Granatwaffen und graue Jupes
Was motiviert junge Frauen, in die Armee zu gehen? Sollten sie Dienst leisten müssen? Ist das feministisch? Ein Besuch am Orientierungstag des Militärs für Frauen.
Von Priscilla Imboden (Text) und Silas Zindel (Bilder), 25.03.2024
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Melanie Baur nimmt die Waffe, ein dickes schwarzes Rohr, stützt sie auf ihre Schulter und zielt lachend in die Ecke des Raumes. Das dicke schwarze Rohr ist eine sogenannte rückstossfreie Granatwaffe, die dazu dient, auf grössere Ziele wie Panzer zu schiessen. Baur ist achtzehnjährig, trägt einen blauen Kapuzenpulli mit einem hellblauen Züritram aufgedruckt – und interessiert sich für den Militärdienst.
Sie ist eine von dreiunddreissig jungen Frauen, die an diesem trüben Frühlingstag an den Waffenplatz Zürich-Reppischtal nach Birmensdorf gereist sind, an den Orientierungstag für Frauen in der Armee.
Sie heissen Mayla, Jessica, Vitoria oder Julie und sind Zimmerin, Automobilfachfrau oder Gesundheitsassistentin in Ausbildung. In ihrer Freizeit spielen sie Handball, Fussball oder Eishockey, sie tanzen oder lesen. Fast alle tragen Jeans und Kapuzenpullis und haben die meist langen Haare zu einem Rossschwanz oder einem Knoten gebunden.
«Willkommen zu Deinem Orientierungstag» steht an die Wand projiziert in einem Schulzimmer des Militärgebäudes, wo die jungen Frauen in die Armee eingeführt werden. Neben dem Satz prangt ein schwarzes Schweizerkreuz mit dem Spruch: «Schweizer Armee verteidigt unsere Werte.» Und ein rosaroter Stern mit der Aufschrift: «Von Frau zu Frau.»
Wenn Frauen Militärdienst absolvieren, stürmen sie eine der letzten männlichen Bastionen und beweisen, dass sie gleich viel leisten können wie Männer. Man könnte aber auch sagen: Sie unterwerfen sich einer autoritären patriarchalen Struktur, in der Regel ohne Anspruch, diese zu verändern. Die Herausforderung ist es, sich anzupassen.
Das wird am Orientierungstag deutlich. Die Moderatorin, Hauptmann Sabrina Hauri – für die Ränge verwendet die Armee stets die männliche Form –, steht im Tarnanzug vor der Gruppe und berichtet vom strengen Alltag der Rekrutenschule: Tagwacht um halb sechs, Antrittsverlesen, Ausbildung – ein Programm, das bis halb elf abends dauern kann. «Das seid ihr euch nicht gewohnt, es zehrt am Körper», sagt Sabrina Hauri.
Viel Sport gehöre dazu, Märsche mit schwerem Pack, fünfzig Kilometer weit am Ende der Rekrutenschule, hundert Kilometer für jene wie sie, die die Offiziersschule absolvierten. «Das war streng, hat wehgetan, war aber sehr lässig, kann ich im Nachhinein sagen.»
Mit regungsloser Miene lauschen die jungen Frauen ihren Ausführungen.
Die Gründe, die sie nach Birmensdorf gelockt haben: «Meine Grenzen testen», «die Kameradschaft erleben», «Erfahrungen für das Berufsleben sammeln», «eine Herausforderung meistern». Einige der Teilnehmerinnen sind schon länger vom Militär fasziniert und können nicht wirklich sagen, wieso. Oder Hollywood hat sie inspiriert: «Es sieht cool aus in den Filmen.»
Ihre Motivation ist vor allem persönlicher Art. Der Krieg in der Ukraine und die veränderte Sicherheitslage in Europa sind kein Thema am Orientierungstag für Frauen in der Armee.
Es geht mehr um Praktisches. Hauptmann Hauri erzählt vom Sporttest, der aus Rumpfkrafttest, Pendellauf, Standsprung, Medizinballstoss und Einbeinstand besteht. In jeder Disziplin gibt es Punkte, und die entscheiden, ob jemand diensttauglich ist oder nicht und welche Funktion er oder sie ausführen kann. In der Präsentation steht rot umrandet: «Wenn Du genügend Sportpunkte für eine Kampffunktion gemacht hast, aber nur fünfzig bis sechzig Kilo wiegst, wirst Du nicht in eine Kampffunktion eingeteilt!» Dann die Worte: «Kein Vorteil als Frau.»
Vitoria Schelbert macht das zu schaffen. Sie ist eine kleine Frau mit schwarzem Rossschwanz und Brille und würde am liebsten in einer Kampftruppe Dienst leisten. Sie hat an der Berufsmesse an einem Stand der Armee vom Militärdienst für Frauen gehört. «Mit der Verteidigung lernt man, sich auch selbst zu verteidigen, das kann die Selbstsicherheit stärken», sagt sie. «Die Fähigkeit, Menschen zu schützen, gefällt mir.»
Auch wenn das im Ernstfall bedeutet, Menschen zu töten? Die junge Frau senkt den Blick, nimmt einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und schaut auf: «Ja, das gibt mir zu denken. Man schiesst nicht ohne Grund, deshalb würde ich es eventuell als okay empfinden. Aber ich weiss es nicht.»
Ob Frauen Militärdienst leisten sollen oder nicht, an dieser Frage scheiden sich die Geister seit Jahren unter Feministinnen. Elizabeth Mesok, die an der Universität Basel zu Militarismus, Sicherheit und Gender forscht, erklärt: «Liberale Feministinnen sagen, dass Frauen Zugang erhalten müssen zu allen Funktionen in der Armee, um die Gleichstellung zu erreichen.» Es gebe aber auch den pazifistischen Ansatz: «Diese Feministinnen sagen, es könne nicht das Ziel sein, ein militaristisches System zu unterstützen, das viel Leid sät auf der Welt. Die Gleichstellung der Frau wie auch die feministische Politik an den Militärdienst zu knüpfen, ist für die Förderung des Friedens äusserst gefährlich.»
Verteidigungsministerin Viola Amherd gehört zur ersten Sorte. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, dass mehr Frauen Militärdienst leisten, konkret sollen sie eines Tages 10 Prozent der Armeeangehörigen stellen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Zwar stieg die Zahl der Frauen in den letzten vier Jahren rapide an, trotzdem sind aktuell von allen Angehörigen der Armee nur 1,4 Prozent weiblich. Die jungen Frauen am Orientierungstag in Birmensdorf sind Teil einer sehr kleinen Minderheit.
Sie sollen aber die Norm werden, denn Viola Amherd möchte den Orientierungstag zum Militärdienst für alle Frauen obligatorisch machen. Dafür wäre eine Verfassungsänderung nötig, der Bundesrat soll bis Ende Jahr darüber befinden. Die Idee stammt von der einzigen Parlamentarierin, die Militärdienst geleistet hat: Stefanie Heimgartner. Die Armee biete für viele Frauen Möglichkeiten und die Chance, in eine Materie einzutauchen, welche sie im Zivilen so nicht so schnell haben, sagt die SVP-Nationalrätin.
Für sie als Transportunternehmerin sei es wie eine zweite Lehre gewesen: Sie habe die Lastwagenprüfung gemacht und Führungserfahrung erhalten. Frauen in der Armee führen oftmals automatisch auch zu einer besseren Allgemeinleistung: «Wenn eine Frau in der Gruppe ist, geben sich die Männer mehr Mühe, weil es den Konkurrenzgeist stärkt.» Heimgartner möchte kein Obligatorium für Frauen beim Militärdienst: «Es sollen sich die Frauen fürs Militär melden, welche sich das konstitutionell zutrauen und bei denen es in die Lebensplanung passt.»
Eine allgemeine Wehrpflicht steht aber aktuell zur Debatte. Die Landesregierung prüft derzeit zwei neue Dienstmodelle, die grundlegende Änderungen der heutigen Militärdienstpflicht zur Folge hätten. Bei einem, dem sogenannten Sicherheitsdienstmodell, würden Zivildienst und Zivilschutz zusammengelegt, nur die Männer blieben dienstpflichtig. Anders wäre dies beim zweiten Modell, der «bedarfsorientierten Dienstpflicht», auch als norwegisches Modell bekannt. Hier wären auch Frauen stellungspflichtig, wobei die Armee aber nur so viele Personen rekrutieren würde, wie sie bräuchte, um den Bestand von maximal 140’000 Armeeangehörigen zu erreichen. Das hätte zur Folge, dass nur etwa jede zweite dienstpflichtige Person zum Militär- oder Zivildienst antreten müsste, alle anderen würden eine Abgabe bezahlen.
Die neuen Dienstmodelle bieten im Bundeshaus in Bern Stoff für Diskussionen, über Rechte und Pflichten in der Gesellschaft, über Gleichberechtigung, über die Aufgaben von Frauen und Männern. Priska Seiler Graf, SP-Nationalrätin und Präsidentin der Sicherheitskommission, findet es sinnvoll, dass Frauen in die Armee gehen: «Gemischte Teams sind bessere Teams. Wieso sollte das nicht fürs Militär gelten?» Das norwegische Dienstmodell sei «spannend», sagt sie, hält aber fest, dass Frauen erst dann militärdienstpflichtig werden sollen, wenn die Gleichstellung erreicht ist, was heute nicht der Fall sei.
Seiler Graf ist in Armeefragen oft gleicher Meinung wie Marionna Schlatter, ihre Kollegin in der nationalrätlichen Sicherheitskommission. Aber nicht, wenn es um diese Frage geht. Die grüne Politikerin ist pazifistisch gesinnt. Sie sagt: «Soldat sein ist nicht ein Beruf wie jeder andere. Frau muss nicht töten lernen, um gleichberechtigt zu sein. Das kann nicht das Ziel sein, denn die Kriegsmaschinerie schafft keine bessere Welt.» Und dann tönt sie schon fast konservativ, wenn sie sagt, Frauen seien intrinsisch friedlicher gesinnt als Männer. Das zeige sich daran, dass sie in Abstimmungen regelmässig armeekritisch stimmten, mehrheitlich Nein sagten zu Kampfjets und Ja zu mehr Waffenregulierung.
Am Orientierungstag für Frauen in der Armee ist davon wenig zu spüren. Im Waffenraum testen die jungen Frauen ungeladene Sturmgewehre, Granatwerfer und Pistolen: «So geil!» ist der häufigste Kommentar. Melanie Baur legt eine schusssichere Weste an, schultert ein Sturmgewehr und posiert für ein Foto. Derweil zieht Vitoria Schelbert einen schweren Armeerucksack an, durchquert den Raum im Laufschritt, geht in die Knie und vollführt zwei Liegestützen. «Ich kanns!»
Neben den verschiedenen Dienstmodellen, die der Bundesrat prüft, gibt es noch eine weitere Idee. Die Service-Citoyen-Initiative wurde letzten Herbst eingereicht und sieht einen obligatorischen Bürger- und Bürgerinnendienst vor, entweder im Militär, im Naturschutz oder im sozialen Bereich. Der Sicherheitsbegriff müsse viel breiter verstanden werden, sagt Noémie Roten, Präsidentin des Initiativkomitees: Umwelt, Gesundheit und Migration gehörten dazu. Der Dienst soll den Gemeinschaftssinn und den Zusammenhalt im Land stärken.
Aus feministischer Sicht wäre er ebenfalls begrüssenswert, sagt Roten: «Die Initiative will mit Stereotypen aufräumen – Männer können genauso gut im Care-Bereich dienen wie Frauen in der Armee. Und zivilgesellschaftliches Engagement, das Frauen schon heute oft unbemerkt leisten, wird durch den Gemeinschaftsdienst sichtbar gemacht und aufgewertet.» Zudem knüpfe er an die historischen Ansprüche des Feminismus in der Schweiz an: Für frühe Feministinnen wie Meta von Salis und Emilie Kempin-Spyri waren gleiche Rechte und Pflichten von zentraler Bedeutung.
Als sich der Orientierungstag dem Ende zuneigt, hat Vitoria Schelbert noch eine Frage. Sie habe von einem Freund gehört, dass Frauen in der Armee manchmal respektlos behandelt würden, und dass es auch Übergriffe gebe. «Ist das wahr und kann man sich dagegen wehren?» Hauptmann Hauri weicht aus. Natürlich könne man sich wehren, sagt sie. Aber man dürfe sich grundsätzlich nicht beeindrucken lassen: «Vergesst nicht: Ihr seid nicht da, um irgendjemandem etwas zu beweisen ausser euch selbst.» Schelbert ist nur halb zufrieden mit der Antwort. Man sollte schlechtes Verhalten nicht einfach hinnehmen, findet sie.
Hauptmann Sabrina Hauri zeigt den jungen Frauen noch, wie ein Rekrutenschlafsaal aussieht. Zwei Pritschen stehen da, ein Kleiderschrank, Rucksäcke sind am Ende der Metallbetten aufgehängt. Sie führt die Kleidungsstücke vor, die die Rekruten erhalten: ein Tarnanzug, ein grauer Militäranzug für den Ausgang mit Abzeichen auf der Schulter und dem Revers, Béret, Krawatte und Stiefel. Für die Frauen: ein knielanger, gerade geschnittener, grauer Jupe und eine schwarze Handtasche. Die jungen Frauen kichern, schütteln die Köpfe und tuscheln miteinander. Für so etwas will keine von ihnen in die Armee.
Die «Kampfstiefel 19 leicht», von denen es beim Einrücken zwei Paar gibt, nehmen sie dagegen regungslos zur Kenntnis.