Demo auf der Biennale
In Venedig gibt sich die globale Kunstwelt ihr Stelldichein – samt den Konflikten der Gegenwart. Doch auch die Hoffnung, die Feier, die Entdeckerlust behaupten sich in der Lagunenstadt.
Von Jörg Heiser, 26.04.2024
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Während der Eröffnungstage der 60. Kunstbiennale in Venedig bin ich ein paarmal überraschend nah am Wasser gebaut. Einer dieser Momente ist, als drei junge Schwarze Frauen in einem Palazzo Mikrofone in die Hand nehmen, souverän auf Englisch und Ukrainisch rappen und alle im Saal spüren, dass sie zukünftige Superstars vor sich haben.
FO SHO nennen sich die drei. Und ihr grösster Hit, mit dem sie 2020 auch in die Vorausscheidung für den Eurovision Song Contest kamen, heisst «BLCK SQR», ausgesprochen «black square», was nicht nur, aber durchaus als Anspielung auf das «Schwarze Quadrat» von Malewitsch gemeint ist – diese klassische Ikone modernistischer Abstraktion.
Alle FO-SHO-Mitglieder wurden in Charkiw geboren, der zweitgrössten ukrainischen Stadt nach Kiew, und haben dort als Kinder jüdischer Äthiopier Russisch gesprochen. Im Zuge des russischen Angriffskriegs mussten sie nach Stuttgart flüchten. In Venedig sind sie nun in einem von der Unesco unterstützten «Artists at Risk»-Pavillon neben anderen Künstlerinnen vertreten, die aufgrund von politischer Verfolgung oder Krieg oder beidem aus ihren Herkunftsländern flüchten mussten. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wäre ihnen für ihre Rapshow einer der Biennale-Löwen-Preise verliehen worden.
Auf die Ehrungen, die es auf dieser grössten internationalen Kunstsause wie immer gibt, werde ich noch zu sprechen kommen. Bereits während der Preview-Tage für die Medien und die Professionellen verbreitete sich ja die Nachricht, dass der israelische Pavillon geschlossen bleibe. An der Glasfront hängt das Plakat mit der Erklärung: Die Ausstellung werde erst eröffnet, «wenn eine Einigung über eine Waffenruhe und die Freilassung der Geiseln erreicht ist». Und vielleicht war es abzusehen, dass der Künstlerin Ruth Patir sowie den beiden Kuratorinnen Mira Lapidot und Tamar Margalit daraufhin vorgeworfen würde, sie wären vor dem Druck der Gegner eingeknickt – oder aber, sie wollten (das sagen diese Gegner) sich durch das Timing nur noch mehr Aufmerksamkeit verschaffen.
Schon seit Februar machte ein offener Brief die Runde mit dem Aufruf, Israel solle von der Biennale ausgeschlossen werden, mit der Schlusszeile in Grossbuchstaben: «NO GENOCIDE PAVILION AT THE VENICE BIENNALE». Er wurde von über 24’000 Leuten unterschrieben. Es sind wahrlich aufgeladene Zeiten in der Kunst und der Kultur. Man muss lange zurückdenken, um auf so tiefe Spaltungen und Verwerfungen zu treffen, wie sie seit dem 7. Oktober 2023 vorherrschen.
In Venedig geht denn auch gleich in den ersten Stunden eine Demo los: «Shut it down», heisst es in Richtung Israel-Pavillon in den Giardini. Es sind vielleicht um die 100 Leute. Umstehende schauen zu oder filmen mit dem Handy. Dann geht es weiter zu dem leicht erhöhten Platz, wo die nationalen Pavillons Frankreichs, Grossbritanniens und Deutschlands sich im Dreieck gegenüberstehen. Auf dem Weg dahin ruft ein junger Mann im Fussballschlachtruf-Modus mit rauer Stimme ins Mini-Megafon ein lang gezogenes «Ooone solution!». Antwortchor, schneller: «Intifada revolution!», mit rhythmischem Klatschen dazu. Das ist etwas anderes als die Forderung nach einer Waffenruhe. Stattdessen die «eine», gewaltsame «Lösung».
Die zweite Intifada, man erinnert sich, entbrannte im Jahr 2000 nach den gescheiterten Friedensgesprächen zwischen dem israelischen Premier Ehud Barak und PLO-Chef Yassir Arafat, mit zahlreichen Selbstmord-Bombenattentaten und kriegsähnlichen Zuständen, sie gilt bis heute als Ende des Friedensprozesses. Vor dem deutschen Pavillon heisst es dann: «Olaf Scholz, you can’t hide, we charge you with genocide» («Olaf Scholz, Sie können sich nicht verstecken, wir klagen Sie des Genozids an»), gefolgt vom Klassiker des US-amerikanischen Puritanismus, dessen Wurzeln ins 16. Jahrhundert zurückreichen: «Shame on you! Shame on you!».
Es gab keine körperlichen Übergriffe, der Protestzug dauerte auch nicht sehr lange, er wiederholte sattsam bekannte Slogans im Kinderreim-Schema und löste sich vor dem Eingang zum Biennale-Gelände friedlich wieder auf. Einige Protestler stellten sich anschliessend für kostenlosen Espresso an einem Kaffeestand des Biennale-Sponsors Illy an. Man wird den Eindruck nicht los, dass viele von ihnen es irgendwie radically chic finden, de facto zu Gewalt gegen Bewohnerinnen Israels aufzurufen. Währenddessen auf allen Seiten der beflissene Versuch, zur Tagesordnung zurückzukehren.
Am Ende ist es dem Team der Künstlerin Ruth Patir mit ihrem geschlossenen israelischen Pavillon gelungen, die Lage zu deeskalieren. Dazu hat die Entscheidung den Anklang einer künstlerischen Setzung: In ähnlicher Manier verkündete 1969 der Konzeptkünstler Robert Barry, die Galerie bleibe für die Dauer der Ausstellung geschlossen (er tat dies in Amsterdam, Turin und Los Angeles). Und es handelt sich um ein klares Statement gegenüber der Regierung Netanyahu und ihrer Kriegsführung.
Dennoch spürt man, dass sich jene Teile der internationalen Kunstwelt, die sich über Nahost in den letzten Monaten entzweit haben, demonstrativ aus dem Weg gehen. Unweigerlich muss ich an die 1960er denken, als Leute in New York die Strassenseite wechselten, wenn ihnen der Maler Philip Guston entgegenkam. Er hatte unter dem Eindruck des eskalierenden Vietnamkriegs von der abstrakten zur cartoonhaft-grotesken Malweise gewechselt. Da ging es immerhin um die Kunst selbst. Heute nimmt die Atmosphäre bisweilen etwas Schulhof-Cybermobbing-mässiges an, mit gegenseitigem Beäugen, Tuscheln, Ächten.
Globale Moderne
In den Ausstellungen dagegen ist eher Zelebrieren der vorherrschende Modus, das Gegenteil von Ächtung.
Im zentralen Pavillon in den Giardini hat Adriano Pedrosa, der Kurator der Hauptausstellung, eine Art alternatives Museum eingerichtet, in dem die globalen Modernen wie selbstverständlich die altbekannten Namen ersetzen. Mit dieser Grundidee folgt Pedrosa dem Paradigma einiger seiner Vorgängerinnen – mit dem seltsamen Effekt, dass einem unter anderem auffallend viele Werke im Picasso-Stil begegnen, aus Sammlungen in der ganzen Welt entliehen, von Singapur bis Beirut. Selbst sehr gut informierte Kunstprofessionelle gestehen, viele der Namen nie gehört zu haben – wobei es die erklärte Absicht Pedrosas war, unter den über 300 Künstlerinnen besonders viele zu haben, die erstmals auf der Biennale gezeigt werden.
«Foreigners Everywhere», der Titel der Schau, bekommt so noch eine andere Dimension: Oft sind die gezeigten Künstlerinnen der Weltöffentlichkeit ausserhalb ihrer Herkunftsregion unbekannt. Der Entdecker-Fleiss Pedrosas, der lobenswert und auch stellenweise gewinnbringend ist, hat allerdings eine Kehrseite: Das Schaffen vieler Künstlerinnen wird mit lediglich einer oder wenigen Arbeiten gezeigt, der Eindruck bleibt entsprechend blass. Weniger Breite, mehr Tiefe bitte.
Und was nützt das alles, wenn Pedrosa dann am Ende bei der Medienkonferenz auf dem Podium sitzt und sich stoisch eine schier endlos wirkende, auf Italienisch gehaltene Rede des neuen Präsidenten der Biennale-Stiftung, des Rechtsaussen-Journalisten Pietrangelo Buttafuoco, anhören muss? Der Wind weht scharf von rechts, seit die (post-)faschistische Premierministerin Meloni im Dezember den Hardliner Buttafuoco installiert hat. Sein Vortrag ist voll von selbstverliebtem Geschwafel über das Essen als Wurzel aller Kultur, zeigt aber auch das Aufblitzen rechten Machtwillens inklusive Ernst-Jünger-Zitat. Pedrosa klatscht keinen Beifall. Wer immer nach ihm übernehmen wird, dürfte entweder aus dem rechten Lager stammen oder aber sich von Anfang an an Buttafuoco abarbeiten müssen. Keine schönen Aussichten in der Lagune.
Derweil gibt es Parallelen zwischen Pedrosas Feier des global so lange Ungesehenen, aktiv Ignorierten und einigen der nationalen Pavillons. Den amerikanischen verwandelt Jeffrey Gibson – als erster indigener US-Künstler in 90 Jahren – in einen schreiend bunten, knuffigen, jeden Quadratzentimeter bedeckenden Pastiche aus Geknüpftem und Gemaltem. Auch eine neunkanalige Videoinstallation gehört dazu, in der die ehemalige Miss Native American Sarah Ortegon einen Powwow-Dance zu Housebeat aufführt – und dabei in kleine, kaleidoskopische Gleichschritt-Einheiten zerlegt wird. Das Flamboyante, die Idee von camp, schlägt um in aufgepumptes Synchrongewummer.
Käse, Geld und Matterhorn
Die Schweiz wiederum trumpft auf mit neuester Projektionstechnik im sonst so zurückhaltend eleganten, 1952 errichteten Flachbau von Bruno Giacometti. Over the top ist bereits der Künstlername des ausstellenden, in Genf geborenen und in Rio de Janeiro lebenden Guerreiro do Divino Amor: «Krieger der göttlichen Liebe». Er projiziert in eine Art Mini-Planetarium hinein, das geformt ist wie eine Iglu-Sauna. Zu sehen sind allerdings ganz irdisch-eidgenössische Grotesken um Geld, Käse und Matterhorn. Es geht also darum, wie Nationen sich ökonomisch und ideologisch vermarkten. Divino Amor fügt auch gleich noch Italien hinzu: Die lebensgrosse Projektion einer römischen Dragqueen-Gottheit schwebt im Glaskasten vor Postkarten-Kulissenzauber. Das technische Geheimnis sind Rotor-Hologramme, deren LED-Flügel sich wie Ventilatorblätter drehen und so das Bild in die Luft zaubern.
Frankreich und Grossbritannien steigen ebenfalls in die feierliche Materialschlacht ein. Sie konkurrieren schon von aussen mit brillant leuchtenden, hochauflösenden, reflexionsfreien LED-Grossbildschirmen um Aufmerksamkeit – ein Prinzip, das Frankreichs Julien Creuzet innen fortsetzt. Zu sehen ist eine ganze Armada von filigran geformten, paraventartigen Skulpturen und Meerjungfrau-Avatar-haften Videoanimationen, die auf afro-karibische Horizonte anspielen. Der Brite John Akomfrah wiederum bietet eine Vielzahl an Bildschirmen auf, um ein Epos migrantischer Diaspora im Zentrum des ehemaligen kolonialen Empire zu erzählen – was er allerdings zuletzt in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main mit wesentlich genauer dosierter Bild- und Raumsprache vermochte.
Man könnte sich bei all dem Überwältigungsaufwand, der doch dem dekolonialen Zurechtrücken des Bilds dieser Nationen hätte dienen sollen, fast schon auf eine flimmernde Welt-Expo versetzt fühlen. Nur dass Deutschland wieder mal eine andere Strategie gewählt hat.
Der Eingang zum deutschen Pavillon leuchtet nicht wie Reklame auf dem Times Square, sondern ist mit einem Erdhaufen versperrt, als hätte sich ein riesiger Maulwurf unter den Säulen des Portikus eingegraben. Die Kuratorin Çağla Ilk, Co-Direktorin der Kunsthalle Baden-Baden, hat hier den Theaterregisseur Ersan Mondtag und die Künstlerin Yael Bartana zusammengebracht. In den dunklen, hohen Hallen taucht zunächst Bartanas raumfüllendes, frei aufgehängtes Modell eines intergalaktischen Generationenraumschiffs auf, geformt wie die zehn verbundenen Kugeln, die in der jüdischen Kabbala das Diagramm des Lebensbaums bilden.
Im Mittelschiff des dreigegliederten Pavillons dann ein Haus im Haus: Mondtag hat ein dreistöckiges Gebäude mit Dachterrasse eingezogen, in dunkel-erdfarbenen Rauputz gehüllt, das wie ein U-Boot-Turm aus dem Boden ragt. Darin ein Leben und ein Tod, ein Mausoleum im Mausoleum.
Es geht um seinen Grossvater Hasan Aygün, der 1968 als Gastarbeiter nach Deutschland kam, an der Wand des Eingangsraums hängt seine Ehrenurkunde zum 25-Jahr-Dienstjubiläum als Mitarbeiter der Eternit AG. In den darauffolgenden Räumen hat sich weisser Staub wie Mehltau über die Küche, das Bett, die bescheidene Wohnstube gelegt. Hasan Aygün starb an den Folgen seiner Arbeit mit Asbest, das die Firma in ihren Faserzementplatten verwendete.
In der Apsis des Pavillons ist eine riesige vertikale LED-Wand in das Halbrund eingepasst, darauf monumentale Szenen von Bartana. Einige davon scheinen direkt an Leni Riefenstahls Olympia-Film angelehnt (Fackelträger, Diskuswerfer). Andere dagegen – Jünglinge, feenhafte Wesen in halbdurchsichtigen Gewändern, die auf Waldlichtungen Reigen tanzen – spielen direkt auf die Choreografien des Ungarn Rudolf von Laban an. Dieser hatte 1917 auf dem Monte Verità seinen «Sang an die Sonne» aufgeführt und sollte später die Eröffnungszeremonie der Nazi-Olympiade ausrichten. Doch Joseph Goebbels verbot das Unterfangen nach einer Probeaufführung: Das Ganze war ihm wohl immer noch zu frei, nicht mechanisch-militärisch genug. Bartana übersteuert bewusst, irgendwann tragen die in Zeitlupe hüpfenden Tanzenden Gummitiermasken, während sie das Raumschiff erwarten – das Pathos kippt in Parodie. Bei Mondtag hingegen in Melancholie.
Diese kuratierte Konstellation eines deutschen Künstlers mit türkischen Wurzeln und einer in Berlin lebenden jüdischen Israelin bleibt nicht bloss Repräsentationsakt. Während die Kinder und Kindeskinder der Gastarbeiter immer noch um ihre Geschichte kämpfen müssen und sich diese Ausgrenzung in Verschwörungserzählungen wie dem «grossen Austausch» bestürzend mit Antisemitismus verknüpft, offeriert Bartana der jüdischen Diaspora die Heilsgeschichte einer Science-Fiction-Flucht ins Galaktische – und thematisiert so doch nur die Ausweglosigkeit in der Gegenwart. Uff, heavy stuff.
Achtung, Falle
Insgesamt resultiert bei einer Reihe der Pavillons das kostspielige Vollballern von Räumen im Namen der (vermeintlichen) Würdigung diasporischer oder indigener Minderheiten in einer ästhetischen Überwältigung – die einen aber auch unterfordern kann. Unweigerlich kommt es dabei auch zu einer fragwürdigen politischen Indienstnahme durch die repräsentierte Nation: Schaut, wie toll wir inzwischen unsere Minderheiten würdigen! Eine Falle also.
Aber es gibt dafür ein paar gute Gegenstrategien – sowohl in der kuratierten Hauptausstellung als auch unter den Nationenpavillons.
Zum Beispiel, indem man, wie Österreich, den Pavillon einfach komplett einer gebürtigen Russin überlässt. Anna Jermolaewa, selbst als Flüchtling nach Wien gekommen, lässt nun eine ukrainische Balletttänzerin für eine Aufführung von «Schwanensee» proben – weil bei sowjetischen Staatskrisen im Fernsehen eben immer genau dieser Bolschoi-Klassiker lief. Polen hat seinen Pavillon gleich ganz der ukrainischen Künstlergruppe Open Group überlassen. Und das ist ein kleines Wunder. Denn die rechtsautoritäre, zuletzt abgewählte Regierung hatte noch einen Maler namens Ignacy Czwartos zeigen wollen, der sich darin gefiel, Polen auf seinen unbeholfenen Kitschleinwänden ausschliesslich als Opfer von Russland und Deutschland darzustellen. Die neue Regierung lud ihn wieder aus – und stattdessen die von der Jury Zweitplatzierten ein.
Deren Videoinstallation zeigt nun ukrainische Kriegsflüchtlinge in Porträtaufnahme, immer nach einem Muster: Sie stellen sich vor, erzählen kurz ihre Geschichte und machen dann ein Kriegsgeräusch nach. Das Rattern eines Maschinengewehrs, das dumpfe Geschossgeräusch von Panzern. Und dann sagen sie auf Ukrainisch «Sprich mir nach», zugleich der Titel der Arbeit. «Ratatatatatatatatata» macht die Kalaschnikow, das Karaokesprachband verfärbt sich synchron wie zum Text eines Popsongs. Mikros stehen im Raum, aber nur wenige stimmen ein. Als ich später noch mal wiederkomme, tut es gar keiner mehr – Totenstille. Ein drittes Mal komme ich wieder, eine junge Frau macht das Plopp der Artillerie ins Mikro, dreht sich verlegen um. Keiner geht hier ungerührt raus, auch ich nicht. Die Kamera bleibt auf dem Gesicht des geflüchteten älteren Herrn, der das irre Sirren einer Überschallrakete imitiert hat. Sein Mund schmunzelt, seine Augen sind feucht. Muss vom kalten Wind sein.
Pedrosas Hauptausstellung führt diesen Faden eines insgesamt eher zurückhaltenden Umgangs mit Raum und Material fort.
Im zentralen Pavillon in den Giardini ist Pablo Delanos «Museum of the Old Colony» zu sehen, eine Ausstellung für sich. Sie erzählt die visuelle Geschichte Puerto Ricos im 20. Jahrhundert: als einer halbherzig am langen Arm gehaltenen De-facto-Kolonie der USA. Wünschenswert wäre nur gewesen, man hätte dem Eindruck stärker entgegengewirkt, dass es sich um eine irgendwie abgeschlossene Ära handelt. Der US-Amerikaner Louis Fratino ist ein Shootingstar in der Malerei, seine Szenen schwuler Männer sind nicht nur besonders sinnlich, zuweilen auf drollige Art pornografisch, sondern auch mit grosser, kunstgeschichtsbewusster Eloquenz komponiert. Das Video der brasilianischen trans Person Manauara Clandestina erzählt in fünf Minuten ein ganzes Leben, mit extrem viel Humor – Migration und Transition werden bildlich verglichen mit dem Herumstolpern eines Astronauten auf dem Mond – und anarchischer Videosprache, zwischen Instagram und billigen Videotricks. Toll!
Drüben in den Hallen der Arsenale dann ein paar weitere Lichtblicke einer insgesamt recht bescheidenen, eher in die Breite als in die Tiefe gehenden Auswahl.
Gleich am Eingang findet sich eine atemberaubend schöne Unter-Decken-Konstruktion aus geometrisch exakten Schnürbändern, die ein zweites Dach einziehen; das geometrische Schattenmuster, das dabei entsteht, wird auf das darüberliegende Gewölbe geworfen – eine Arbeit der Maori-Gruppe Mataaho Collective, lose basierend auf traditionellen Flechtmustern. Dafür wurde das Kollektiv verdient mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.
Der Preis für den besten Pavillon geht am Ende nach Australien, an Archie Moore. Seine so minimalistische wie monumentale Arbeit besteht aus zwei Teilen: In Kreide auf der Wand sind Tausende Namen seines eigenen Stammbaums der Kamilaroi und Bigambul aufgeschrieben. In der Mitte des Raums ein riesiger Tisch mit Stapeln geschwärzter Akten: Dokumente zu all den Verbrechen von Gewalt und Polizeiwillkür, die sich bis in die Gegenwart an den Mitgliedern der australischen First Nations fortsetzen.
Auch das ein Signal, das man versteht: Nicht buntes Zelebrieren in Sachen Kolonialgeschichte zeichnet die Jury aus, sondern schwarz-weisse Trauer und Geschichtsschreibung.
Die Biennale hat erneut versucht, in der Kunst ihr Verhältnis zu dieser Kolonialgeschichte zu klären, mal mehr, mal weniger gelungen. Es wäre ihr und der Kunst zu wünschen, dass wir endlich in einen Bereich der Selbstverständlichkeit gelangten, in dem die zahlreichen verschiedenen Ansätze auch wieder stärker nach ihrer ästhetischen und nicht nur repräsentationssymbolischen Wirkkraft befragt werden.
Jörg Heiser ist Direktor des Instituts für Kunst im Kontext der Universität der Künste in Berlin. Er war knapp zwanzig Jahre lang Redaktor der britischen Kunstzeitschrift «Frieze». Für die Republik schrieb er zuletzt über die Marcel-Broodthaers-Ausstellung im Kunsthaus Zürich.