Am Gericht

Dreizehn Minuten fürs Klima

Langsam, aber sicher wird die Dringlichkeit der Klimakrise weitherum anerkannt – in Politik, Justiz und Gesellschaft. Dessen ungeachtet kommt es jedoch weiterhin zu Schuld­sprüchen gegen Klima­aktivisten.

Von Brigitte Hürlimann, 24.04.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
0:00 / 12:11

Ihnen liegt etwas am Rechtsstaat? Uns auch. Deshalb berichten wir jeden Mittwoch über die kleinen Dramen und die grossen Fragen der Schweizer Justiz.

Lesen Sie 21 Tage zur Probe, und lernen Sie die Republik und das Justizbriefing kennen!

Der Weltklimarat IPCC, eine Institution der Vereinten Nationen, hat am 20. März 2023 seinen abschliessenden Synthese­report veröffentlicht – und zwar in der Schweiz, in Interlaken. Uno-General­sekretär António Guterres sagte bei der Präsentation: «Die Klima-Zeitbombe tickt. Aber der heutige IPCC-Bericht ist ein Leitfaden zur Entschärfung der Klima-Zeitbombe. Es ist ein Überlebens­leitfaden für die Menschheit.»

Das sind Worte, die unzweideutig zum sofortigen Handeln aufrufen. Für die Autorinnen des IPCC-Berichts steht fest: Es bleibt keine Zeit mehr. Die bisherigen Massnahmen im Kampf gegen den Klima­wandel seien zu wenig ambitioniert und zu wenig weitreichend. Die Regierungen agierten zu langsam.

Falls es nicht zu einem sofortigen, weltweiten Umdenken und entschlossenem Handeln komme, werde sich die Erde bereits in den 2030er-Jahren um 1,5 Grad erwärmt haben. Aktuell liege die Erwärmung bei 1,1 Grad. «Dies führt schon jetzt zu immer häufigeren und intensiveren Extremwetter­ereignissen, die immer gefährlichere Auswirkungen auf die Natur und den Menschen in allen Regionen der Welt haben», so die 93 Wissenschaftler, die am IPCC-Schluss­bericht mitgewirkt haben.

Der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte in Strassburg hat die Dringlichkeit vor zwei Wochen in seinem Klimaseniorinnen-Urteil anerkannt. Und die Schweizer Gerichtsbarkeit?

Ort: Obergericht, Zürich
Zeit: 14. März 2024, 13.30 Uhr, und 18. April 2024, 9 Uhr (Urteils­eröffnung)
Fall-Nr.: SB230188
Thema: Nötigung

Am Schluss gehts ratzfatz.

Exakt dreizehn Minuten benötigt das Obergericht des Kantons Zürich, um den Schuld­spruch gegen einen Klima­aktivisten zu begründen. Aus verschiedenen Winkeln der Deutsch­schweiz sind der heute 47-jährige Beschuldigte und sein Verteidiger für diese mündliche Urteils­eröffnung angereist; eine Journalistin und ein Journalist sitzen auf den Zuschauer­plätzen, klappen die Laptops auf und spitzen die Ohren.

Alle werden sie enttäuscht.

Die Wege in die Zürcher Altstadt haben sich nicht gelohnt, weder der kurze noch der lange. Zu hören ist fast nichts. Ausser dass das Berufungs­gericht das vorinstanzliche Urteil bestätigt, in allen Punkten. Es bleibt bei einer Verurteilung wegen Nötigung und bei der bedingten Geldstrafe von 15 Tagessätzen à 90 Franken.

«Das wird Sie nicht erfreuen, aber vermutlich auch nicht gross überraschen», sagt der vorsitzende Oberrichter, Christian Prinz, bei seinen Ausführungen. Die beiden Mitrichterinnen bleiben stumm und haben nichts anzufügen.

Darüber hat das dreiköpfige Gremium entschieden: Der Lehrer und Vater von zwei Kindern hat am 4. Oktober 2021 an einer Kundgebung der Organisation «Extinction Rebellion» in der Stadt Zürich teilgenommen, zusammen mit rund 200 weiteren Aktivistinnen. Er stand auf der Urania­strasse und hielt ein Transparent in der Hand.

«Wir wollen leben» stand darauf geschrieben.

Der motorisierte Strassen­verkehr musste ein paar Stunden lang umgeleitet werden. Die Polizei war über die Aktion zwar im Voraus informiert worden, eine Bewilligung lag aber nicht vor. Der Lehrer wurde abgeführt, kam in Polizeihaft und kassierte einen Strafbefehl, den er nicht anerkannte, sondern dem Bezirksgericht Zürich vorlegte.

Dieses sprach ihn am 11. Januar 2023 wegen Nötigung schuldig und verhängte die erwähnte bedingte Geldstrafe. Der Verurteilte zog den Entscheid an die nächste Instanz weiter, ans Obergericht. Die Verhandlung fand Mitte März statt und dauerte bis in den Abend hinein – zur Überraschung des Gerichts, das offensichtlich mit einem kurzen Prozess gerechnet hatte.

Und mit einem Routinefall.

Doch für den Klima­aktivisten und seinen Verteidiger, Andreas Noll, geht es um alles andere als um Routine.

Der Beschuldigte hat sich für den Obergerichts­prozess sorgfältig und aufwendig vorbereitet. Er hat eine 83-seitige Stellung­nahme verfasst, die er vorlesen möchte. Der wortgewandte Mann übt Kritik am vorinstanzlichen Verfahren und am Urteil des Bezirksgerichts.

Er spricht über «Recht und Gerechtigkeit in schrecklichen Zeiten», zitiert Gustav Radbruch und Immanuel Kant, verlegt die Klima­katastrophe auf die untergehende Titanic – oder erwähnt den persischen König Xerxes I., der das Meer mit 300 Peitschen­hieben, Fusseisen und Faust­schlägen dafür bestraft habe, dass es sein Heer an der Überquerung des Hellesponts (eine Meerenge, die heute als Dardanellen bekannt ist; Anm. d. Red.) gehindert habe.

Mit der grotesken Aktion des antiken Königs zieht der Klima­aktivist eine Parallele zu seinem Handeln in Zürich – beziehungsweise dem, was ihm der Staatsanwalt in der Anklage­schrift vorwirft. Es sei doch nun wirklich nicht möglich, sagt er, mit gut 200 gewaltfrei agierenden Menschen eine Grossstadt lahmzulegen. Erst recht nicht, wenn dies im Voraus angekündigt werde. Wer so etwas plane, sei ein «Grosskönig im Reiche des Wahnsinns», ein wahrer Nachfolger des historischen Xerxes I.

Und nein, er, der Beschuldigte, peitsche nicht aufs Wasser.

Der Lehrer darf etwa die Hälfte seiner Stellungnahme vortragen. Zu mehr reicht die Geduld des Obergerichts nicht. Nur knapp schafft er es noch, sein Titanic-Beispiel in einer abgekürzten Version anzufügen.

Es ist eine derart anschauliche Parabel, dass sie den Republik-Leserinnen nicht vorenthalten werden soll – wenn auch nur in einer nochmals zusammen­gerafften Kürzestfassung.

Also:

Das Schiff ist leck. Wasser läuft ein. Die Information verbreitet sich unter den Passagieren, die Zeit zum Handeln drängt (siehe IPCC-Bericht). Doch die Rettungs­massnahmen verzögern sich, aus unerklärlichen Gründen. Einige der Passagierinnen entschliessen sich deshalb, den Speisesaal zu besetzen, weil sie an diesem zentralen Ort die meisten Menschen auf dem untergehenden Schiff erreichen. Sie wollen informieren, auf die sich abzeichnende Katastrophe hinweisen.

Offiziere und Matrosen setzen der Besetzung ein Ende, die friedlich Protestierenden werden abgeführt und eingesperrt. Danach landen sie vor dem Schiffsgericht – und werden wegen Nötigung verurteilt. Sie haben ein Candle-Light-Dinner auf der Titanic gestört, den Gästen im Speisesaal eine Verzögerung der Mahlzeit zugemutet.

Die Besetzung des Raums, so das Schiffs­gericht, stehe in keinem Zusammenhang mit dem Wasser, das in die «Titanic» eindringe.

Es sei dadurch kein einziger Liter weniger ins Schiff gelangt.

Was das Zürcher Obergericht von der Titanic-Parabel oder vom wasser­peitschenden König Xerxes hält, hat es in der dreizehn­minütigen, mündlichen Urteils­begründung nicht verraten. Ausser dem kleinen, jedoch nicht unwesentlichen Hinweis, man gehe nicht davon aus, dass der Lehrer mit seinem Tun bezweckt habe, Zürich lahmzulegen. Oder dabei mitzuhelfen. Dieser Vorwurf sei nicht bewiesen.

Sonst aber sagt die Berufungs­instanz, was zu erwarten war: dass der Tatbestand der Nötigung erfüllt werde. Verkehrs­teilnehmer hätten im Stau stehen oder Umwege in Kauf nehmen müssen. Das sei Ziel der Aktion gewesen, nicht bloss ein Neben­effekt. Die Kundgebung hätte auch an einem anderen Ort durchgeführt oder aber das Anliegen auf politischem Weg eingebracht werden können. Besser gesagt: müssen.

Eine Bestrafung des Klimaaktivisten verletze weder die Meinungs­äusserungs- noch die Versammlungs­freiheit. Das zu tolerierende Mass an Störung sei überschritten worden. Schliesslich gehe es um Ruhe und Ordnung in der Stadt – und um die Freiheits­rechte der anderen. Die Stadt­behörden hätten sich «sehr tolerant» gezeigt und die Kundgebung gut zwei Stunden lang geduldet.

Es liege auch kein Notstand vor. Und all das, was der Beschuldigte heute vom Obergericht höre, sei ja vom Bundes­gericht schon mehrfach bestätigt worden. Jüngst wieder in einem Urteil vom 16. Januar 2024, in dem es um die Strassenblockade vom 14. Dezember 2019 in Lausanne geht.

Die wesentlichen und vor allem die relevanten Ausführungen, sagt der vorsitzende Oberrichter, könnten dem schriftlich begründeten Urteil entnommen werden.

Bleibt also abzuwarten, ob sich das Gericht zu den diversen Rügen und Vorbringen des Verteidigers äussern wird. Dass es für eine Bewilligungs­pflicht in der Stadt Zürich an einer genügenden gesetzlichen Grundlage fehle, zum Beispiel. Oder dass strittig sei, ob bei einer politischen Kundgebung überhaupt von einem gesteigerten Gemein­gebrauch des öffentlichen Grund und Bodens die Rede sein könne – nur dann wäre eine Bewilligung nötig.

Advokat Noll betonte an der Verhandlung im März die Bedeutung des zivilen Ungehorsams und des diskursiven Meinungs­bildungs­prozesses im demokratischen Rechtsstaat.

Das taten Ende Januar dieses Jahres auch fünf Uno-Sonder­berichterstatterinnen mit einer Depesche zuhanden der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Sie sorgen sich, dass die Strafverfolgung von Klima­aktivisten in der Schweiz Menschenrechte verletzen könnte.

Das Schreiben aus der Uno hat das Zürcher Obergericht dazu bewogen, die Urteils­eröffnung um gut zwei Wochen zu verschieben. Doch dazu, was die Berufungs­instanz von der Depesche hält, war in den dreizehn Minuten ebenfalls nichts zu hören.

Bleibt nichts anderes übrig, als auf den schriftlich ausformulierten Entscheid zu warten. Für Andreas Noll und seinen Mandanten ist jetzt schon klar, dass sie die Verurteilung weiterziehen werden.

Zuerst nach Lausanne, ans Bundes­gericht. Mit einem absehbaren Resultat.

Dann weiter nach Strassburg.

Illustration: Till Lauer

Verpassen Sie keine Ausgabe von «Am Gericht»: Mit einem Abo haben Sie diese und weitere Geschichten immer griffbereit – am besten gleich Mitglied werden.