: In keinem anderen Land Europas sind so viele Flüssiggas­terminals geplant wie in Deutschland.

Entlang der Nordseeküste werben gleich drei Städte um Investoren für einen solchen Umschlag­platz – unterstützt durch die Bundes­regierung. Die wirbt für Flüssig­erdgas, kurz LNG (liquefied natural gas), mit den Worten, es sei «strategisch bedeutend, die Anlandung von LNG auf deutschem Bundes­gebiet zu ermöglichen». Beim Streit ums Gas geht es ihr auch um etwas, was offensichtlich noch immer mehr zählt als Klima­schutz oder wirtschaftlicher Nutzen: die Geopolitik.

Dafür steht in Europa wie kein anderes Projekt die Pipeline Nord Stream 2. Sie führt vom russischen Wyborg nach Greifswald im Nordosten Deutschlands und wird die Kapazität für Gasimporte mal eben verdoppeln.

Die Mehrheit der EU-Staaten hat sich von Anfang an gegen das Projekt ausgesprochen. Aber die Bundes­regierung hält im Verein mit Russlands Staats­konzern Gazprom und den deutschen Netz­betreibern eisern daran fest. Und genauso eisern bekämpfen US-Politiker das Vorhaben. Die dabei feder­führenden Senatoren drohen der kleinen Gemeinde Sassnitz gar mit wirtschaftlicher «Vernichtung», weil aus ihrem Hafen die Rohre für das letzte Teilstück verschifft werden – vorgeblich, um Europa vor Abhängigkeit von Russland zu schützen. Dabei geht es auch auf amerikanischer Seite um Geld. Die US-Gasindustrie braucht dringend neue Abnehmer in Europa. Den dortigen Unter­nehmen droht wegen des Preis­verfalls eine Massenpleite.

So führt die geopolitische Konfrontation zu einem paradoxen Ergebnis. Um dem Druck aus dem US-Kongress zu begegnen, bietet der deutsche Finanz­minister Olaf Scholz im Namen der Bundes­regierung an, den Bau von zwei Flüssiggas­terminals an der Nordsee­küste mit bis zu 1 Milliarde Euro zu unterstützen, um den Import aus den USA zu erleichtern. «Im Gegenzug», so schrieb Scholz, sollen «die USA die ungehinderte Fertig­stellung und den Betrieb von Nord Stream 2 erlauben».

Dabei brauche Europa weder das eine noch das andere, konstatiert Felix Matthes, Energie­chef des Öko-Instituts. Die vorhandenen 20 Terminals in Europa seien aktuell und absehbar nur zur Hälfte oder weniger ausgelastet, melden auch die Betreiber. Gleichzeitig werde der Gasimport schon infolge der bereits beschlossenen Klima­schutz­massnahmen um ein Fünftel sinken.

Es ist also höchst unwahrscheinlich, ob das Gas aus Russland oder den USA überhaupt genug Abnehmer findet. Dasselbe gilt für jenes aus Europas zweitem geostrategischem Hotspot: dem östlichen Mittelmeer.

Dort inszenieren der türkische Präsident Recep Erdoğan und sein griechischer Gegenpart, Minister­präsident Kyriakos Mitsotakis, seit Wochen einen bizarren Streit, für den sie am 19. August sogar zwei ihrer Kriegs­schiffe kollidieren liessen. Der Konflikt begann damit, dass die Türkei ein Forschungs­schiff in eine Meeres­region zwischen Kreta und Zypern entsandte, die Griechenland als Staats­gebiet gilt. Erdoğan hofft darauf, dass dort – genauso wie südlich von Zypern – weitere Erdgas­lager zu finden sind.

Ein Hoffnungsschimmer

Unter Vermittlung von Kanzlerin Angela Merkel wandten die beiden Länder die Eskalation zunächst ab. Aber gleichzeitig mischte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein und bot den Griechen Waffen­hilfe mit Jagd­flugzeugen, Hubschraubern und Kriegs­schiffen. All das mutet an wie ein Rückfall ins vergangene Jahrhundert, dem längst der Sinn abhanden­gekommen ist.

«Die Wahrscheinlichkeit, dass in diesem Gebiet Kohlen­wasserstoff gefunden wird, ist gering», erklärt Charles Ellinas, ein zypriotischer Industrie­fachmann und Senior Fellow des Atlantic Council, der seit vielen Jahren für die Gasindustrie in der Region arbeitet. Und selbst wenn, werde eine Förderung voraussichtlich unwirtschaftlich sein, weil der Klima­schutz die Nach­frage senke. Das klingt logisch – aber bei den Geostrategen in Istanbul und Athen ist die Botschaft noch nicht angekommen.

Immerhin – ganz am anderen Ende von Europa ist man weiter. In Portugal entschied die Regierung Anfang September, künftig keine Erdgas­förderung mehr zu genehmigen. «Ich denke, die Erschliessung von Erdgas­reserven ergibt heutzutage keinen Sinn mehr», sagt João Galamba, Staats­sekretär für Energie, im Gespräch mit Investigate Europe. «Gas ist nicht nötig für den Übergang.» Portugal setze stattdessen auf die Wasserstoff­gewinnung aus Solar­kraft. Der Export nach Deutschland soll schon bald beginnen.

Zur Recherche-Kooperation

Investigate Europe ist ein Journalisten­team aus neun Ländern. Es veröffentlicht die Ergebnisse seiner Recherchen europa­weit. Das Projekt wird von diversen Stiftungen sowie von privaten Spenden und Leser­beiträgen unterstützt. Zu den Medien­partnern für die Recherche über die Gasindustrie gehören neben der Republik unter anderem «Der Tagesspiegel» (Deutschland), «Svensk Natur» (Schweden), «Newsweek Polska» (Polen), «Público» (Portugal), «Il Fatto Quotidiano» (Italien), «De Groene Amsterdammer» (Niederlande) und «Trends» (Belgien). Hauptautoren des vorliegenden Beitrags sind Nico Schmidt und Harald Schumann. Für die Redaktion vonseiten der Republik ist Simon Schmid verantwortlich.

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