«Seit vier Jahren lebe ich im Ausnahme­zustand»: Said Etris Hashemi betritt das Ladenlokal der «Initiative 19. Februar Hanau».

Überleben in Deutschland

Der Aufstieg der radikalen Rechten in Europa ist lebens­gefährlich. Said Etris Hashemi überlebte vor vier Jahren den Anschlag von Hanau. Sein Bruder und acht weitere Menschen starben. Wie der rassistische Massenmord noch immer wirkt.

Von Tuğba Ayaz (Text) und Neven Allgeier (Bilder), 27.04.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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Am 19. Februar 2020 lässt sich Said Etris Hashemi, 23, das Geburts­datum seiner Mutter auf den Oberarm tätowieren. Sein Bruder Said Nesar, 21, auf beide Arme die Postleitzahl von Hanau-Kesselstadt, wo er seit seiner Geburt lebt: 63454.

Danach essen sie zu Hause Pasta, es soll schnell gehen, sie wollen los in die Arena Bar. Mit Kumpels Champions League schauen, plaudern, chillen. Ein gewöhnlicher Abend in ihrer hood Kesselstadt.

Während die Jungs in der Arena Bar sitzen, stürmt in der Hanauer Innenstadt ein Mann mit grüner Bomberjacke die La Votre Bar. Dort erschiesst er Kaloyan Velkov, 33, danach auf der Strasse Fatih Saraçoğlu, 34, stürmt weiter in die Midnight Shisha-Bar, wo er Sedat Gürbüz, 29, erschiesst. Er ermordet diese Menschen, weil er sie nicht für deutsch hält.

Dann macht sich der Täter auf nach Kesselstadt. Vili Viorel Păun, 22, verfolgt ihn mit dem Auto, nachdem er vergeblich versucht hatte, den Täter in der Innenstadt aufzuhalten. Auch Păun wird erschossen.

In der Arena Bar mischt sich Musik mit dem Geplauder der Jungs und der Stimme des Fussball­kommentators, als es draussen plötzlich knallt. Said Etris Hashemi sieht nach. Vor dem Eingang steht der Mann mit grüner Bomber­jacke, Waffe in der Hand, ihre Blicke streifen sich. Der Mann geht zum Kiosk nebenan, Schüsse, Hashemi hastet zurück in die Bar, die Jungs schrecken hoch, drücken sich hinter eine Säule, der Notausgang ist verschlossen.

Der Täter kommt in die Bar, schiesst. Er tritt hinter die Säule, schiesst weiter. Panik, Schüsse, Keuchen – wer kann, sucht hinter der Theke Schutz. Schüsse, Schüsse, Schüsse, sechzehn insgesamt.

Stille.

Said Etris Hashemi spürt Schmerzen, greift nach seinem Handy, aber bei der Polizei geht niemand ran. Irgendwann antwortet der Notruf, Hashemi murmelt, sein Hals blutet, er drückt ein herum­liegendes T-Shirt auf die Wunde, Keuchen, sein Bruder ringt um Atem. Das Keuchen wird Said Etris Hashemi in seinen Albträumen verfolgen.

Er rappelt sich auf, Blut überall, Hamza Kurtović, 22, liegt da, neben ihm Hashemis Bruder Said Nesar, beide bewegen sich nicht. Er taumelt hinaus. Im Kiosk nebenan liegen Gökhan Gültekin, 37; Mercedes Kierpacz, 35; Ferhat Unvar, 23; alle erschossen.

Hashemi kauert mit Schmerzen auf dem Parkplatz, wo ihn die Polizei findet. Er atmet schwer.

Für Hashemi bleibt in dieser Nacht die Zeit stehen.

Intensivstation, künstliches Koma hüllen ihn in ein Vakuum.

Zwei Wochen später verlässt er das Krankenhaus. Er staunt, wie Menschen eilen, plaudern, lachen. Krass, die Welt dreht sich einfach weiter. Er löscht seine Profile in den sozialen Netzwerken. Besuch schickt er weg. Aber er weiss: Das Leben muss weitergehen, irgendwie.

Erinnern heisst verändern

Vier Jahre ist es her, dass ein Täter aus rassistischen Motiven neun Menschen in Hanau ermordete. Danach tötete er seine Mutter, schliesslich sich selbst. Vier Jahre ist es her, dass Said Etris Hashemis Bruder Said Nesar starb. Vier Jahre ist es her, dass Hashemi ein zweites Leben lebt, in das er noch immer hinein­zufinden sucht.

Am Tatort in der Hanauer Innenstadt gedenkt die «Initiative 19. Februar Hanau» mit Porträtbildern und dem Slogan #saytheirnames der Verstorbenen. Unweit davon hat auch die Stadt Hanau eine Gedenktafel errichtet. Die hessische Stadt mit 100’000 Einwohnern wirkt provinziell. Gegenüber dem Tatort befindet sich das Ladenlokal der Initiative. Angehörige gründeten sie im März 2020 als einen Ort des Erinnerns. Mit dem Leitsatz: Erinnern heisst verändern. Inzwischen steht die Initiative für Erinnerungs­kultur, Aufklärung, Widerstand gegen Rechts­extremismus.

Über dem Vordach des Lokals steht in weissen Buchstaben #saytheirnames. Beim Eingang stapeln sich Flyer mit Slogans und Veranstaltungen, auf einer Kommode steht ein Megafon. Es gibt Tische, Stühle, Sofas. Als ich drinnen Bilder der neun Opfer anschaue, wo Blumen und Kerzen dazugestellt sind, sagt eine tiefe Stimme: «Hallo.»

Said Etris Hashemi, 27, ist knapp zwei Meter gross, hat einen festen Händedruck, wirkt herzlich, bedacht. Er ist schwarz gekleidet, trägt über seinem Shirt mit Rollkragen einen beigen Pullover. Auf Brusthöhe prangt eine silberne Militär­marke mit der Gravur:

Said Nesar
09.06.98 – ∞

Das Geburtsdatum seines Bruders, eingraviert für die Ewigkeit. Ein Geschenk seiner Freunde.

An diesem Tag im März scheint die Sonne, aber Hashemi will nicht draussen sitzen. Da hätten wir keine Ruhe, sagt er, ständig würde ihn jemand ansprechen. Er schlägt das kleine Büro im hinteren Teil des Ladenlokals vor.

Zwar ist Hashemi inzwischen in die Rolle der öffentlichen Person hineingewachsen – zwangsläufig, doch hadert er noch immer mit der Sichtbarkeit. Alle Blicke auf sich zu haben, ermüdet ihn. Er beschreibt sich als zurückhaltend.

Das hätten auch wir sein können

Nach dem Attentat überlegt sich Hashemi schon im Krankenhaus, wie er mit der Sichtbarkeit umgehen soll. Er legt fest, welche Fragen er Familie, Freunden, Medien beantworten will. Viele Interview­anfragen, sagt er, lehnt er bis heute ab. «Ich will Aufmerksamkeit für die Sache. Ich renne nicht herum, um Mitleid zu bekommen.»

Über die Tatnacht spricht er in Interviews kaum. In seinem jüngst erschienenen Buch «Der Tag, an dem ich sterben sollte» erzählt er das erste Mal ausführlich davon. Er gibt rohe Details des Anschlags, des Traumas, des Kampfs mit den Behörden preis, öffnet sich persönlich.

Hashemi erzählt auch von seiner Kindheit und Jugend, von Rassismus­erfahrungen, was es bedeutet, in Deutschland mit Migrations­geschichte aufzuwachsen. Mit dem «endlosen Gedanken­strom eines typischen Migranten­kindes», das immer beweisen will, zu «den Guten» zu gehören. Ein so verinnerlichtes Verhalten, sagt er, das er ein paar Tage vor unserem Gespräch wieder mal beobachtete.

Er spazierte mit Kumpels den Main entlang, der eine mit Eltern aus Marokko, der andere aus der Türkei. Als eine Gruppe Rentner vorbeikam, hätten sie leiser gesprochen, sich anders bewegt.

«Das hat jeder Kanake in sich», sagt er. Danach hätten sie gelacht, einander gefragt: Warum machen wir das noch?

«Meine Erfahrungen stehen für viele Migrakids in diesem Land. Deshalb will ich sie im Buch erzählen. Menschen ausserhalb dieser Blase sollen erfahren, womit wir zu kämpfen haben.»

Dieser Bezug ist ihm wichtig, weil der Anschlag in Hanau auch das Grundgefühl der «Migrakids» in Deutschland verändert hat. Das Land kennt eine Reihe von Anschlägen rechter Gewalt, darunter Brandanschläge auf Asylheime in den 1990er-Jahren. Doch nach Hanau, sagt Hashemi, dachten viele: «Ey, das hätten auch wir sein können. Jungs, die abends in einer Bar sitzen, so wie andere auch.»

Hashemi will nicht «der Überlebende» dieser Geschichte sein, schon gar nicht «Opfer». Seine Person, seine Arbeit bei der Initiative, sagt er, steht für mehr. Sein Schmerz sei auch der Schmerz dieser Gesellschaft.

Wie ihm begegnen? Ist Mitgefühl okay?

«Ich schätze Empathie. Doch mir ist es unangenehm, wenn Menschen weinend vor mir stehen. Und ich muss sie trösten. Das kann täglich vorkommen», sagt er. «Lieber kurz, etwa: Du bist doch der, tut mir leid! Und ich sag: Korrekt Bruder, ich küss dein Herz.»

Ihm ist aber auch bewusst, dass sich sein zweites Leben nicht vom Anschlag entkoppeln lässt. «Muss lernen, damit umzugehen», ein Satz, den Hashemi immer wieder sagt, wenn es um unverrückbare Tatsachen geht. Ein Satz, der ihn durch die vier Jahre nach dem Anschlag getragen haben muss, denn als ich ihn frage, wie er nach dem Anschlag in den Alltag gefunden habe, antwortet er: «Gar nicht. Bis heute nicht. Seit vier Jahren lebe ich im Ausnahme­zustand.»

Er atmet durch.

«Wie fühlt sich dieser Ausnahme­zustand an?»

«Als wäre ich in eine fremde Welt geboren worden. Ich bin politischer unterwegs. Da hätte ich mich nie drinnen gesehen.»

«Lernen, damit umzugehen» – das muss er auch, wenn er ständig an den Tatorten vorbeikommt. Am Heumarkt gegenüber vom Ladenlokal und am Kurt-Schumacher-Platz, wo er im Sommer mit den Kumpels trotzdem noch grillt. «Lass mir das nicht nehmen, auch wenn es mich triggert.» Viele Sachen würden ihn triggern. Dann beruhigt er sich. Vergegenwärtigt sich die Situation, ordnet ein. Lernt eben, damit umzugehen. Deshalb setzt er sich auch weiterhin in eine Bar. Das geht, aber er schaut, wo die Notausgänge sind. Sitzt nie mit dem Rücken zur Tür, den Eingang stets im Blick.

Mit Hanau fühlt sich Hashemi trotz des Anschlags noch verbunden. Als die Stadt Angehörigen anbot, sie bei einem Wegzug zu unterstützen, war für ihn klar: Niemals verlässt er Hanau. «Das ist mein Zuhause, vor allem Kesselstadt. Würde ich wegziehen, hätte der Täter geschafft, was er wollte. Aber das ist meine Heimat.»

Er ertappt sich da bei einer Art Lokal­patriotismus, die bei «Migrakids» verbreitet sei. Wenn die gefragt würden, aus welcher Stadt sie kommen, sagten sie «mit breiter Brust: Ich bin Frankfurter, Hanauer oder Offenbacher». Frage man sie, ob sie auch stolze Deutsche seien, bleibe die eindeutige Antwort aus, die Brust sinke. Für Hashemi ist es ähnlich: «Ich bin stolzer auf Hanau als auf Deutschland.»

Said Etris Hashemi, das zweitälteste von fünf Kindern, wächst in Kesselstadt auf, «in einem Afghanenblock», zu siebt leben sie in einer 70-Quadrat­meter-Wohnung. Seine Eltern waren vom Bürgerkrieg in Afghanistan geflohen. Sein Vater schuftet in einer Reifen­fabrik, seine Mutter sorgt für die Kinder. Die Eltern opfern sich auf, um ihren Kindern mit wenig Geld eine Zukunft zu ermöglichen. Geben ihnen mit: dankbar sein für dieses Leben, das man so in ihrer Heimat nicht hätte.

Kesselstadt gilt heute in der Sprache der Behörden als «Problem­bezirk», wo Armut und Gewalt regieren. Trostlose Wohnblocks, in die man ab den 60er-Jahren die sogenannten Gastarbeiter verfrachtet hat.

Als Kind spielt Hashemi im Hausflur seines Blocks Räuber und Polizei. In seiner Jugend dröhnt dort Musik von Haftbefehl oder Xatar, die seinem Leben, der Strasse eine Stimme gaben, wie Hashemi in seinem Buch schreibt. «Musik von Migranten für Migranten.»

Von den Älteren in der Nachbarschaft lernen er und seine Kumpels, Prügel einzustecken. Das soll sie für eine Welt aus Gaunern und Polizisten abhärten. Viele wollen weg aus Kesselstadt, schreibt Hashemi, doch lieben sie ihre Hood auch. Hashemi sagt: «Es ist auch Hassliebe. Familie gründen will dort niemand, aber wegziehen auch ungern. Man hängt an der Community. Bei aller Armut und Perspektiv­losigkeit.» Er wohnt inzwischen nicht mehr in Kesselstadt, aber nur fünf Fahrminuten entfernt.

Schon in der Grundschule erfährt Hashemi Rassismus: Mitschüler rufen ihm das N-Wort nach, Lehrpersonen verdächtigen ihn, sobald es Ärger gibt oder etwas gestohlen wird. Die Eltern bläuen ihm ein: Bildung ist das Wichtigste. Du musst mit Leistung auffallen, doppelt so gut sein wie andere. Hashemi aber wird in der Schule zurückgestuft. Nicht wegen seiner Leistungen, sondern weil er Lehrpersonen widerspricht. In der Haupt­schule, die in der Schweiz der Realschule entspricht, ist er nur von «Migrakids» umgeben und realisiert: Ich will mich rauskämpfen.

Er schliesst die Berufsschule ab, macht Fachmatura, schuftet für den sozialen Aufstieg. Bin ich beruflich erfolgreich, denkt er, bin ich auch Teil dieser Gesellschaft. Mit zwanzig hat er sich zum Vertriebs­leiter hochgearbeitet, studiert parallel Informatik, hat ein Auto, das alles stärkt sein Selbst­bewusstsein. Er verfolgt Ziele, während manche Jungs aus seinem Block im Knast sitzen. Für das Frühjahr 2020 bekommt er eine Stelle bei einem Versicherungs­konzern angeboten, die Geld und Aufstieg verspricht.

Dann kommt der 19. Februar 2020.

Der Bruder stirbt, Hashemi lebt

Am 21. Februar 2020 erwacht Hashemi im Uniklinikum Frankfurt aus dem Koma. Er kann nicht sprechen, durch seinen Hals geht ein Intubations­schlauch. Der Täter hat ihm in den Hals geschossen und in die Schulter. Auf dem Muskel unter seiner Zunge liegen bis heute Splitter. Sie entfernen zu lassen, bärge das Risiko, dass Hashemi nicht mehr sprechen könnte. Also nimmt er in Kauf, dass er bei längeren Gesprächen undeutlich klingt.

Auf das Klemmbrett, mit dem er im Krankenhaus kommuniziert, schreibt er als Erstes: Nesar? Seine Eltern versichern ihm, er liege auch auf der Intensiv­station. Er ahnt, dass sie ihn schonen.

Kurz darauf hört er im Krankenbett Radio. Bundes­präsident Frank-Walter Steinmeier bekundet Worte der Trauer zum Anschlag, zählt die Namen der Verstorbenen auf. Hashemi hört den Namen seines Bruders: Said Nesar.

Mit seinen Eltern spricht er zwei Wochen nach der Tatnacht ausführlich über das Geschehene. Ohnehin ist er mit einer Auskunfts­sperre abgeschirmt von der Aussenwelt. Einmal verlässt er das Krankenhaus unerlaubt. Zur Beerdigung seines Bruders.

Der Bruder stirbt. Freunde sterben. Hashemi überlebt, schwer versehrt. Wie wird ein Mensch damit fertig?

Said Etris Hashemi wird ihre Namen nie vergessen, immer an sie erinnern: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov.

Hashemi will alles mit sich selbst ausmachen. Im Krankenhaus bieten sich drei verschiedene Therapeuten an, mit keinem spricht er. Erst Wochen nach seiner Entlassung geht er zu einer Therapeutin. Auch nach zwei Jahren fühlt er sich dadurch nicht besser. Im Buch erzählt Hashemi, dass «dieser Psychologie­film für viele Migranten sehr mystisch» ist. Auch bei seinem zweimonatigen Aufenthalt in einer Rehaklinik findet er keinen Zugang zur Therapie. Er denkt, sein Schmerz ist «zu gross für diesen Raum». Näher will er über die Therapie nicht sprechen. Er sagt einzig: «Therapie ist wichtig. Sie kann helfen. Mir hat sie bisher nicht geholfen.»

Halt findet er im Glauben, den er durch seine religiöse Erziehung verinnerlicht hat. Im Islam heisst es, der Tag, an dem ein Mensch stirbt, steht geschrieben. Dem unverrückbaren Schicksal entkommt man nicht. Dieser Gedanke tröstet Hashemi.

Nachdem er das Krankenhaus verlassen hat, will er unsichtbar sein, geht anfangs auch nicht zur «Initiative 19. Februar Hanau», bei der sich die Angehörigen regelmässig treffen. Erst als er die Polizei­akten sichtet, geht er hin. «Mir wurde klar: Sie wollen den Fall ohne Aufhebens abschliessen. Wir mussten an die Öffentlichkeit, um etwas zu bewegen», sagt er.

Eine Chronik des behördlichen Versagens

Im Laufe des Verfahrens bricht bei den Angehörigen das Vertrauen in die Behörden, die lückenlose Aufklärung versprochen hatten. Selbst in die höchste Instanz im Land, den General­bundesanwalt. Niemand übernimmt Verantwortung für eine ganze Reihe von Akten des Versagens.

Dass ein psychisch und mit rechts­extremen Aussagen auffälliger Täter Waffen besass.

Dass der Notausgang in der Arena Bar verschlossen war – auf Geheiss der Polizei, wie sich heraus­stellen sollte, um Razzien zu erleichtern.

Dass der Notruf in der Tatnacht nicht funktionierte.

Die Initiative kämpft für einen parlamentarischen Untersuchungs­ausschuss, der 2021 tatsächlich eingesetzt wird. Sie fordert: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. Hashemi ist mittendrin.

Inzwischen ist sein Engagement bei der Initiative für ihn wie ein Job neben seinem neuen Studium in Politik­wissenschaften. Wöchentlich kommt er in dieses Büro im Ladenlokal, plant mit zwei Kolleginnen Termine für Veranstaltungen, Treffen mit Behörden und Organisationen, sie feilen an Strategien, an Reden. «Hier funktioniere ich rational. Wir haben in diesem Laden deutsche Geschichte geschrieben. Emotionalität kann ich mir hier nicht leisten.»

Die Initiative belegt in Kooperation mit Journalisten durch Recherchen, Leaks, Anzeigen behördliches Versagen. So etwa beim Notruf.

Bereits 2016 war nach einem Testlauf bekannt, dass bei Überlastung keine Weiterleitung erfolgt. «Der Polizei­präsident behauptete, er habe nichts davon gewusst», sagt Hashemi. «Dabei unterschrieb er damals das Gutachten, das genau dieses Problem festhielt. Als im Untersuchungs­ausschuss offensichtlich wurde, dass er gelogen hatte, schickten sie ihn in Rente. Konsequenzen folgten keine.»

Konsequenzen folgten auch nicht, als der Untersuchungs­ausschuss der Staats­anwaltschaft widersprach. Diese hatte ein Verfahren zum verschlossenen Notausgang wegen fahrlässiger Tötung eingestellt, mit der Begründung: Auch wenn sie offen gewesen wäre, hätte es keiner hinausgeschafft. Die Initiative liess das vom Recherchekollektiv Forensic Architecture prüfen. Anhand der Raum­grundrisse, von Bild- und Video­material rekonstruierten sie den Weg jeder Person zum Notausgang. Neun Sekunden hätten sie gebraucht. Die Erkenntnisse der Rechercheurinnen sind eindeutig: Hashemis Bruder und Hamza Kurtović hätten fliehen können.

Solche Beispiele gibt es einige. Hashemi hält sie in seinem Buch minutiös fest. Vorkommnisse wie diese wurden nach dreissig Sitzungen des Untersuchungs­ausschusses und einem Abschlussbericht mit 642 Seiten als Versäumnisse anerkannt, aber nicht als Fehler.

«Bei Fehlern müsste jemand die Verantwortung übernehmen», sagt Hashemi. «Will aber keiner. Weder die Bundes­regierung noch das Land Hessen haben bisher ihre Bringschuld wahrgenommen. Der ehemalige Innen­minister spricht noch immer von exzellenter Ermittlung.»

Wenn man nach so einer Tat nicht einmal den Gerichten, der Polizei trauen kann, wem dann?

Diese Frage treibt Hashemi um. Natürlich ist er immer wieder wütend, doch dann schaltet sich gleich sein Pragmatismus ein: «Wut bringt mich nicht weiter.»

Zu dieser Reihe von Versagen kommt der Umgang mit Angehörigen hinzu. Nach dem Anschlag am 19. Februar 2020 beispielsweise schickte die Stadt die Ausländer­behörde und eine Dolmetscherin zu den Angehörigen. Im Untersuchungs­ausschuss, erzählt Hashemi, hätten sie diese Absurdität angesprochen: «Wir sind in diesem Land geboren, hier zur Schule gegangen, sprechen Deutsch, haben einen deutschen Pass. Wozu die Ausländer­behörde?»

Ein FDP-Politiker habe geantwortet: Was ist falsch daran? War doch gut gemeint.

Hashemi seufzt beim Erzählen. «Das sagt doch alles.»

Noch schlimmer sei, dass in der Tatnacht dreizehn Polizeibeamte einer Spezial­einheit im Einsatz waren, gegen die wegen Volks­verhetzung in Chatgruppen mit rechts­extremen Inhalten ermittelt wurde.

Als der damalige hessische Minister­präsident Angehörige zum Gespräch in seinen Amtssitz lud, fragte Hashemi ihn: «Stellen Sie sich vor, ein Rassist schiesst auf Sie, Ihren kleinen Bruder, Ihre Freunde. Sie rufen die 110 und diese schickt weitere dreizehn Rechts­extreme. Wie wäre das für Sie?»

Der Ministerpräsident habe geantwortet: Das würde ja nicht bedeuten, dass sie ihren Job nicht gut machen.

«Wir haben in diesem Land ein Problem mit strukturellem Rechts­extremismus. Die Politik und die Behörden erkennen das noch immer nicht», sagt Hashemi.

«Ein paar tote Kanaken interessieren nicht»

Am Kurt-Schumacher-Platz in Kesselstadt hält der Bus vor einem Discounter. Gleich davor ist der Parkplatz, wo die Polizei Hashemi nach dem Attentat fand. Er lehnte an Vili Viorel Păuns Auto, der tot im Sitz lag. Păun hatte versucht, den Täter aufzuhalten. Ein Kreuz, Blumen, Kerzen gedenken Păuns und seiner Zivilcourage. Ebenso finden sich die Gedenktafeln wie am Tatort in der Innenstadt. Vom Parkplatz aus schaue ich auf den Wohnblock, wo sich im Erdgeschoss die Arena Bar und der Kiosk befanden. Jetzt ist ein Laden mit afghanischen Lebens­mitteln drin.

Um die Ecke des Tatorts befindet sich ein Geschäft mit türkischen Lebens­mitteln. Schrecklich, unfassbar, sagt eine Passantin, sie habe fast alle Opfer gekannt. Noch immer sitze der Schock in der Stadt tief. Sie selbst stammt aus Kosovo.

Dann unterbricht sie das Gespräch, um mich Hamza Kurtovićs Eltern vorzustellen, die gerade vorbeikommen. Hamza Kurtović starb in der Arena Bar mit Hashemis Bruder. Die Freunde sind neben­einander begraben.

«Das Attentat ist schlimm genug. Das alles folgenlos bleibt, ist noch schlimmer», sagt Armin Kurtović. «Ein paar tote Kanaken interessieren nicht. Wir sind entbehrlich.»

Er zieht mich in den Laden. Über den mit Getreide, Olivenöl, Konserven gefüllten Regalen hängen Illustrationen der neun Verstorbenen.

«Schauen Sie», er zeigt auf das Bild von Hamza Kurtović, «mein Sohn ist gleich um die Ecke von einem Rassisten getötet worden. Jeden Tag komme ich hier vorbei.» Kurtović hatte nach dem Tod seines Sohnes in kurzen Abständen drei Schlag­anfälle. Seine rechte Gesichts­hälfte ist gelähmt, ebenso seine rechte Hand. Er kann nicht mehr arbeiten.

Als wir wieder draussen stehen, sagt er: «Mein Vater ist 1968 nach Deutschland gekommen. Ich bin 1974 hier geboren. Ich bin deutscher Staatsbürger. Meine Kinder sind hier geboren, aber wir bleiben Kanaken.» Dann wird er lauter: «Selbst ein Politiker im Untersuchungs­ausschuss sagte zu mir: Solange Sie diesen Nachnamen tragen, wird immer der Ausländer­beirat kommen. Sehen Sie? Das ist Deutschland!»

«Hat die Initiative immerhin ein wenig gesellschaftlichen Wandel gebracht?», frage ich.

«Rassismus ist in diesem Land tief verankert. Nicht einmal die Amerikaner haben es nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft, ihn zu verbannen. Was soll die Initiative daran ändern können? Ich bitte Sie!»

Armin Kurtović führt mich zur Blocksiedlung, unweit des Tatorts, wo die Familie seit zwanzig Jahren lebt. Er möchte mir etwas zeigen.

In seinem Wohnzimmer hängt über dem Sofa ein grosses Porträt seines verstorbenen Sohnes Hamza. Er zeigt aus dem Fenster auf die ebenerdigen Häuser gegenüber, bei einem bleibt er hängen, beschreibt es genauer. Dann sagt er: «Dort wohnte der Täter, sein Vater lebt noch dort. Manchmal sehe ich ihn spazieren.»

Der Vater des Täters in Sichtdistanz. Wie hält Kurtović das aus?

«Wie soll ich damit schon umgehen?», sagt Kurtović. «Sagen Sie es mir.»

Er holt tief Luft. «Was dieser Vater von sich gibt, ist schwer auszuhalten. Er nennt uns ‹wilde Fremde›», sagt Kurtović. «Die Polizei hat uns nie angeboten: Wir sind für Sie da, falls er Sie bedroht. Stattdessen sagte man uns nach dem Attentat, wir sollen keine Blutrache üben.»

Kurtović holt einen Ordner aus dem Schrank mit behördlichen Dokumenten. Belege der Nachlässigkeit.

Er zeigt mir das Protokoll der Vernehmung eines Zeugen, der einräumt, dass die Tatort­aufnahme nicht gründlich erfolgte, weil der «Täter offensichtlich bekannt und tot war».

Er zeigt mir die Anordnung zur Obduktion seines Sohnes, über die sie die Polizei vorab nicht einmal informiert hatte.

Er zeigt mir die Beschreibung des Leichnams seines Sohnes: «orientalisch, südländisches Aussehen», steht da. Hamza Kurtović war blond und blauäugig. «Die dachten sich wohl: Beschreibe einen Kanaken aus der Shisha-Bar», sagt Kurtović.

Auch er vermisst in der Aufarbeitung, dass Politik und Behörden Verantwortung übernehmen. Zuversicht findet Kurtović schwer, auch wenn er gesellschaftliche Solidarität spürt.

Said Etris Hashemi stärkt diese Solidarität. Am diesjährigen Jahrestag war er überwältigt von den Massen, die zur bundes­weiten Kundgebung kamen. «Das motivierte mich von neuem. Ich dachte: Wer laut ist, sich einsetzt, bekommt Unterstützung», sagt er. Er ist stolz, dass die Initiative mit Kund­gebungen, Publikationen, der Ausstellung «Three Doors», die aktuell und bis 1. September in Stuttgart zu sehen ist, darüber aufklärt, was wirklich in Hanau geschah; dass sie zeigt, «wie massiv die Bedrohung durch Rassismus» ist.

«Wir leben in einer rassistischen Gesellschaft. Aber auch in einer solidarischen», sagt Hashemi. Dieser Gedanke hilft ihm, dass das Leben weitergeht, irgendwie.

Zur Autorin

Tuğba Ayaz, 1986 in St. Gallen geboren, lebt als freie Reporterin in Zürich. Für die Republik führte sie zuletzt ein Interview mit dem Soziologen Nikolaj Schultz.

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