«Die Demokratie muss sich verbessern oder sie wird sterben»

Die Psychologin und Publizistin Marina Weisband plädiert für eine Demokratie­offensive an Schulen. Ein Gespräch über die politische Kultur – und darüber, was sich den Krisen der Gegenwart entgegensetzen lässt.

Von Daniel Graf, 24.04.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
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Funktioniert das politische Ganze in der Schweiz besser als in Deutschland? Ja, sagt Marina Weisband, und sie erklärt auch, warum. Maximilian Mann/laif

Frau Weisband, Sie fordern eine neue Schule der Demokratie. Warum braucht es die?
Wir sehen weltweit, dass mehr und mehr Demokratien fallen. Das Konzept von Demokratie ist an einem Scheide­punkt: Sie muss sich entweder verbessern oder sie wird sterben. Und eine der Schwächen der aktuellen Demokratie besteht darin, dass wir Demokratie nie wirklich lernen während unserer Sozialisation. Man erwartet von uns, dass wir wählen. Aber wo ist der Raum, wo wir uns, während wir aufwachsen und unsere Rolle in der Gesellschaft finden, fragen können: Wer bin ich eigentlich, was sind meine Bedürfnisse? Was sind die Bedürfnisse meines Nächsten? Welche Verantwortung trage ich für diese Gesellschaft? Wenn wir in einem Schul­system leben, in dem wir wenig Macht und wenig Verantwortung darüber haben, wie unsere Umwelt aussieht, lernen wir diese grundlegenden Fähigkeiten nicht. Und sind dann viel schlechter darin, sie anzuwenden, wenn die Gesellschaft einmal wirklich auf unseren Schultern liegt.

Die Demokratie ist doch aber fester Bestandteil etwa des Geschichts- und Politikunterrichts. Was fehlt?
Hier ist, wie ich in Deutschland Demokratie gelernt habe: in der 8. Klasse, per Organi­gramm. Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident und so weiter. Das hatte so gar nichts mit meinem Leben zu tun. Es war ein rein theoretisches Konstrukt, irgendwo da oben. Demokratie beginnt für mich nicht bei diesem Organi­gramm. Sondern mit einem Selbst­verständnis, dass ich verantwortlich bin für meine Gesellschaft. Dass ich nicht Konsumentin bin, sondern Gestalterin. Diese Rolle kann man nicht in einer Politikstunde lernen.

Demokratie ist also nicht einfach Lerninhalt, sondern muss eingeübt werden?
Genau. Und wie lernen wir Menschen etwas? Indem wir es leben. Demokratie muss gelebt werden.

Zur Person

Marina Weisband, 1987 in Kiew geboren und 1994 mit ihrer ukrainisch-jüdischen Familie nach Wuppertal gekommen, ist Diplom-Psychologin und Publizistin. Deutschlandweit bekannt wurde sie als Vorstands­mitglied der Piratenpartei, deren politische Geschäftsführerin sie von Mai 2011 bis April 2012 war. Nach ihrem Parteiaustritt 2015 trat sie 2018 den Grünen bei und engagiert sich dort in den Themen­feldern Digitalisierung und Bildung. Seit 2014 leitet sie hauptberuflich das Schüler-Beteiligungskonzept «Aula». Unter Mitwirkung von Doris Mendlewitsch entstand ihr Buch «Die neue Schule der Demokratie. Wilder denken, wirksam handeln», das diese Woche bei S. Fischer erscheint. Sie lebt mit ihrer Familie in Münster (Nordrhein-Westfalen, D).

Warum ist für Sie die Schule der zentrale Ort dieser Einübung?
Würde man stattdessen auf Sommer­akademien oder Nachmittags­veranstaltungen setzen, kämen immer die gleichen Jugendlichen. Und zwar diejenigen, die sowieso schon selbstwirksam sind und ein Gefühl der Verantwortung spüren. Sagen wir so: Ich wäre da als Jugendliche nicht hingegangen. Als migrantische, völlig apolitische Jugendliche habe ich immer gedacht, Politik ist etwas, das die Deutschen unter sich ausmachen.

Sie eine apolitische Jugendliche? Das wird viele überraschen!
Ich war absolut apolitisch! Es hat bis zum Moment meiner ersten Wahl gedauert, dass ich angefangen habe, mich für Politik zu interessieren. Und am selben Tag bin ich dann auch gleich in eine Partei eingetreten (die Piratenpartei, Anm d. Red.), weil ich keinerlei Impuls­kontrolle habe. Und weil ich geflasht war von dem Vertrauen, das die Gesellschaft mir jetzt plötzlich entgegenbringt. Der Punkt ist: Diese Momente gehören in die Schule, weil in der Schule alle sind. In der Schule erwische ich die, die nicht an sich glauben. Die, an die überhaupt niemand glaubt. Deswegen bin ich mit meinem Demokratie­projekt «Aula» auch besonders gern an sogenannten Brennpunkt­schulen. Weil es dort den grössten Unterschied macht.

Der Name «Aula» ist eine Abkürzung. Er steht für «ausdiskutieren und live abstimmen».
Trotzdem ist «Aula» eben auch die Abbildung der physischen Aula, also der Versammlungshalle in der Schule. Mithilfe eines digitalen Werkzeugs erreichen wir, dass sich die ganze Schule über ein Thema unterhalten kann, was im Schul­alltag normalerweise gar nicht so möglich ist. Es geht aber weit über die App hinaus. Wir wollen einen Kultur­wandel in die Schulen tragen, durch ein dauerhaftes Beteiligungs­konzept, dessen Entscheidungen verbindlich sind, weil die Regeln zuvor in einem Vertrag so festgehalten werden. Wir haben keine Pseudo­partizipation, wie es sehr oft leider gerade bei Jugendlichen passiert; dass man sagt, beteiligt euch, gebt uns eure Ideen, aber die Schul­leitung entscheidet darüber. Dagegen haben wir Mechanismen. Worüber diskutiert und abgestimmt wurde, das soll auch umgesetzt werden.

Die Schule soll selbst eine kleine Republik werden?
Im Prinzip ja. Kinder lernen Selbstwirksamkeit ja eigentlich von klein auf. Kleinkinder werfen Türme aus Bau­klötzen um, weil sie selbst noch keine bauen können, aber etwas an ihrer Umwelt verändern wollen. Sie merken: Ah, wenn ich hier mit der Hand winke, dann verändert sich die Form. Das sind die ersten Erfahrungen, die wir machen. Wir sollten Kindern solche Selbstwirksamkeits­erfahrungen in ihrer Kita geben und dann später in der Schule. Und je grösser Kinder werden, desto grösser sollte ihr Einfluss­bereich werden.

Aber wenn man demokratische Prozesse in der Schule durchspielt, greifen doch vermutlich wieder genau die Mechanismen, die Sie vorhin beschrieben haben: Die Engagiertesten machen mit, die Aussen­seiterinnen bleiben fern?
Das ist am Anfang so, auf jeden Fall. Aber wenn man ein Beteiligungs­konzept hat, das die gesamte Schule umfasst und auch im Unterricht diskutiert wird, atmen alle, auch die, die zunächst nur am Rand stehen, den Geist der Demokratie. Sie hören, was für Ideen im Raum stehen. Sie hören die Argumente dafür und dagegen. Sie merken, da passiert was. Sie beobachten, dass jemand eine Idee hat, eine Mehrheit dafür findet und sich etwas physisch an der Schule verändert.

Sie machen die Erfahrung passiv.
Ja, aber wenn dann mal eine Debatte aufkommt, die sie betrifft, zum Beispiel darüber, ob die Fussball­tore abgebaut werden sollen, dann reicht ihnen ein einziger Klick auf der Plattform, um dagegenzu­stimmen. Es ist extrem niedrigschwellig. Wenn sie sich schon mal eingeloggt und schon mal geklickt haben, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch über eine zweite Idee abstimmen. Und wenn sie schon mal abgestimmt haben, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie mal einen Verbesserungs­vorschlag liken. Und irgendwann machen sie vielleicht selber einen Vorschlag. Sie werden also in den demokratischen Prozess hineingezogen. Man sagt immer, Selbst­wirksamkeit sei eine individuelle Eigenschaft. Daran glaube ich nicht.

Sondern?
Selbstwirksamkeit ist ein soziales Konstrukt. Ich erwerbe die Erfahrung von Wirksamkeit auch, wenn ich sehe, dass meine Mitschülerinnen etwas machen. So lerne ich: Es gibt nicht «wir hier unten» und «die da oben», sondern wir sind wirkmächtig.

Können Sie ein Beispiel geben?
Als wir einmal an einer sogenannten Brennpunkt­schule das Projekt gestartet haben, sagte eine Schülerin zu mir: Frau Weisband, das klingt nach einem tollen Projekt, aber wir sind hier an der Schule leider zu dumm dafür. Das hat die Schülerin selbst gesagt! Und tatsächlich ist in ihrer Stufe das Projekt zuerst zwei Jahre lang so ein bisschen vor sich hin gedümpelt. Dann haben sich zwei Mädchen auf den Weg gemacht und vorgeschlagen, ein Tanzfest zu machen und ein Stufen­frühstück. Sie haben einfach gesagt, lass uns das mal ausprobieren, und sie haben es durchgezogen. Sie sind mit einem Wagen voller iPads durch die Klassen gegangen und haben die Leute abstimmen lassen. Schliesslich wurden die Ideen umgesetzt und die Schülerinnen meinten, sie hätten zum ersten Mal so was wie einen Stufen­zusammenhalt gespürt. Das hing massiv damit zusammen, wie sie begleitet wurden. Denn am Anfang hatten sie einen Lehrer, der nicht sehr an sie geglaubt hat. Und als sie später eine Begleitung hatten, die sie ermutigt hat, sind auch Schülerinnen förmlich aufgeblüht, von denen das vorher keiner erwartet hatte.

Wie muss man sich die Abstimmungen vorstellen?
Das Projekt findet immer analog und digital statt. Das Digitale ist nur ein Hilfsmittel, um das, was im Analogen passiert, zu strukturieren, zu protokollieren und allen verfügbar zu machen. Die Schüler können zu jeder Zeit, von ihrem Handy aus, von zu Hause oder aus der Schule, eine Idee einstellen. Eben zum Beispiel ein internationales Tanzfest. Dann können andere Schülerinnen diese zunächst wilde Ideen­sammlung anschauen und sagen, hey, das klingt nach einer guten Idee, das möchte ich mir merken und da gebe ich ein Like. Hat eine gewisse Anzahl Schülerinnen eine Idee gelikt, kommt sie in eine ernsthafte Ausarbeitungs­phase. Es folgt eine regelmässige «Aula»-Schulstunde, analog im Klassenraum. Dort wird besprochen: Welche neuen Ideen sind schon in der Ausarbeitungs­phase? Möchtest du deine Idee vorstellen? Was sind die Vorteile deiner Idee? Wer könnte Nachteile daraus haben? Gibt es ähnliche Ideen, mit denen du Kompromisse schliessen könntest? Dann wird das Ganze diskutiert und debattiert.

Also eine moderierte Diskussion – und der Lehrer moderiert?
Am Anfang ja, später dann immer öfter die Schüler­moderatoren. Wir geben das möglichst weit in Schüler­verantwortung. Parallel zur analogen Debatte kann man digital Verbesserungs­vorschläge an die Idee formulieren. Also zum Beispiel: Ja, gerne ein internationales Tanzfest, aber legt doch bitte fest, wann, am besten im Mai. So konkretisiert sich die Idee, bis ein richtiger Projekt­plan steht. Der kommt dann auf den Tisch der Schul­leitung.

Und die muss Ja sagen?
Sie muss erst einmal prüfen: Ist diese Idee mit unserem Vertrag vereinbar? Kann sie überhaupt umgesetzt werden oder verstösst sie gegen irgendwelche Gesetze oder Regeln? Ist das der Fall, muss die Schul­leitung eine entsprechende Begründung geben, sodass man die Idee noch mal anpassen kann. Für die Ideen, die umsetzbar sind, gibt die Schulleitung grünes Licht für die Abstimmungs­phase. Und nach zwei Wochen Online-Abstimmung sieht man, welche Ideen die beliebtesten sind und umgesetzt werden dürfen. Verantwortlich für die Umsetzung sind ebenfalls die Schülerinnen, sie sind die Autoren dieser Idee. Sie können um Hilfe bitten, sie können jemanden beauftragen. Aber wenn Schüler eine tolle Idee haben, Mehrheiten dafür finden und dann keine Arbeit in die Umsetzung investieren, kriegen sie auch kein Ergebnis. Auch das ist durchaus ein pädagogisch erwünschter Effekt.

Aber ist es nicht so, dass sich meist die Idee durchsetzt, die von den Coolsten, den Beliebtesten, den Rede­gewandtesten kommt? Und wenn diejenigen, die ohnehin schon Aussen­seiter sind, mit ihren Initiativen scheitern, was wird dann aus deren Motivation für das demokratische Prinzip?
Das ist das Wunderschöne daran: Es bildet das Leben ab. Und zwar in einem Rahmen, in dem wir es reflektieren können. Wie habe ich abgestimmt und warum? Was hat mich dazu bewegt? In dem Moment, wo man reflektiert, ich habe abgestimmt für jemanden, weil er mir eine Tüte Gummi­bärchen angeboten hat oder weil ich mit dem befreundet bin, kann man sehr gut die Frage diskutieren, was ist eigentlich meine Stimme in einer Demokratie wert? Demokratie an der Schule einzuüben hat nicht das Ziel, eine künstliche, optimale Welt zu schaffen, in der diese sozialen Mechanismen ausgesetzt sind. Sondern einen realistischen Übungs­raum, in dem ich diese Mechanismen diskutieren und verstehen kann.

Sie schreiben in Ihrem diese Woche erscheinenden Buch, Demokratie sei die anstrengendste Staatsform, die man sich vorstellen kann. Wenn man sich ausmalt, dass Schülerinnen manchmal ohnehin keine Lust haben, neben dem Schul­stoff noch zusätzlichen Aufwand zu treiben: Wie begeistert man sie für die anstrengendste Staatsform der Welt?
Eine unserer Beobachtungen ist, dass anfangs die Motivation bei den jüngeren Schülerinnen tendenziell deutlich grösser ist als bei den älteren. Als wir nachgeforscht haben, woran das liegt, haben wir häufig von den Älteren gehört: Ja, warum soll ich mich denn beteiligen? Die Lehrer machen doch eh, was sie wollen. Das ist erlernte Hilflosigkeit! Etwas, das die Schüler in ihrer Laufbahn gelernt haben, nämlich: Ich kann sowieso nicht viel ausrichten. Das heisst, die Motivation, an dem Projekt teilzunehmen, ist direkt geknüpft an die Erwartung, dass sich durch die Teilnahme etwas verändert.

Wenn die reale Umsetzung so wichtig ist: Was passiert mit der Motivations­kurve, wenn jemand wahnsinnig viel Herzblut investiert hat in eine Idee, und am Ende geht die Abstimmung knapp oder krachend verloren?
Das kann frustrieren. Es ist aber ein völlig anderer Frust, als wenn man von oben von der Schul­leitung abgeschmettert wird. Denn ich werde zumindest die Erfahrung machen, dass, wenn ich verloren habe, ja ein Mitschüler gewonnen hat.

Haben Sie mit «Aula» auch Erfahrungen in der Schweiz?
Ja, wir kooperieren zum Beispiel mit Voty.ch, um das Konzept auch an Schweizer Schulen zu bringen. Und dort ist es ja übrigens viel ähnlicher zu dem, wie auch das politische Ganze funktioniert. Das Gefühl, ich bin irgendwie verantwortlich für meine Umgebung, das ist in der Schweiz viel verbreiteter als in Deutschland.

Sie würden sagen, die niedrige administrative Ebene, angefangen bei der Kommune oder beim Quartier, ist das Entscheidende?
Ja, ich glaube tatsächlich, je niedriger die administrative Ebene, desto leichter kann ich Selbstwirksamkeit vermitteln. In Deutschland geben wir unsere Steuern direkt an den Bund und von dort aus werden die runterverteilt. Das ist ein völlig anderes Gefühl. Kommunal­politik wird in Deutschland ständig stief­mütterlich behandelt. Ich bin viel in der Schweiz und sehe, was für riesige Vorteile es bietet, wenn ich mich so stark mit meiner eigenen Kommune identifiziere.

Beim «Aula»-Prinzip in der Schule gilt: Jede Person hat eine Stimme. Wenn man jetzt zum Beispiel auf die politische Realität der Schweiz schaut, da sieht es etwas anders aus. Ein Viertel der hier lebenden Menschen hat keinen Schweizer Pass und damit keine Möglichkeit, in der grossen politischen Aula der Schweiz dabei zu sein. Ist dieser Ausschluss nicht ein viel grundsätzlicheres Problem als fehlendes Demokratie­training?
Zunächst: Ich lebe in einem Land, wo sehr, sehr viele Menschen wählen dürfen und nichts damit anfangen können. Oder wo es für bestimmte Ziele buchstäblich keine Partei gibt, die ich wählen kann, um sie zu erreichen. Die Mehrheit der Deutschen findet, wir tun zu wenig in Sachen Klima­schutz. Aber wir können diese Politik gar nicht wählen, weil selbst die Grünen jetzt in der Regierung so kompromiss­geleitet sind, dass nicht genug passiert. Wählen ist also ein sehr begrenztes Mittel. Nun ist die Abstimmung in der Schweiz über inhaltliche Initiativen aber noch einmal was anders. Und deswegen ist es ein umso grösseres Defizit, wenn ein grosser Teil der dort lebenden Menschen nicht abstimmen darf.

Deswegen gibt es in der Schweiz die Demokratie-Initiative der Aktion Vierviertel, die sagt: Wenn von acht Millionen Menschen zwei Millionen ausgeschlossen sind, ist es eigentlich keine vollwertige Demokratie.
Nun muss man sagen: Keine Demokratie ist vollwertig. Jede Demokratie ist stets im Werden begriffen. Und die Schweiz ist Deutschland dahingehend meilenweit voraus. Trotzdem: Ja, das ist einer der Punkte, die verbesserungs­würdig sind. Jemand, der dauerhaft in einem Land lebt und arbeitet, sollte auch über die Geschicke dieses Landes mitbestimmen dürfen.

Wenn wir mal nicht in die Schule, sondern auf die Berufstätigen schauen: Wo können sie im Alltag demokratische Kultur einüben?
Natürlich gibt es auch für Erwachsene endlos viele Möglichkeiten, Selbst­wirksamkeits­erfahrungen zu machen. Das krasseste Umfeld, in dem ich je war, war der Maidan in der Ukraine. Dort habe ich gesehen, wie post­sowjetisch autoritär erzogene Leute plötzlich selbst dafür gesorgt haben, dass es warmes Essen vor Ort gab. Sie haben Kirchen besetzt und dort Operations­säle eingerichtet, um Leute kostenlos medizinisch zu behandeln. Sie haben eine offene Universität aus dem Boden gestampft. Die kleinste Einheit der Demokratie ist die direkte Hilfe. Also wenn ich zum Beispiel die doppelte Portion Suppe mache, zu meinen älteren Nachbarinnen nach oben gehe, klingel und sage: Ich habe Suppe gemacht, möchten Sie etwas? Diese Form des Schaffens öffentlicher Orte, des Zusammen­kommens, des sich gegenseitig Unterstützens ist unfassbar wertvoll. Umso mehr in einer Welt, in der der Neoliberalismus uns vereinsamen lässt.

Nun hat die gegenwärtige Zunahme von Extremismus und Demokratie­feindlichkeit auch viel mit Sündenbock­narrativen zu tun. Offenbar haben diese Narrative für manche Menschen, die eigentlich alle Partizipations­möglichkeiten besitzen, eine psychologische Entlastungs­funktion. Sündenböcke auszurufen, scheint manchen attraktiver und bequemer, als sich dem mühsamen Prozess der Demokratie zu widmen. Sie als Psychologin gefragt: Wo kann man da ansetzen?
Ich stimme Ihnen zu in Sachen psychologische Entlastungs­funktionen. Aber auch hier spielt das Thema Selbstwirksamkeit eine Rolle. Politiker, die solche Opfer­narrative ganz bewusst bedienen, wollen ja Menschen gewinnen, die sich nicht selbstwirksam fühlen. Die Möglichkeit zu wählen, hilft da nur bedingt. Viele empfinden sehr stark eine gefühlte Trennung zwischen «wir hier unten» und «die da oben». Das hat einerseits damit zu tun, dass wir zwar wählen können, wen wir wollen. Aber es ist dann Glücks­sache, was politisch passiert. Und ebenso wichtig: Selbstwirksamkeit hat nicht nur damit zu tun, wie viel Einfluss ich auf die Bundes­politik habe, sondern mit Gefühlen wie: Ich arbeite und kann mir immer noch kein Haus leisten. Oder: Meine Frau und ich müssen beide dringend Geld verdienen und wir wissen nicht, wie wir unsere Kinder betreuen sollen. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Wir haben wieder Krieg in Europa. Das Klima verändert sich. Und dann das Gefühl: Ich weiss nicht, was ich dagegen tun kann. Ich bin hilflos.

Die Menschen fühlen sich ohnmächtig?
Viele Menschen sind überfordert. Fast alle spüren diese Belastungen. Und ein Teil der Menschen ist dann so überfordert, dass er Trost sucht in einer Form von Verschwörungs­denken: Wenn ich keine Kontrolle über mein Leben habe, irgend­jemand muss sie ja haben. Und dann zeigen die Leute auf die Juden. Oder es heisst: Wenn nicht so viele Ausländer beim Zahnarzt sässen, bekäme ich leichter einen Termin. Was natürlich alles Quatsch ist. Gleichzeitig sehen wir, dass seit Jahren tatsächlich kaum in Infrastruktur investiert wird. Und dann kommen manche und sagen, die Migranten sind daran schuld, was natürlich eine infame Lüge ist. Aber wenn Politiker nicht in öffentlichen Personen­verkehr oder in das Gesundheits­system investieren, müssen sie ja irgendwie erklären, warum die Lage so desaströs ist. Und dann bemühen viele die Ausländer. So trägt die Mitte der Gesellschaft und der Politik dazu bei, dass der rechte Rand gestärkt wird.

Haben auch die politisch Verantwortlichen zu wenig demokratische Kultur gelernt? Oder geht es da schlicht und ergreifend um Macht und Interessen?
Es ist eine System­frage. Ich sage immer, deutsche Parteien machen keine Politik, sie machen Verwaltung. Das liegt aber nicht daran, dass keine Menschen mit Visionen in die Politik gehen würden. Nur werden sie mit der Zeit entweder selbst abgestumpft oder scheiden aus der Politik wieder aus, so wie ich.

Sie sind aber noch bei den Grünen, oder?
Ja, aber ich habe kein Amt oder Mandat. Ich hätte Vorstands­mitglied bei den Grünen werden können. Mir stehen ja politisch eigentlich alle Türen offen in Deutschland. Ich will das nicht, weil ich gemerkt habe, das ist ein Verwaltungs­apparat. Und ich weiss, es würde mich fertigmachen. Es würde meine Kräfte binden und das Gute, was ich machen kann, verhindern. Eben weil Parteien Verwaltungs­apparate sind. Und die Menschen an die Spitze befördern, die am besten durch Verwaltungs­apparate navigieren.

Sie haben schon die weltpolitische Lage angesprochen. Seit dem Nahost­krieg scheint die öffentliche Debatte in manchen Fragen noch schwieriger geworden. Unabhängig davon, wie man zu bestimmten Konflikt­fragen steht, lässt sich beobachten, dass sich vielerorts die Fronten im Diskurs verhärten. Es kommt zu Boykott­aufrufen, Veranstaltungen werden abgesagt, eingeladene Gäste wieder ausgeladen. Die Toleranz für abweichende Positionen scheint zu schwinden. Wie nehmen Sie die gegenwärtige Diskussions­kultur wahr, in Deutschland und anderswo?
Es ist, wie Sie es beschreiben – und das ist ein ganz normales Anzeichen von Stress. Man kennt es auch aus dem persönlichen Erleben: Wenn wir wahnsinnig gestresst sind, total unter Strom stehen und uns um etwas grosse Sorgen machen, dann verstehen wir ein ganz normales «Stell mal bitte deine Schuhe weg» unseres Partners plötzlich viel stärker als Kritik an der eigenen Person. Etwas Ähnliches passiert gerade im grossen gesellschaftlichen Kontext. Die Fronten sind nicht verhärtet aufgrund der Spaltung durch Social Media, sondern aufgrund des allgemeinen Stresses. Ich merke zum Beispiel auch unter den Juden, mit denen ich viel zu tun habe, dass man natürlich viel empfindlicher ist. Die typischen Diskurse rund um israelische Politik, die immer geführt werden, und zwar gerade unter Jüdinnen und Juden auch sehr, sehr strittig, diese Diskussionen bekommen jetzt plötzlich eine Verkrampftheit, weil es ums Überleben geht. Und es ist nicht einfach, über Themen zu sprechen, wenn es ums Überleben geht.

Von Ausladungen und heftigen Debatten waren zuletzt in Deutschland auch immer wieder jüdische Stimmen betroffen. Wie bewerten Sie diese Diskussionen, etwa um Nancy Fraser oder Masha Gessen?
Ich muss sagen, einige jüdische Stimmen bewegen sich auch jenseits der Grenze dessen, was ich okay finde. Und ich finde es völlig in Ordnung, wenn sie Gegenwind kriegen. Andererseits wird, gerade in Deutschland, auch viel überkompensiert. Der Kampf gegen Antisemitismus wird sehr stark geknüpft an die Solidarität mit der israelischen Regierung. Das geschieht vor allem von rechts. Die Logik lautet dann: Wenn du solidarisch mit Netanyahu bist, kannst du überhaupt kein Antisemit sein. Und wenn du nicht solidarisch mit ihm bist, bist du Antisemit. Egal was du ansonsten an Verschwörungs­theorien über Juden verbreitest – denken Sie nur an Elon Musk. Das ist ein ganz gefährlicher Prozess, denn in Israel wird natürlich auch gegen Netanyahu protestiert. Und ausserdem verstärkt es diesen Mechanismus, dass wir Jüdinnen automatisch quasi israelische Botschafterinnen seien. Das ist verheerend.

2024 ist weltweit ein Super­wahljahr und damit auch eine Art Schicksals­jahr der Demokratie. Was macht Ihnen am meisten Sorge?
Im Moment ganz klar die amerikanische Wahl. Weil davon auch massiv das Überleben meines Heimat­lands, der Ukraine, und damit konkret auch meiner Familie abhängt. Das alles ist sehr persönlich für mich. Das Zweite ist, wenn die USA als Nato-Staat fallen, dann ist auch Deutschland quasi schutzlos. Dann steht eigentlich nur noch das sich im Moment hochrüstende Polen zwischen uns und Russland. Drittens sehe ich einen sehr, sehr gut koordinierten Faschismus, der weltweit gerade nach der Macht strebt. Wir sehen es daran, wie Steve Bannon und Elon Musk sich jetzt einmischen und zum Beispiel in Deutschland die AfD fördern. Dabei sind es immer die gleichen Narrative gegen trans Personen, gegen queere Menschen, gegen Immigranten. Es sind exakt die gleichen Erzählungen von Putin über die Rechten in der Schweiz und in Deutschland bis hin zu den USA. Und die internationale Rechte ist koordiniert. Diese Narrative werden in psychologischen Thinktanks erarbeitet und an Focus Groups getestet. Und die Demokratien haben dem so wenig entgegenzusetzen. Weil wir uns überhaupt nicht auf die gleiche Weise vorbereiten und das Ganze immer noch nicht genügend ernst nehmen.

Was wäre zu tun? Mal ganz konkret mit Blick auf Deutschland, wo drei richtungsweisende Landtags­wahlen bevorstehen, bei denen die AfD stärkste Kraft werden könnte.
Ganz konkret, wir brauchen dringend ein AfD-Verbots­verfahren. Ich schreie buchstäblich die Politikerinnen an, die sich unsicher sind, ob das eine gute Idee ist: Natürlich ist es eine gute Idee! Es ist selbst dann eine gute Idee, wenn es scheitert. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass sich die AfD selbst zerlegen würde, wenn man plötzlich jede Aussage der Vorsitzenden darauf abklopfen müsste, ob sie verfassungs­konform ist. Denn dann sagen sie nicht mehr, was ihre radikalsten Mitglieder denken, und die radikalsten Mitglieder fangen an, sie anzugreifen. Es gibt inner­parteilichen Tumult. Und die Zustimmungs­werte sinken. Schon das wäre wahnsinnig wertvoll. Hinzu kommt: Die AfD finanziert sich aus öffentlichen Geldern. Das heisst konkret, ich arbeite und ein Teil meiner Steuern geht an die AfD – an eine Partei, die meine Sicherheit hier bedroht! Wir brauchen dringend dieses Verbots­verfahren. Und wir brauchen eine Reform der Demokratie. Sie beginnt mit «Ich helfe meinen Nachbarn» und endet beim Wahl­system. Das Dritte ist, wir müssen die Probleme angehen, die im Moment missbraucht werden, um Stimmung zu machen.

Woran denken Sie speziell?
Wo in Infrastruktur investiert wird, gibt es niedrigere Umfrage­ergebnisse für die Rechtsaussen­parteien. Das sehen wir auch in den USA und überall. Eine EU-Studie hat kürzlich wieder gezeigt: Wo in Gesundheits­erhaltung, in Sozialsysteme, in öffentlichen Verkehr investiert wird und übrigens auch, wo es eine starke Lokal­presse gibt, da verlieren die Rechten. Es herrscht weniger Frust bei den Menschen. Und ein höheres Vertrauen in die Demokratie. Dass diese Zusammenhänge übersehen werden, ist sträflich.

Zum Schluss, wenn wir noch einmal auf das «Aula»-Projekt schauen und die Perspektive umdrehen: Was haben Sie in all den Jahren von den Schülerinnen über Demokratie gelernt?
Wahnsinnig viel. Ein Schüler hat einmal gesagt: Kritisches Denken ist in der Schule gefordert, aber nicht erwünscht. Das fand ich sehr schön und sehr wahr. Aber der wichtigste Satz fiel bei einer Podiums­diskussion, wo einer unserer Schüler auf dem Panel war, neben der Transformations­forscherin Maja Göpel, und ich habe gefragt: Was macht euch Hoffnung? Maja Göpel machte deutlich, dass die Lage gerade sehr schwierig sei. Und der Schüler sagte: Na ja, die Menschheit ist ja noch sehr jung. Wir lernen ja noch! Ich glaube, man kann von Kindern nichts Wertvolleres über Demokratie lernen als diesen Satz. Unter Erwachsenen herrscht jetzt häufig so eine Endzeit­stimmung, nach dem Motto: Wir befinden uns im letzten Kapitel der Demokratie. Ich finde den Hinweis auf die Gefahr nicht falsch. Aber wir sollten ihn möglichst mit der Aussicht verbinden: Hey, wir sind ein Kind, das sich gerade richtig verstolpert hat. Wir müssen lernen, uns aufzufangen. Und das können wir, weil wir Menschen extrem lernfähig sind.

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