Serie «Die Welt­revolution» – Teil 3

Steuern, Demokratie und Faschismus

Wie Steuerpolitik die Mittelklasse erschuf. Wie Spargelder die Weltherrschaft erlangten. Und warum der Turbokapitalismus bald Geschichte sein könnte. Serie «Die Weltrevolution», Teil 3.

Von Constantin Seibt (Text) und Erli Grünzweil (Bild), 21.08.2021

Ist der globale Steuer­wettbewerb bald zu Ende? Gut möglich.

Zwei Wirtschafts­kriege hat die Schweiz gegen die USA geführt. Zweimal hat sie auf denkbar peinliche Weise verloren. Es war eine ziemlich schlechte Idee, ausgerechnet beim Welt­polizisten einzubrechen.

Ohne die USA läuft beinahe nichts. Das zeigt sich jetzt wieder bei der globalen Mindest­steuer. Sicher, der Schweizer Finanz­minister Ueli Maurer hat recht, dass so eine Mindest­steuer schon seit einiger Zeit besprochen wurde, sogar in einer eidgenössischen Arbeitsgruppe.

Aber richtig ernst nahm das niemand. Die meisten Beobachter gingen davon aus, dass die Mindest­steuer die Idee zur Covid-Krise bleiben würde. So, wie jede Krise eine hatte:

  • Nach dem New Economy Crash forderten die Antiglobalisierungs-Demonstrantinnen, aber etwa auch der französische Präsident die Tobin-Steuer auf Finanztransaktionen.

Beide Ideen wurden intensiv diskutiert – und von einer Menge Ökonominnen für tauglich befunden. Trotzdem kamen sie nie auch nur in die Nähe der Umsetzung. Stattdessen erstellte jeder einzelne Staat labyrinthhafte Regel­werke, die versuchten, jedes Problem einzeln zu lösen. (Der Dodd-Frank Act zur Regulierung der US-Banken enthielt 541 Gesetzes­artikel auf 849 Seiten. Das Regel­werk der internationalen Banken­aufsicht in Basel verdoppelte sich nach der Finanz­krise fast auf 5440 Seiten, verteilt auf 167 Dokumente.)

Der politische Wille der US-Regierung ist der einzige Grund, dass die globale Mindest­steuer nicht das Schicksal ihrer Vorgänger­ideen teilt. Und von einer realistischen Möglichkeit zu einer möglichen Realität wurde.

Serie «Die Welt­revolution»

Multinationale Konzerne haben über die Jahre Billionen von Franken an Steuern vermieden. Jetzt wollen über 130 Staaten das System fundamental umkrempeln. Hat der Plan für eine globale Mindest­steuer eine Chance? Würde die Welt damit gerechter? Und was würde dann aus dem Steuer­paradies Schweiz? Zur Übersicht.

Die USA machten sich also daran, die globale Mindest­steuer Realität werden zu lassen. Das taten sie mit der typischen Mischung aus idealistischem Schwung und skrupellosem Eigen­interesse. Denn die USA brauchen Geld, um die billionen­schweren geplanten Infrastruktur­pakete zu finanzieren. Das Herzstück dafür ist der Plan, die Unternehmens­steuer auf mindestens 25 Prozent hochzusetzen.

Nur bleibt das Illusion, wenn es so läuft wie im Jahr zuvor. Und 60 Prozent aller Konzern­gewinne ins Ausland verschoben werden. Sodass 55 der grössten börsen­gehandelten US-Konzerne im vergangenen Jahr null Dollar an Steuern zahlten.

Was heisst: Biden muss wohl oder übel als erster amerikanischer Präsident seit Jahrzehnten ernsthaft den Kampf gegen die Steuer­vermeidungs­industrie aufnehmen.

Wobei aber auch ein kräftiger Schuss Protektionismus in Bidens Politik mit drin ist. Denn die mit der Mindest­steuer verbundene Verteil­klausel für super­profitable Multis schützt die Big-Tech-Konzerne vor einer für sie gefährlichen Entwicklung: Frankreich, Grossbritannien, Italien, die EU und andere verärgerte Länder installierten oder planen Digital­steuern für die Tech-Giganten.

Die US-Regierung beharrt darauf, dass sämtliche Digitalsteuern durch die neue globale Steuer restlos ersetzt würden. Falls nicht, drohte Präsident Biden bereits mit einem Wirtschaftskrieg.

Kein Wunder, begrüssten Facebook, Google und Amazon die globale Mindest­steuer: Auch wenn sie sie wahrscheinlich jedes Jahr ein paar Milliarden mehr an Steuern kosten wird. Denn sie erhalten dafür etwas Wertvolles: globale Rechtssicherheit.

Kurz: Wirklich Angst müssen die Konzerne nicht haben. (Zumindest noch lange nicht.)

Die Erfindung der Mittelklasse

Steuerfragen sind wie kein anderes Gebiet in der Politik die Angelegenheit der Elite: Nur diese hat das Know-how, die finanziellen Mittel und das finanzielle Motiv, um sich damit zu befassen.

Deshalb ist das Steuer­system der ideale Kompass, um zu zeigen, wo die Macht sitzt. Und der ideale Hebel, um diese Macht zu brechen.

In den 1930er-Jahren, in der grossen Depression, zerschlug der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt die grossen Kartelle, regulierte die Löhne und setzte den Spitzen­steuersatz auf bis zu 75 Prozent. (Roosevelt wollte ab einer gewissen Einkommens­höhe sogar 100 Prozent – aber der Kongress war freundlicher.)

Das Resultat war, dass die grossen Vermögen zerfielen – und mit ihnen die 40-Zimmer-Villen ihrer Besitzerinnen. Sie wurden zu Museen, Kinder­heimen, Schulen. Das teils, weil das dazu nötige Personal nicht mehr finanzierbar war – aber vor allem: weil eine palastartige Villa niemanden mehr beeindruckte.

Denn Roosevelt gelang etwas Erstaunliches. Die Arbeits­beschaffungs­programme des New Deals, der hohe Spitzen­steuersatz, die Kriegs­wirtschaft liefen nur wenige Jahre – aber sie genügten, dass sich die allgemeine Moral verschob: Es wurde selbst­verständlich, alle Amerikaner gleich zu sehen. (Ausser die schwarzen.)

Roosevelts politisches Erbe war eine komplett neue Herrschafts­schicht: die westliche Mittelklasse.

Sie regierte vierzig Jahre. Es war die Zeit des grössten Wirtschafts­booms der Menschheit. Und des grössten Massen­aufstiegs: Manche Facharbeiter verdienten wie Managerinnen, die Löhne stiegen regelmässig, und ganze Generationen gingen als erste Mitglieder ihrer Familie an die Universität oder bauten als Erste ein Haus.

Selbst Chefs hielten sich an den Kodex der Gleichheit. In der Schweiz lebte etwa Dieter Bührle, Erbe eines Industrie­imperiums, in einer Reihenhaus­hälfte in Zollikon und fuhr jeden Morgen mit einem verbeulten VW in die Fabrik. Zwar hatte er laut Gerüchten in Südfrankreich drei Villen, drei Jachten, drei Freundinnen. Aber nur dort.

Wie die Macht strukturiert war, sah man am Steuer­system: Es war progressiv gestaffelt (wer mehr verdiente, zahlte auch mehr an Prozenten), ziemlich hoch bei grossen Erbschaften und Börsen-, aber auch Unternehmens­gewinnen: Letztere Steuern lagen über 50 Prozent.

Das allerdings ist längst so fern wie die Französische Revolution. Heute sind die Milliardärinnen zurück. Ihre 40-Zimmer-Paläste. Wirklich neu ist nur, dass die Reichsten unter ihnen privat Weltraum­raketen bauen.

Niemand zahlt heute anteils­mässig weniger Steuern als die Super­reichen. In einem Essay kritisierte der Multimilliardär Warren Buffett, dass er prozentual weit weniger Steuern zahle als seine Sekretärin. Und verlangte für sich höhere Steuern.

Davor bemerkte er trocken: «Es herrscht Klassen­kampf, richtig. Aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die den Kampf führt – und wir gewinnen.»

Durch eine Indiskretion erhielten die Rechercheure von «Pro Publica» die Steuer­erklärungen von 25 amerikanischen Milliardären. Diese wurden zwischen 2014 und 2018 addiert 401 Milliarden Dollar reicher. Und zahlten dafür 13,6 Milliarden Dollar Steuern. Das klingt nach viel – entspricht aber einer realen Steuer­rate von 3,4 Prozent.

Während die amerikanischen Durchschnitts­bürgerinnen in der gleichen Periode 65’000 Dollar reicher wurden (haupt­sächlich durch die Wert­steigerung des eigenen Hauses). Wovon allerdings 62’000 Dollar wieder durch die Steuern gefressen wurden.

Der Milliardär, der laut «Pro Publica» mit 0,1 Prozent (!) am wenigsten Steuern gezahlt hatte, hiess übrigens Warren Buffett.

Kurz: Amerika ist das Gegen-Amerika zu Roosevelts Zeiten. Der Satz, den die reichsten 400 Familien der USA effektiv an Steuern bezahlten, lag im Jahr 2019 tiefer als jener der ärmeren Hälfte aller amerikanischen Haushalte.

Das Gespenst des Erfolgs

Die ökonomische Macht hat also die Seite gewechselt.

Grob zusammen­gefasst kann man sagen: Bis etwa Mitte der 1980er-Jahre gingen die Produktivitäts­gewinne der Unternehmen an deren Angestellte. Und seither an die Kapital­geber: die Aktionärinnen.

(Was dazu führt, dass Ihre Eltern noch durch Arbeit ein Haus bauen konnten. Und Sie fast nur noch mittels Erben, Börsen­spekulation, Firmen­gründung oder Heirat.)

Warum passierte das? Erneut grob zusammen­gefasst wegen zwei System­wechseln.

  1. In der Politik: Nach dem Fall der Berliner Mauer musste niemand mehr vor dem Sozialismus Angst haben. Und das Kapital fand plötzlich weltweit offene Grenzen. Was die nationale Souveränität schwächte. Sodass auch linke und konservative Politiker schon deshalb radikal auf Laisser-faire umschwenkten, weil sie keine Hebel mehr für eine andere Politik fanden.

  2. Ökonomisch: In den 1980er-Jahren waren die fett und mächtig gewordenen Banken und Pensions­kassen unzufrieden mit der Rendite der ebenfalls fett gewordenen grossen Unternehmen. Und beschlossen, diesen Feuer zu geben: mit der Finanzierung von Raidern, die Firmen kaperten, zerlegten, ausdünnten, fokussierten, störende Teile abstiessen und die stillen Reserven zu Geld machten. Oder durch die Wahl von Star-Managerinnen, die die Unternehmen zerlegten, ausdünnten, fokussierten, störende Teile abstiessen und die stillen Reserven zu Geld machten.

Der Witz an der Sache war, dass die auf Ausgleich bedachte Version von Demokratie und Kapitalismus der Nachkriegs­zeit so erfolgreich war, dass der eigene Erfolg die Macht übernahm: die Spargelder des Wirtschaftsbooms.

Würde man sich heute auf ein Herrschafts­modell festlegen müssen, wären es diese Trillionen Dollar an angehäuften Vorsorgevermögen.

Diese sind, wie alles Geld, immer in Bewegung. Ihre Treiber sind Gier und Angst: Sie suchen ein Maximum an Rendite und ein Maximum an Sicherheit. Kein Wunder, leben wir in einer Zeit der periodischen, immer heftiger werdenden Finanz­krisen: Die asiatischen Tiger­staaten, Russland, Brasilien, dann die New Economy und schliesslich der amerikanische Häusermarkt galten nacheinander als der Ort, wo angeblich riesige Profite bei voller Sicherheit zu machen waren. Und wurden von einem Tsunami aus Geld überschwemmt.

Bis irgendjemand nervös wurde und sich das Kapital fluchtartig zurückzog – und Verwüstungen hinterliess wie jeder Tsunami.

Zur Weltherrschaft der anonymen Anlage­gelder gehörte auch, dass sie – wie jede Herrschaft – die sozialen Hierarchien festlegten.

So ist es ebenfalls kein Wunder, dass die Leute, die von der Politik geschont, hofiert, beschenkt werden, die Leute sind, die Kapital geerbt oder gemacht haben. Und die einfachste Möglichkeit zum Aufstieg besteht darin, an der Infrastruktur des Kapitals zu arbeiten: als Bankerin, Firmenchef oder Finanzinformatikerin.

Und auch kein Wunder ist, dass Langfristigkeit kein Kriterium mehr ist, sondern der Quartals­gewinn, und dass nicht die Erzeugung von Produkten im Zentrum grosser Unternehmen steht, sondern die Erzeugung von Rendite: etwa durch Fitness­kuren, Aktien­rückkäufe oder Steueroptimierung.

Selbst Superreiche wirken in ihren Handlungen seltsam unfrei. Der drittreichste Mann des Planeten, Warren Buffett, kann noch so leidenschaftliche Essays für Steuer­erhöhungen schreiben: Sein realer Steuersatz liegt beinah bei null.

Was weniger Buffetts Fehler ist. Sondern schlicht in der Natur der Sache liegt: Wie beinah der Rest der Welt sind Milliardäre nicht die Herren, sondern die Getriebenen ihres Vermögens.

Der grösste Steuerbetrug der Schweiz

Und wie steht es mit den Vorgängern? Wie viel Macht haben Institutionen wie Parlament, Justiz, öffentliche Meinung gegen das Kapital?

Das zeigt die Geschichte des vielleicht grössten, aber sicher teuersten Skandals der Schweiz: der Unternehmens­steuer­reform II. Im Abstimmungs­kampf sagte der zuständige Bundesrat Hans-Rudolf Merz: «Es ist Zeit, etwas für die kleinen Unternehmen zu tun – für all die Maler, Apotheker, Garagisten, Floristen, Metzger und, und, und.» Und versprach überschaubare Ausfälle: 84 Millionen Franken für den Bund sowie 850 Millionen für die Kantone.

Die Abstimmung im Februar 2008 wurde trotzdem knapp: 50,5 Prozent Ja gegen 49,5 Prozent Nein. Das wichtigste Argument der Befürworterinnen war, dass diesmal etwas für die kleinen Leute getan würde. Und dass Bundesrat Merz beteuerte: «Keine Steuer­geschenke für Grossaktionäre.»

Doch genau darum ging es. Im Kleingedruckten der Reform fand sich eine Klausel, die nur die Steuer­anwältinnen verstanden, aber kein Politiker. Sie erlaubte Konzernen, ihren Aktionärinnen Dividenden steuerfrei auszuschütten, solange sie sie aus den Kapital­reserven bezahlen würden.

Als die Reform in Kraft trat, hatten die Grosskonzerne bereits Hunderte Milliarden an Kapital­reserven angemeldet. Und es wurde klar: Die Steuer­ausfälle würden gigantisch werden.

Nur wie gigantisch, das war noch unklar. Der Bundesrat schätzte sie vorsichtig auf 1,2 Milliarden Franken im ersten Jahr, dann von 400 bis 600 Millionen in jedem Jahr darauf.

Was hiess, dass die kleinen Leute das schlechteste Geschäft ihres Lebens gemacht hatten: Sie bekamen ein paar Millionen, die Grossaktionäre ein paar Milliarden. Und das jedes Jahr.

In einer notfall­mässigen Debatte im Frühling 2008 lehnte es die bürgerliche Mehrheit strikt ab, an dem Gesetz auch nur ein Komma zu ändern.

Danach klagte die SP vor Bundesgericht. Das Bundes­gericht kritisierte im Dezember den Bundesrat so hart wie noch nie: Die Regierung habe die Stimm­bevölkerung «hinters Licht geführt». Von einer Wiederholung der Abstimmung sah das Gericht trotzdem ab – aus Gründen der «Rechtssicherheit».

Nur eine Woche zuvor hatte das Parlament erneut zur Unternehmens­steuer­reform II debattiert. Und lehnte erneut jede Korrektur ab. Ebenso wie jede neutrale Untersuchung zu den möglichen Ausfällen.

Dafür meldete sich Bundesrat Merz wieder. Die Vorwürfe gegen ihn seien «abscheulich».

Dann passierte nichts, ausser dass in jedem Jahr Milliarden steuerfrei an Aktionäre ausgeschüttet wurden. Erst in der «Steuer­vorlage 17» kam eine Bestimmung, dass das Verhältnis zwischen klassischer Dividende und steuer­freien Reserve­ausschüttung mindestens 50:50 betragen müsse.

Die neue Regel trat Anfang 2020 in Kraft.

Im Jahr 2018 zahlten die Unternehmen die spektakuläre Summe von 308 Milliarden Franken an ihre Eigentümer zurück. Als reguläre Dividenden versteuert, so die Rechnung der NZZ, hätte das zwischen 5 und 10 Milliarden Franken in die Kasse gebracht.

Insgesamt wurden in den neun Jahren nach Inkraft­treten der Reform für Malerinnen, Apotheker, Garagistinnen, Floristen und Metzgerinnen 1,376 Billionen Franken in die Reserven der Schweizer Unternehmen gesteckt – bereit für steuer­freie Ausschüttung.

Wie viel Steuern dadurch den Gross­aktionären erspart wurden, weiss niemand.

Demokratie? Nicht hier, bitte.

Die Geschichte der Unternehmens­steuer­reform II ist extrem, aber typisch dafür, wie moderne Steuer­gesetz­gebung läuft.

Denn hier herrschen meist nicht demokratische, sondern prä- oder post­demokratische Verhältnisse. Zum Beispiel:

1. Kabinettspolitik: Bis heute ist ungeklärt, wer zum Teufel die Kapital­reserve­klausel in die Unternehmens­steuer­reform II schmuggelte. Und wer damals wusste, was für eine Bombe das war. FDP-Bundesrat Merz stritt ab, davon gewusst zu haben. Es wurde nie bekannt, wer den Passus verfasste.

Wahrscheinlich waren es eher Steuer­berater als Beamtinnen. Bei der – an der Urne gescheiterten – Unternehmens­steuer­reform III arbeiteten die Steuerprofis von Deloitte, PWC, KPMG und Ernst & Young mit – und gestalteten etwa eine «zins­bereinigte Gewinn­steuer». (Bei der die Firmen fiktive Zinsen vom Gewinn hätten abziehen können.)

Diese Personal­union ist nicht unüblich: In einer Menge Länder entwerfen wegen der Komplexität der Materie die Steuer­beratungs­firmen die Steuer­gesetze, die sie später zu umgehen versuchen.

Klar ist nur, dass im Fall der Unternehmens­steuer­reform II der Arbeit­geber­verband Economie­suisse von dem Schlupf­loch gewusst haben musste: Weil er beim Bundesrat erfolgreich intervenierte, die Reserven zehn Jahre zurück anzurechnen.

2. Keine Kontrolle. Kein Wunder, bleibt bis heute im Dunkeln, wie viel die Unternehmens­steuer­reform II wirklich kostete. Das Parlament lehnte sowohl bei der Vorberatung wie auch danach mehrmals ab, irgend­welche Expertinnen oder Studien zur Reform zu konsultieren.

Das gilt auch für alle anderen Steuer­massnahmen: Die einzige offizielle Zahl zu möglichen Kosten ist die Schätzung des Finanz­departements vor dem Start. Was danach passiert, interessiert niemanden mehr.

Die einzige Untersuchung der oft beschworenen Schweizer Steuer­ehrlichkeit datiert aus dem Jahr 1962. Das Ergebnis waren laut den Berechnungen der Steuer­verwaltung mindestens 233 bis 296 Millionen Franken hinterzogene Steuern – schockierende 11 Prozent der Gesamt­einnahmen. Die Bankier­vereinigung protestierte. Der Bundesrat tat es nie wieder.

3. Anti-Meritokratie. Dass die Steuer auf Dividenden quasi gestrichen wurde, ist kein Zufall. Gestrichen wird in der Schweiz fast nur bei Steuern auf Kapital: beispiels­weise bei den Erbschafts-, Stempel- oder Unternehmens­gewinnsteuern.

Die indirekten Steuern hingegen, bei denen alle Bürgerinnen gleich viel zahlen, werden salamischeiben­mässig erhöht: Mehrwert­steuer, AHV-Beiträge, CO2-Abgabe, Gebühren etc.

Wie in der Oligarchie wird belohnt, wer hat. Nicht, wer etwas tut.

4. Extrem lukrative Verbindungen. Wäre man Finanz­anwalt oder Lobbyistin, wäre die Unternehmens­steuer­reform II der perfekte Beweis, dass Honorare fast in jeder Höhe gerecht­fertigt sind. Eine einzige gut platzierte Klausel – oder ein einziger Bundes­rat, der früher Konzern­berater war – bringt Jahr für Jahr Milliarden Franken.

5. Kein Ende der Wünsche. Bei der Unternehmens­steuer­reform II genügten auch Milliarden­ausfälle nicht. 2017 schlug der SVP-Fraktions­chef, Firmen­berater und PWC-Mitarbeiter Thomas Aeschi in der Wirtschafts­kommission des National­rats eine komplexe Ergänzung des Aktien­rechts vor. Die Eidgenössische Steuer­verwaltung rechnete nach und stellte fest, dass Aeschis Antrag Bund und Kantone 2,3 Milliarden Franken kosten würde – erneut zugunsten der Gross­aktionärinnen. Sie empfahl eine Ablehnung.

In der Wirtschafts­kommission stimmte die bürgerliche Mehrheit trotzdem dafür. Kaum war abgestimmt, verfügte deren Präsident, SVP-National­rat Jean-Francois Rime, Geheim­haltung. Was zuvor so gut wie nie passiert war. (Worauf das Papier der Steuer­verwaltung der Presse gesteckt wurde.)

In der Tat sind Steuer­kürzungen für rechts­nationale Parteien eine erstaunlich obsessive Agenda. David A. Hopkins, ein amerikanischer Professor und Experte für die politische Polarisierung seines Landes, beschrieb das in der «New York Times» einmal so: «Big Business und reiche Individuen haben am meisten davon, wenn rechte Mehrheiten im Kongress die Steuern senken; Mehrheiten, die kultur­konservative Wähler repräsentieren. Die wahre Gewinnerin des Culture War ist Corporate America.»

6. Demokratie zählt – wenn Sie richtig gestimmt haben. Die super­knappe Abstimmung, der Tadel des Bundes­gerichts, die offensichtlich von niemandem erkannte wahre Natur der Vorlage – nichts davon bewegte die rechts­bürgerliche Parlaments­mehrheit, die Reform zumindest ein wenig zu korrigieren. Denn: Abgestimmt ist abgestimmt.

Das gilt allerdings nur für den Fall, dass man richtig gestimmt hat – aufseiten des Stärkeren. (In diesem Fall: der rechts­bürgerlichen Mehrheit.)

2012, im Fall des Staats­vertrags hingegen, sah es anders aus. Die UBS war in den USA wie eine kriminelle Organisation beim Schmuggel erwischt worden (etwa mit Diamanten in einer Zahnpasta­tube) – und die Amerikaner verlangten von der Bank die Auslieferung der Konto­verläufe sämtlicher US-Bürgerinnen. Mit der Drohung, dass die UBS sonst übel enden würde.

Der Nationalrat stimmte dazu Nein: mit 104 zu 76 Stimmen bei 16 Enthaltungen.

Doch das Ergebnis war falsch. Es entsprach nicht den Realitäten. Die Bankier­vereinigung zum Beispiel war entsetzt. Eine Woche später debattierte der Nationalrat die Sache erneut. Und stimmte zu – bei 81 Ja, 61 Nein, bei 53 Enthaltungen.

Gekippt war die SVP, die sich nun der Stimme enthielt. Und damit die Auslieferung von 4450 Kunden­daten an die US-Steuer­behörde möglich machte. Und damit das Ende des Bankgeheimnisses.

An der Urne läuft eine ähnliche Logik: Nach der Einigung in der OECD auf die BEPS-Regeln sah sich die Schweiz gezwungen, eines ihrer berühmtesten Steuer­schlupflöcher zu schliessen – das Holding­privileg – um nicht erneut auf die schwarze Liste zu kommen.

Der erste Anlauf mit der Unternehmens­steuer­reform III ging schief. Die Stimm­bürgerinnen hatten aus der Unternehmens­steuer­reform II gelernt und versenkten die Vorlage.

Nur konnte man das Holding­privileg-Loch nicht offen lassen – und schusterte in aller Eile eine neue Variante, die «Steuer­vorlage 17». Diese machte mehrere Konzessionen nach links – und versprach dazu als Bestechungs­geschenk 2 Milliarden Franken für die AHV. (Das Geschenk wurde angenommen.)

Die Reform trat 2020 in Kraft. Was nicht verhindern wird, dass sie bald Altpapier ist. Und wir im nächsten Jahr wieder souverän abstimmen werden müssen – diesmal über die globale Mindeststeuer.

Sie hier werden hoffentlich das Richtige stimmen.

Etwas Neues kommt

Steuern folgen keinen objektiven wirtschaftlichen Gesetzen. So, wie es keine Natur­gesetze der Wirtschaft gibt. Beides ist eine Machtfrage.

Exakt deshalb klagte eine der in Finanz­fragen sensibelsten Zeitungen, die NZZ, über die globale Mindest­steuer: «Es geht um eine System­änderung» und es müsse «beunruhigen, dass ‹Steuer­wettbewerb› schon fast zum Unwort geworden ist».

In der Tat ist die globale Mindest­steuer ein ziemlicher Coup. Erstens, weil es seit mehreren Jahrzehnten der erste prinzipielle Angriff auf den Steuer­wettbewerb war. Zweitens, weil der amerikanischen Regierung in wenigen Monaten etwas Ausser­gewöhnliches gelang: ein weltweites gemeinsames Handeln.

Das ist ein Zeichen dafür, dass sich etwas geändert hat. Nicht nur in den USA, sondern weltweit. Als Danielle Rolfes, die Unter­händlerin der Obama-Regierung in der OECD, eine Mindest­steuer vorschlug, wurde sie noch ausgelacht.

Wie sehr sich etwas geändert hat, weiss niemand. Allerdings ist gut möglich, dass der Steuer­wettbewerb am Ende ist. Zwar haben die Republikaner noch immer als politisches Projekt die Steuer­minimierung: Das einzige nennens­werte erfolg­reiche Gesetzes­projekt der Präsidentschaft Trump war ein riesiges Steuer­senkungs­paket – mit dem Herzstück der Schleifung der Unternehmens­steuer von 35 auf 21 Prozent. (Mit dem Argument, so die Gewinn­verschiebung ins Ausland zu stoppen – was aber nicht passierte.)

Klar ist, dass die Steuer­vermeidungs­industrie sich nicht geschlagen geben wird. Doch hält die Mindest­steuer tatsächlich dicht, gibt es für Steuer­paradiese nur drei – unangenehme – Möglichkeiten:

a) Subventionen für Ausländerinnen.

b) Streichung anderer Steuern für Ausländer. (In der Schweiz etwa die Umwelt­abgaben oder Lohn­nebenkosten.)

c) Privilegien für Ausländerinnen. (Beispiels­weise Eliteschulen.)

Doch all das beinhaltet politisches Dynamit. Weit mehr als das vergleichs­weise simple Steuer­dumping, mit dem ausländische Grosskonzerne sozusagen unsichtbar subventioniert wurden.

Was ebenfalls auffällt, ist, dass sich in der Covid-Pandemie der Ton geändert hat. Die Klassiker der Kapital­optimierung – schlanke Produktion, internationale Liefer­ketten, ins Ausland verlagerte Arbeitsplätze – haben extrem an Attraktivität verloren. Weil sich zeigte, wie verwundbar diese Systeme sind.

Statt Effizienz zählt Resilienz. Und kaum jemand stellt mehr infrage, dass es in der Krise starke staatliche Institutionen braucht. Und für diese solide Finanzen. Heute ist ein liberales Magazin wie der «Economist» klar für Covid-Hilfspakete, Konjunktur­programme und das Einschränken des Steuerwettbewerbs.

Allerdings kann auch sein, dass die andere Seite gewinnt: die Seite, die es an der Zeit findet, allen Ökonomen, Virologinnen, liberalen Magazinen eines über den Deckel zu ziehen.

Die Regierung Biden ist gleichzeitig kühn und verzweifelt. Kühn, weil sie die Erneuerung von Amerika gross angeht: mit je einem Covid-, einem Infrastruktur- und einem Familien­paket, die zusammen­gerechnet weit über 3 Billionen Dollar betragen – das grösste Konjunktur­paket seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Regierung ist verzweifelt, weil sie fast keine Zeit hat. Sie muss Amerika rasend schnell verändern. Schafft sie das nicht, verliert sie vielleicht nächstes Jahr die Zwischen­wahl, in drei Jahren die Präsidentschaft und kurz darauf die Demokratie.

Kurz: Die Krise, die als Motor hinter der Veränderung des globalen Steuer­systems steckt, ist nicht die Covid-Pandemie. Sondern der Kampf gegen eine zukünftige Diktatur.

Das macht Wirtschafts­nachrichten so seltsam unwirklich: Bei Steuern, Staats­ausgaben und Konjunktur­zahlen geht es nicht einfach um Steuern, Staats­ausgaben und Konjunktur­zahlen, sondern um alles.

Und wahrscheinlich ist damit auch der Turbo­kapitalismus Geschichte. Denn die zentrale Frage ist nicht mehr: Was will die Flut der Anlage­gelder? Sondern: Wer regiert in Zukunft – Big Government oder der Faschismus?

Kein Wunder, schlampt die US-Regierung in Afghanistan, aber geht ihre wirtschafts­politischen Projekte diszipliniert und mit hohem Tempo an: die Konjunktur­pakete wie das globale Steuersystem.

Dabei ist die globale Unternehmens­mindest­steuer keine entscheidende Einnahme­quelle, sondern vor allem ein Zeichen – der erste ernsthafte Versuch seit Jahrzehnten, die Macht­verhältnisse von Kapital und Politik zu kippen.

Überlebt die amerikanische Demokratie die nächsten Jahre, liesse sich die Sache ausbauen: Mit 21 oder 28 Prozent Mindest­steuer sähe die Welt sehr anders aus als heute. Dann wäre die globale Mindest­unternehmens­steuer tatsächlich eine kleine echte Weltrevolution.

Im Moment ist sie davon noch weit weg.

Aber sie hat das Potenzial für den Anfang von etwas Neuem.