Nach Nawalny

Der Tod von Alexei Nawalny war ein Schock für Putins Gegner. Der Verlust ist bitter, und doch kann er neue Möglichkeiten eröffnen. Vieles hängt jetzt von seiner Witwe Julija Nawalnaja ab.

Ein Essay von Fedor Agapov, 29.04.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
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Im Mittelpunkt: Julija Nawalnaja will das Werk ihres verstorbenen Gatten Alexei fortführen. Carsten Koall/dpa/Keystone

Der 16. Februar dieses Jahres war ein schwarzer Tag für Russlands Opposition: der Todestag von Alexei Nawalny, Hoffnungs­träger und zentrale Leitfigur. Schmerzhafter war einzig der 24. Februar 2022, als die russische Armee in die Ukraine einmarschierte. Doch an den Krieg, der seit mehr als zwei Jahren andauert, haben sich die Menschen inzwischen mehr oder weniger gewöhnt. Nawalnys Tod hingegen ist ein Schock, der längst nicht verarbeitet ist und von dem sich der demokratisch orientierte Teil der russischen Gesellschaft erst erholen muss.

Die Medienartikel, die dem Tod Nawalnys gewidmet waren, sprachen in der Regel ausführlich über das Ende der Meinungs­freiheit in Russland oder darüber, dass Putin nichts mehr fürchtet und deshalb seinen wichtigsten politischen Gegner offen tötete. Einige Autorinnen erinnerten sich sogar daran, dass Nawalny selbst seinen Kampf mit der Handlung in Harry Potter verglichen und Putin als Voldemort bezeichnet hatte. Sie kamen entsprechend zu dem Schluss, dass im Falle Russlands die Kräfte des Bösen gesiegt hätten und mit Nawalny die letzte Hoffnung auf positive Veränderungen in Russland gestorben sei.

Dieser Sichtweise möchte ich widersprechen, auch indem ich nicht nur auf Nawalnys Tod, sondern darüber hinaus­schaue. Denn neben ihm gab und gibt es andere Oppositionelle, Aktivistinnen und Meinungs­führer, die öffentlich präsent und aktiv sind. Entscheidend für ihre politischen Chancen im Russland der Zukunft wird sein, wie sie jetzt ihre Strategien anpassen. Ihre Rolle kann sich nicht nur auf den Krieg in der Ukraine, sondern auch darauf auswirken, ob der Frieden im übrigen Europa erhalten bleiben wird.

Zum Autor

Fedor Agapov ist ein russisch-deutscher Politologe und Journalist. Seine Forschungs­interessen sind russische Politik, internationale Beziehungen und politische Theorie. Heute arbeitet er als Produzent bei TV Rain, einem unabhängigen Nachrichten­sender, der seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine seinen Standort nicht mehr in Russland haben kann.

Doch um die Optionen der russischen Opposition zu verstehen, muss man zuerst begreifen, was sie mit Nawalny verloren hat. Lassen wir also das Gerede über Harry Potter und konzentrieren wir uns auf die reale politische Rolle, die er spielte.

Nawalny hat ein sehr aktives Leben geführt. Es ist ihm gelungen, eine Vielzahl politischer Projekte ins Leben zu rufen und umzusetzen. Eigentlich bestand jede Phase seiner Biografie aus einem solchen Projekt. Dadurch hat er nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland Kontakte zu einer Vielzahl von gesellschaftlichen Kreisen geknüpft.

Eine anerkannte Leitfigur

Nawalnys grösstes Projekt und zugleich sein grösster politischer Erfolg war der Fonds für Korruptions­bekämpfung (FBK). Er ermöglichte ihm, in Russland ein breites Publikum zu erreichen. Denn da viele Menschen in Russland Putin unterstützen, sind sie durch Kritik an der Regierung nur schwer zu erreichen. Vielen demokratisch orientierten Politikern war es darum unmöglich, eine gemeinsame Basis mit breiten Teilen der Bevölkerung zu finden.

Es gibt jedoch eines, über das sich progressive und regierungs­treue Bürger in Russland gleicher­massen ärgern: die Korruption, die die Führungs­schicht des Landes durchdringt. Nawalny, mit seinem feinen Gespür für politische Stimmungen, traf genau diesen Nerv, indem er Videos über das luxuriöse Leben der russischen Beamten drehte. Das brachte ihm zwar den Hass der Regierung ein, aber neben der Unterstützung der Opposition zum Teil sogar die von regierungs­treuen Bürgern.

Der ausgewogene Ton von Nawalnys Reden und sein Fokus auf innen­politische Themen, die konkret das Leben der Menschen berührten, fand nicht nur bei jungen Menschen Aufmerksamkeit, sondern sprach auch ältere Menschen an, die sonst der Opposition weniger zugeneigt sind.

Seine Rhetorik kombiniert die Forderungen nach dem Schutz von Rechten für Minderheiten mit dem Image des verheirateten Mannes und Vaters von zwei Kindern: Nawalny war ein Sympathie­träger, der die breite Masse ansprach. Er stand damit im krassen Gegensatz zu Putin, der geschieden ist und sich ständig homophob äussert, aber in der Öffentlichkeit fast nichts über seine Familie verlauten lässt.

Dass Nawalny für die letzten Jahre seines Lebens in eines der härtesten Gefängnisse Russlands gesperrt wurde, brachte ihm viel Glaubwürdigkeit bei Russinnen aus der Unterschicht ein, die Ähnliches oft genug erleben. Nawalny hätte gute Chancen gehabt, von ihnen unterstützt zu werden. Leider verhindert sein Tod, dass es jemals dazu kommen kann.

Auch im Westen genoss Nawalny Ansehen. Er galt als progressiver Politiker, der ein halbes Jahr in Yale studiert hatte und fliessend Englisch sprach. Der Dokumentar­film über seinen politischen Werdegang erhielt 2023 einen Oscar. Der Westen sah Nawalny als einen europäischen Politiker, der der russischen Diktatur trotzte. Ja, Nawalny war ein für Russland einzigartiger Politiker, der mit fast jedem eine gemeinsame Sprache finden konnte. Eine derartige Konsens­figur sucht man nach seinem Tod unter Wladimir Putins Gegnern vergebens. Darin lag der grösste politische Verlust für die russische Opposition.

Optionen für die Zukunft

Paradoxerweise besteht dennoch die Möglichkeit, dass aus dem schmerzlichen Verlust etwas Gutes erwächst.

Eine Demokratie entsteht nicht dadurch, dass Menschen, die sich Demokraten nennen, an die Macht gelangen. Sondern durch stabile politische Institutionen, die ermöglichen, dass Kandidierende in einem fairen Wettbewerb um die Posten in der Regierung kämpfen. Ich wiederhole: Institutionen sind in einer Demokratie viel wichtiger als Individuen.

Mit dem Tod Nawalnys könnte daher eine neue Phase für die russische Opposition beginnen – statt dass die Verantwortung auf den Schultern nur eines starken Anführers lastet, verteilt sie sich nun auf all jene, die zuvor in seinem Schatten standen.

Schliesslich hatte die russische Opposition in den vergangenen Jahrzehnten vorrangig dieses Ziel: den Zustand zu beenden, dass die Zukunft des Landes in den Händen einer einzigen Person liegt. Nun kann sie zeigen, was sie taugt. Wenn der demokratische Widerstand überleben will, muss er neue Taktiken entwickeln, um mehr Unter­stützung zu gewinnen. Gelingt es ihm, die russische Opposition tiefer in der Gesellschaft zu verwurzeln, erhöht dies die Chancen auf einen Erfolg im Kampf um die Zukunft Russlands. Doch bis dahin gilt es, viele Hindernisse zu überwinden; viel hängt davon ab, wie sich die Opposition nach Nawalnys Tod jetzt neu ausrichtet.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie sich der russische Widerstand entwickeln könnte:

Option 1: Zerfall der Opposition in isolierte Gruppierungen
Es wäre eine absolute Niederlage, wenn der russische Widerstand ohne die Leitfigur Nawalny in unterschiedliche Gruppierungen zerfiele, die sich in ständigem Konflikt miteinander befinden. Dann würden zum Beispiel die regionalen Aktivisten, die der Zentralisierung durch Moskau müde sind, eine Social-Media-Kampagne gegen in Moskau beheimatete Oppositionelle führen, und diese wiederum würden sich je nach Idealen und politischen Präferenzen in weitere Gruppen aufsplittern.

Eine solche interne Auseinander­setzung wäre die schlimmste Entwicklung und würde jedes Potenzial des russischen Widerstandes zerstören, der aktuell ohnehin vor allem aus russischen Oppositionellen und Journalistinnen besteht, die sich ins Ausland gerettet haben. Im Falle einer derartigen Zerfaserung hätten die Gegner Putins, die Russland verlassen haben, keine Chance mehr, mit denen zu kommunizieren, die im Land geblieben sind. Der Widerstand würde nur noch in Form getrennter, kleiner Gruppen existieren, die sich gegenseitig verachten.

Option 2: Weitermachen wie bisher, während der Protest langsam erlischt
Eine der grössten Heraus­forderungen für den russischen Widerstand besteht aktuell darin, die ärmere, weniger politisierte Bevölkerung zu erreichen. Selbst Nawalnys Popularität war ausserhalb der Grossstädte relativ begrenzt, ganz zu schweigen vom Rest der Opposition. Dies ist aber auch der Grund, warum die Opposition sich hüten sollte, sich um Alexeis Witwe
Julija Nawalnaja zu scharen und es zu unterlassen, die Kommunikations­strategie zu ändern. Zu Recht wird die derzeitige Exil­opposition als verschlossen und wenig engagiert wahr­genommen, wenn es darum geht, die Mehrheit der russischen Bevölkerung zu erreichen. Der demokratische Widerstand erscheint ausschliesslich als Angelegenheit von Moskau und Sankt Petersburg.

Selbst wenn es der Exil­opposition gelingen sollte, sich zu einen, würde sie trotzdem scheitern, solange sie es nicht schafft, die Unterstützung der breiten Masse zu gewinnen. Verglichen mit der Bevölkerung Russlands zählt die Opposition im Exil äusserst wenige Köpfe. Es braucht also zwingend die Unterstützung der Menschen in den Regionen, damit die Opposition Aussicht auf Erfolg haben könnte.

Option 3: Julija Nawalnaja tritt in die Fussstapfen ihres Mannes
Die Optionen 1 und 2 zeigen, dass in der ersten Phase des Widerstandes eben doch viel von Julija Nawalnaja abhängen wird, die öffentlich deklariert hat, in die Fuss­stapfen ihres Mannes treten zu wollen. Das wäre die dritte und beste Option für die Zukunft des russischen Widerstandes. In diesem Szenario wird Julija Nawalnaja zur Führungs­figur des aktuellen demokratischen russischen Protests, ohne dass sie den Rest der Opposition überschattet. Dies würde ermöglichen, dass horizontal strukturierte politische Organisationen entstehen, die sich im richtigen Moment zu einer mächtigen Bewegung im Kampf gegen die Diktatur zusammen­schliessen könnten.

Die Bedeutung von Julija Nawalnaja

Es mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, dass ich sage, der Erfolg der russischen Opposition hänge von Julija Nawalnaja ab, nachdem ich zuvor dafür plädiert habe, dass nicht erneut eine Abhängigkeit von einer einzelnen Leitfigur entstehen dürfe.

Es kommt aber einfach vor, dass einer bestimmten Einzel­person in einer bestimmten historischen Phase eine zentrale Rolle zufällt. Die Probleme, mit denen Julija Nawalnaja konfrontiert ist, unterscheiden sich stark von denen, mit denen sich ihr Mann auseinander­setzen musste.

Während Alexei Nawalny die Opposition auf sich selbst als Leitfigur zu einen suchte, weil die Umstände dies erforderten, muss Julija Nawalnaja im Gegenteil die übermässige Konzentration auf ihren Ehemann auflösen. Sie muss ein neues, effizientes Team mit erkennbaren Gesichtern zusammen­stellen und ihre eigene politische Marke aufbauen, ohne ihre Mitstreiterinnen zu sehr in den Schatten zu stellen. Mit anderen Worten: Um erfolgreich zu sein, muss sie das werden, was Alexei nicht gelungen ist – eine «Erste unter Gleichen» zu sein. Eine Politikerin, die die Opposition repräsentieren kann, ohne dass ihr Ausfall eine ähnliche Krise bedeuten würde, wie sie nun der Tod Nawalnys ausgelöst hat.

Es ist in dieser Hinsicht von Vorteil, dass vor dem Tod ihres Mannes wenig über Julija Nawalnaja bekannt war. Sie wird nicht in gleichem Masse in der Lage sein, Einfluss zu nehmen wie er. Gleichzeitig ist sie nicht den gleichen Verpflichtungen innerhalb der Opposition unterworfen, wie es ihr Ehemann war. Es dürfte darum leichter für sie werden, ungünstige Verbindungen aufzulösen.

Zum Beispiel ist der FBK, den Alexei Nawalny gegründet hatte, in verschiedene Skandale verwickelt. Sein Ruf ist angeschlagen. Das wird zum Problem für die Gegner Putins, die darauf angewiesen sind, sich die Gunst der russischen Bürgerinnen zu sichern.

Julija Nawalnaja ist den Personen, die den FBK derzeit leiten, nicht so tief verbunden, wie es ihr Mann war. Sie kann sich darum von missliebigen Einzel­personen besser distanzieren und ihre Entlassung fordern. Nawalnaja hat eine gute Ausgangs­position: Sie ist eine Ehefrau, die ihren Mann durch staatliche Gewalt verloren hat. Das wird bei vielen Menschen im Land Anklang finden, zumal Frauen die Mehrheit der russischen Bevölkerung bilden und viele von ihnen ihre Männer wenn nicht durch staatliche Repression, dann vielleicht durch Krieg verloren haben.

Dazu passt, dass Ehefrauen von russischen Soldaten vor kurzem einen «legalen» Protest organisiert hatten, mit dem sie beklagten, dass ihre Männer zu lange an der Front bleiben mussten. Einige von ihnen gingen so weit, dass sie dazu aufriefen, bei den kürzlich abgehaltenen Präsidentschafts­wahlen gegen Putin zu stimmen – für russische Verhältnisse eine sehr kühne Form des Widerstandes gegen die Willkür der Behörden.

Progressiver Patriotismus

Ein weiteres zentrales Problem, das Nawalnaja lösen muss: Bei vielen Bürgerinnen hält sich hartnäckig die Auffassung, dass Oppositionelle nicht nur Gegner des Putin-Regimes seien, sondern der russischen Gesellschaft insgesamt. Zum grossen Teil prägt staatliche Propaganda diese Wahrnehmung. Aber auch die Anhängerinnen der Opposition selbst tragen dazu bei. So postete etwa Anna Veduta, Mitarbeiterin des FBK, auf X ein Foto mit einem ukrainischen Geschoss, auf dem eine Botschaft an das russische Militär zu lesen war: «Euer Feind ist im Kreml, nicht in der Ukraine.» Der Post (er wurde mittlerweile gelöscht) sollte Solidarität mit der Ukraine zum Ausdruck bringen. Doch eine solche Geste durch eine russische Politikerin erscheint aus Sicht der Russen äusserst zweideutig. Vor allem, weil längst nicht alle russischen Soldaten aus freien Stücken an der Front sind.

Julija Nawalnaja muss einen schwierigen Balance­akt schaffen: Sie muss zum einen die Unter­stützung des Westens für die Opposition gewinnen. Und sie muss zugleich darauf achten, dass sie in den Augen der russischen Bürger nicht als «Marionette des Weissen Hauses» erscheint. Die jüngsten Fotos von ihr mit US-Präsident Joe Biden könnten ihrem Ansehen in den Augen vieler Bürger Russlands schaden, da sie auf diese Weise nicht nur als Kriegs­gegnerin, sondern auch als Verbündete der Vereinigten Staaten erscheint. Für das Image eines russischen Politikers gibt es wenig, das schädlicher wäre.

Zentral für die Zukunft der Opposition wird sein, ob es ihr gelingt, horizontale Strukturen aufzubauen, die nicht mehr nur mit dem Namen Nawalny verbunden sind. Neben Julija Nawalnaja müssen weitere Führungs­personen an die Öffentlichkeit treten und an Bekanntheit gewinnen. Zentral ist ausserdem, dass Nawalnaja die Unterstützung der Russen über die kleine Schicht der Intellektuellen in der Hauptstadt hinaus gewinnen kann. Vor allem aber braucht der russische Widerstand eine koordinierte Anstrengung, um die Kluft zu überwinden, und zwar zwischen der Unterstützung fortschrittlicher Werte und der Opposition gegen Putin einerseits sowie einem angemessenen Patriotismus ohne militärische Aggression andererseits.

«Liebe ist stärker als Angst» lautet der Slogan des FBK. Nur wenn die russische Opposition ihre Strategie nach diesen Worten ausrichtet, wird die russische Opposition im Exil genug Kraft gewinnen können, um den richtigen Moment zu ihrem Vorteil zu nutzen, nach Russland zurück­zukehren und einen vollwertigen Kampf um die Macht zu führen.

Sie muss dabei getragen werden von der Liebe zum eigenen Volk und darf sich nicht davor fürchten, in den Augen des Westens nicht genug Putin-feindlich oder nicht ablehnend genug gegenüber Russlands Eroberungs­kriegen zu wirken – auch wenn die Antikriegs­haltung sicherlich eine Schlüssel­rolle spielt.

Gelingt der Strategie­wechsel nicht und scheitert der demokratische Widerstand daran, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen – dann versinkt die Exil­opposition in der Bedeutungslosigkeit.

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