Ein Urteil geht um die Welt

Am 9. April 2024 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte einen historischen Entscheid. Die Schweiz mache zu wenig für den Klimaschutz und verletze damit Menschen­rechte. Das Urteil löste mancherorts Kritik und Empörung aus. Eine Replik aus der Wissenschaft.

Ein Gastbeitrag, 22.04.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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Unternimmt die Schweiz wirklich zu wenig für den Klimaschutz?

Ist es berechtigt, zu behaupten, dass dadurch die Menschen­rechte von Seniorinnen beeinträchtigt sind?

Ja.

Ältere Frauen sind besonders von Hitzewellen betroffen und haben ein erhöhtes Risiko, daran zu sterben. Allein als Folge der Hitzewelle 2022 sind in der Schweiz etwa 370 Personen gestorben, darunter mehrheitlich ältere Frauen. Solche Hitze­wellen werden in Zukunft immer häufiger und intensiver.

Der letzte Bericht des Weltklimarats zeigt, dass die globalen CO2-Emissionen zu wenig schnell zurückgehen. Die Ziele des Pariser Abkommens von 2015, das die Schweiz nach einem demokratischen Prozess ratifiziert hat, sind so immer schwieriger zu erreichen.

Zum Autorinnenteam

Dieser Gastbeitrag stammt (in alphabetischer Reihenfolge) von Charlotte Blattner, Claus Beisbart, Véronique Boillet, Andreas Fischlin, Thomas Frölicher, Martin Grosjean, Corina Heri, Fortunat Joos, Helen Keller, Jörg Künzli, Christoph Raible, Evelyne Schmid, Sonia Seneviratne, Thomas Stocker, Ana Vicedo-Cabrera, Ralph Winkler und Judith Wyttenbach. Sie sind mehrheitlich in der Klima-, Politik- und Rechts­wissenschaft tätig und geniessen weltweites Renommee.

Wissenschaftlich ist die Lage klar: Global betrachtet sollten die CO2-Emissionen bis 2030 gegenüber 2010 etwa halbiert werden, damit die Erderwärmung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden kann.

Die Schweiz hat bisher nicht genug unternommen, um dieses Ziel zu erreichen.

Sie hat sich zu wenig um ein zielführendes Treibhausgas­budget bemüht und ihre bisherigen Emissions­ziele, gestützt aufs CO2-Gesetz, nicht eingehalten.

Auch die in der Zwischenzeit ergangenen (und vom Gerichtshof für Menschen­rechte berücksichtigten) Gesetzes­änderungen reichen nicht aus, um den notwendigen Beitrag der Schweiz zur Erreichung der Pariser Klimaziele zu sichern. Die Klimawissenschaft weist seit geraumer Zeit wiederkehrend darauf hin.

Die klimarechtliche und -politische Bilanz der Schweiz fällt also insgesamt enttäuschend aus.

Welche Konsequenzen hat nun das Urteil aus Strassburg?

Primär anerkennt der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) das Recht jedes Einzelnen auf einen wirksamen staatlichen Schutz vor schwer­wiegenden nachteiligen Auswirkungen, die sich aus den Folgen des Klimawandels ergeben – auf das Leben, die Gesundheit, das Wohl­ergehen und die Lebensqualität.

Sekundär stärkt das Urteil die Rechte von Vereinigungen und Verbänden, die sich für den Schutz von Menschen vor den negativen Folgen der Klima­erwärmung einsetzen. In ganz Europa sind die nationalen Umwelt­behörden und Gerichte neu verpflichtet, solche Anliegen ernst zu nehmen und genau zu prüfen. Das ist einer der zentralsten Aspekte dieses Urteils, das mit 16 zu 1 Stimme von den Richterinnen und Richtern in Strassburg gefällt wurde.

Die Klimaseniorinnen können stolz darauf sein, mit ihrer Klage ein solches Urteil erwirkt zu haben. Die Schweiz wiederum erhält eine einzigartige Gelegenheit, ihren Klimaschutz auf (Menschen­rechts-)Kurs zu bringen.

Der Gerichtshof betont dabei, es sei nicht seine Sache, der Schweiz im Detail vorzuschlagen, was sie genau für den Klima­schutz zu unternehmen hat.

Damit berücksichtigt er ein wichtiges Prinzip: die Gewalten­teilung zwischen einem Gericht auf internationaler Ebene und dem politischen Meinungs­bildungs- und Umsetzungs­prozess auf der nationalen, kantonalen und kommunalen Ebene. Jetzt sind der Bundesrat und das Parlament gefordert, dass gemeinsam mit dem Volk souverän über die nächsten Handlungs­schritte der Schweiz entschieden wird.

Mit seinem Urteil wurde der EGMR nicht als «fremdes Gericht» tätig. Die Schweiz hat sich vor exakt 50 Jahren mit der Ratifikation der Europäischen Menschenrechts­konvention (EMRK) freiwillig zu dessen Gerichts­barkeit bekannt.

Die Schweiz ist auch Teil des Gerichtshofs: Der schweizerische Richter hat am Entscheid mitgewirkt und ihn mitgetragen. Nun wurde jedoch vereinzelt gefordert, die Schweiz solle die EMRK kündigen. Das wäre ein Signal mit verheerenden Folgen: Anders als die weiteren 45 Staaten, die sich klar zum Menschen­rechts­schutz, zur Demokratie und zur Rechts­staatlichkeit bekennen, würden wir uns zusammen mit Russland, Belarus und dem Vatikan­staat von diesen Werten abkehren.

Mit einem Austritt würde sich die Schweiz isolieren und ihre internationale Vernetzung gefährden, die für einen Kleinstaat von besonderem Interesse ist. Unter anderem deshalb hat sich die Schweiz bisher an die Urteile aus Strassburg gehalten.

Sie sollte das auch jetzt tun, zumal ein verstärkter Klima­schutz und eine zugängliche Justiz uns allen, inklusive der jungen und zukünftigen Generationen, zugute­kommen werden.

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