Am Gericht

Gefährdeter als gefährdet

Die Schweiz lehnt Anträge um humanitäre Visa fast immer ab. Die Hürden sind so hoch, dass man sich fragt: Wer lebt noch gefährlicher als eine Frauenrechts­aktivistin in Afghanistan?

Von Jana Schmid, 01.05.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
0:00 / 15:25

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Mitten im Kalten Krieg verabschiedete die Schweiz 1979 ihr erstes Asylgesetz. Es war «von bemerkenswert liberalem Geist», wie die Schweizerische Flüchtlings­hilfe schreibt. Der Zweite Weltkrieg hatte einen weltoffenen Zeitgeist hervorgebracht. Geflüchtete aus kommunistischen Diktaturen empfing man mit offenem Herzen.

Doch seither wurde das schweizerische Asyl­recht bis heute praktisch nur noch verschärft.

Ein Beispiel dafür ist das Botschaftsasyl. 1979 eingeführt, bot es Menschen in Gefahr die Chance auf sichere Fluchtwege. Sie konnten direkt auf einer Schweizer Botschaft ein Asylgesuch stellen. Wurde es bewilligt, durften sie legal in die Schweiz einreisen und bleiben. Die Hürden dafür waren immer schon hoch.

2012 schaffte die Schweiz das Botschafts­asyl wieder ab. Die Begründung des Bundesrats: Es sei «verlockend» für Personen, die nicht gefährdet sind, aber nach Europa auswandern wollen.

Es wurde eine bewusst strengere Alternative geschaffen: das humanitäre Visum.

Wer in seinem Herkunfts­staat «unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet ist», kann auf einer Schweizer Botschaft im Ausland ein Visum erhalten, um für 90 Tage in die Schweiz einzureisen und hier ein Asylgesuch zu stellen.

So wahre die Schweiz ihre humanitäre Tradition, erklärte der Bundesrat.

Doch die Anzahl Menschen, die von dieser Tradition profitieren, ist sehr klein. In den vergangenen drei Jahren stellte das Staats­sekretariat für Migration (SEM) insgesamt 339 humanitäre Visa aus, wie es auf Anfrage mitteilt. 6176 Gesuche, die via Botschaften im Ausland beim Staats­sekretariat eingingen, lehnte es ab.

Die meisten Gesuche in den letzten drei Jahren kamen aus Afghanistan. Gemäss Schätzungen sind mehr als 8 Millionen Afghaninnen und Afghanen auf der Flucht, innerhalb oder ausserhalb der Landesgrenzen. Das SEM hat seit Anfang 2021 insgesamt 212 humanitäre Visa für Personen aus Afghanistan gewährt.

Ort: Bundesverwaltungs­gericht, St. Gallen
Zeit: 7. März 2024
Fall-Nr.: F-3560/2023
Thema: Humanitäres Visum

Bahar Ahmadi, die eigentlich anders heisst, wuchs in Herat auf, der zweit­grössten Stadt Afghanistans. Im Jahr 2001 stürzten die USA die Taliban. Damals 23-jährig, begann Bahar Ahmadi ihr feministisches Engagement. Sie habe die erste Frauen­organisation in Herat gegründet: den «Women’s Social Council».

So brachte sie es vor dem Bundes­verwaltungs­gericht vor.​ Dieses Verfahren ist rein schriftlich – sowohl die Beschwerde als auch das Urteil. Nichts davon wird mündlich in einem Gerichts­saal vorgetragen.

Das Gleiche gilt fürs voran­gegangene Verfahren beim Staats­sekretariat für Migration. Ein persönliches Gespräch mit Bahar Ahmadi führte einzig die Schweizer Botschaft in Teheran. Für die Beschwerde­verfahren wurde Ahmadi von der Schweizer Asylrechts­organisation Asylex vertreten, die die deutsch­sprachigen Beschwerden verfasste. Die Republik stützt sich in diesem Artikel auf das schriftliche Urteil des Bundes­verwaltungsgerichts.

Ahmadi machte Karriere. Und die war ganz den Frauen­rechten verschrieben. Ihrer Beschwerde legte sie zahlreiche Dokumente bei, die ihre beruflichen Tätigkeiten belegen sollen. Etwa Arbeits­verträge und -bestätigungen, Ausweise, eine Friedens­medaille, Fotos von Auftritten, die sich gemäss ihren Angaben gegen die Taliban gerichtet hätten, sowie ein Schreiben des Gouverneurs der Provinz Herat, der ihr für ihren langjährigen Einsatz «für die Gleich­stellung und gegen die Taliban» dankte.

Bahar Ahmadi leitete die Abteilung für Frauen­angelegenheiten im gleichnamigen afghanischen Ministerium.

Sie wurde zur stellvertretenden Frauen­beauftragten des Landes befördert. Und sie trieb die strafrechtliche Verfolgung von frauen­spezifischer Gewalt voran.

An einer privaten Universität unterrichtete sie ab 2012 während fünf Jahren als Professorin für Recht und Politik­wissenschaften.

Dann arbeitete sie für das von den USA geförderte Programm «Promote Women’s Leadership Development». Sie organisierte Sport­projekte für Frauen. Die Bekämpfung extremistischer Ideologien der Taliban sei Teil ihres Jobs gewesen, führte sie aus.

2017 leitete sie ein Jahr lang ein afghanisches Frauenradio. Es strahlte auch Taliban-kritische Sendungen aus.

Schon bevor die Taliban am 15. August 2021 wieder die Macht im Land an sich rissen, hatte Bahar Ahmadis Engagement Gefahren mit sich gebracht.

Im Juli 2020, so Ahmadi, habe sie den Campus eines von ihr gegründeten Fitness­centers verlassen. Da hätten die Taliban versucht, sie zu erschiessen. Weitere Details zu dieser Attacke gehen aus dem Urteil nicht hervor. Danach habe sie immer wieder Todes­drohungen erhalten. Sie suchte erstmals nach Möglichkeiten, Afghanistan zu verlassen.

Die USA boten ihr ein Visum an – nicht aber ihren volljährigen Töchtern, damals 21 und 23 Jahre alt. Diese zurück­zulassen, kam für Ahmadi nicht infrage. Sie blieb. Doch die Todes­drohungen wurden mehr. Ahmadi schildert in ihrer schriftlichen Beschwerde, sie habe nach der Macht­übernahme der Taliban zunächst wieder an der Universität unterrichten können. Sie habe an Demonstrationen teilgenommen und Bilder davon auf sozialen Netzwerken geteilt. Auch einen Brief an einen Taliban­führer veröffentlichte sie auf Facebook. Der Beschwerde vor Bundes­verwaltungs­gericht legte sie Screenshots davon bei.

Im Dezember 2021 seien mehrere Personen bei ihr zu Hause aufgetaucht, um sie zu verhaften, schreibt Ahmadi in ihrer Beschwerde. Sie war nicht zu Hause. Also hätten die Fremden stattdessen ihren Bruder mitgenommen, ihn inhaftiert und gefoltert. Nach drei Tagen hätten sie ihn entlassen, nachdem er das Versprechen abgegeben habe, seine Schwester werde sich fortan ruhig verhalten und sich nicht weiter öffentlich äussern.

Ein halbes Jahr später, im August 2022, habe ein Mann sie auf der Strasse erkannt. Sie hatte früher einmal dafür gesorgt, dass er inhaftiert worden war. Er hatte seiner Frau die Lippen abgeschnitten.

Noch am selben Abend sei dieser Mann mit einem offiziellen Schreiben der Taliban bei Bahar Ahmadi aufgetaucht. Es war ein Drohbrief, und wie immer drohte man ihr mit dem Tod. Zudem sollte sie ihre Töchter an die Taliban­kämpfer übergeben, zwecks Heirat. Der Drohbrief liegt der Beschwerde bei. Ahmadi reagierte nicht auf das Schreiben.

Fünf Tage darauf versuchten drei bewaffnete Männer, Ahmadis damals 17-jährigen Sohn zu entführen. Es gelang ihnen nicht. Doch die Familie musste laut Bahar Ahmadis schriftlichen Schilderungen nun endgültig untertauchen. Sie versteckten sich, so Ahmadi, an unter­schiedlichen Orten, in der Umgebung von Herat.

Wo Gefahr, da keine Botschaft

Wer ein humanitäres Visum beantragen will, muss persönlich auf einer Schweizer Botschaft oder einem Schweizer Konsulat vorsprechen. Die Botschaft prüft das Gesuch und fällt einen Entscheid. Lehnt sie ab, kann beim Staats­sekretariat für Migration Einsprache erhoben werden. Wird auch diese abgelehnt, steht eine Beschwerde ans Bundes­verwaltungs­gericht offen.

Wie erwähnt: All diese Verfahren sind schriftlich. Abgesehen von den Botschaften hat keine der Behörden direkten Kontakt mit den Antrag­stellenden. Für den Beschwerde­weg in der Schweiz sind sie in der Regel auf eine hiesige Rechts­vertretung angewiesen.

Die inhaltlichen Voraus­setzungen für ein humanitäres Visum lesen sich abschreckend.

Betroffene müssen in ihrem Heimatstaat «unmittelbar», «ernsthaft» und «konkret» an Leib und Leben gefährdet sein, steht im Gesetz. Praxisgemäss wird das Visum nur unter «sehr restriktiven Bedingungen» ausgestellt, konkretisiert das Bundes­verwaltungs­gericht. Und zwar bloss dann, wenn «offensichtlich» davon ausgegangen werden muss, dass sich die Person in einer «besonderen» Notsituation befindet, die ein behördliches Eingreifen «zwingend» erforderlich macht. Diese Notsituation muss sich zudem «massgeblich» von der Situation anderer Personen in derselben Lage abheben.

Und anders als im Asyl­verfahren müssen Betroffene ihre Gefährdung nicht nur glaubhaft machen, sondern «beweisen».

Man muss also, um eine Chance auf dieses exklusive Recht zu haben, an einem sehr gefährlichen Ort auf der Welt ganz besonders gefährdet sein. Man muss das Messer praktisch am Hals haben.

Und das beweisen können.

Nur: Just an den gefährlichsten Orten dieser Welt gibt es nicht immer eine Schweizer Botschaft – eben weil die Orte so gefährlich sind. Zum Beispiel in Afghanistan. Oder in Gaza.

Um einen Antrag für ein humanitäres Visum stellen zu können, müssen Menschen aus diesen Regionen in ein anderes Land reisen. Das ist jedoch nur in Ausnahme­fällen möglich. Und wenn, dann meistens sehr riskant.

Wem die Reise gelingt, dem legen die Schweizer Behörden diesen Erfolg dann häufig zum Nachteil aus: Befinden sich die betroffenen Personen in einem Drittstaat, sei in der Regel davon auszugehen, dass keine Gefährdung mehr bestehe, argumentiert das Bundes­verwaltungs­gericht.

So gingen von Januar bis Ende März 2024 beim SEM 18 Gesuche von Personen aus Palästina ein. Alle müssen bei einer Vertretung in einem Drittstaat – meistens Ägypten – eingereicht worden sein. Alle Gesuche wurden abgelehnt. Das teilt das Staats­sekretariat auf Anfrage der Republik mit.

«Wenn nicht sie, wer dann?»

Bahar Ahmadi versuchte es im Iran. «Nur mit viel Glück», wird sie im Urteil zitiert, sei ihr zusammen mit dem Ehemann, den beiden Töchtern und dem Sohn die Reise gelungen, ohne verhaftet zu werden. Im Oktober 2022 sprach die Familie auf der Schweizer Botschaft in Teheran vor und ersuchte um ein humanitäres Visum. Mündlich habe man ihr dort mitgeteilt, dass sie die Voraussetzungen erfülle, erzählte Bahar Ahmadi später ihrer Rechts­vertreterin.

Trotzdem wies die Botschaft das Gesuch im Januar 2023 ab. Die Asylrechts­organisation Asylex reichte für Bahar Ahmadi Einsprache beim SEM ein. Im Mai 2023 wurde auch diese abgelehnt. Sie zogen den Entscheid ans Bundes­verwaltungs­gericht weiter.

Die Familie hielt sich während dieser Zeit im Iran und in Pakistan auf. Die Juristin Elena Liechti von Asylex vertrat sie im Verfahren.

Im Gespräch mit der Republik sagt Liechti: «Die Chancen auf ein humanitäres Visum sind verschwindend klein. Aber bei diesem Fall wagte ich für einmal, etwas zuversichtlich zu sein.» Die Lebens­umstände von Bahar Ahmadi als renommierter afghanischer Frauenrechts­aktivistin seien so klar höchst gefährlich, dass Elena Liechti findet: «Wenn sie die Voraus­setzungen für ein humanitäres Visum nicht erfüllen sollte – wer dann?»

Doch das Bundesverwaltungs­gericht sieht es anders. In ihrem Urteil vom 7. März 2024 lehnen die beiden Richter Basil Cupa und Daniele Cattaneo sowie Richterin Claudia Cotting-Schalch die Beschwerde ab.

Die zahlreichen Dokumente, mit denen Ahmadi in ihrer Beschwerde ihre Geschichte belegt hatte, liessen sich nicht auf ihren Inhalt und ihre Echtheit überprüfen, schreibt das Gericht.

Es erscheine aufgrund dieser Belege aber plausibel, dass sich Ahmadi seit über 20 Jahren für Frauen­rechte engagiere. Insgesamt verfüge sie «abstrakt betrachtet über ein gewisses Risikoprofil». Auch weil sie für US-amerikanische Programme und für die afghanische Regierung gearbeitet habe.

Trotzdem erkennt das Gericht verschiedene Hinweise darauf, dass Ahmadi doch nicht dermassen gefährdet sei. Etwa weil die Familie offenbar unbehelligt in den Iran reisen konnte. Oder weil Ahmadi nicht (ohne ihre Töchter) in die USA geflüchtet war, obwohl sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte.

Die Frau könne insgesamt keine unmittelbare, ernsthafte und konkrete Gefährdung in Afghanistan aufzeigen.

Das Schicksal der Frauenrechts­aktivistin nahm trotzdem noch eine gute Wendung. Das hat mit den Schweizer Behörden allerdings nichts zu tun.

Am 26. Januar 2023 sicherte das deutsche Innen­ministerium der Familie im Rahmen eines humanitären Aufnahme­programms ein Visum zu. Was die deutschen Behörden anders einschätzten als die schweizerischen, lässt sich nicht herausfinden. Der positive Entscheid aus Deutschland, der der Republik vorliegt, ist nicht begründet.

Doch Bahar Ahmadi muss das nicht mehr kümmern: Ende Januar gelang ihr mit der Familie die Reise nach Deutschland.

Illustration: Till Lauer

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