«Wenn wir über unsere Endlichkeit sprechen können, nimmt uns das die Angst»

Selbst in Zeiten überdurchschnittlich hoher Sterblichkeit fällt es uns schwer, über den Tod zu sprechen. Elisabeth Müggler, Nonne und Sterbebegleiterin, sagt, wie wir es lernen können. Und wieso die Trauer um die Corona-Toten an Grenzen stösst.

Ein Interview von Bettina Hamilton-Irvine (Text) und Anne Morgenstern (Bilder), 03.02.2021

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr
«Es sterben im Moment nicht nur mehr Menschen. Es sterben auch zu viele Menschen allein.»

Fast 1400 Personen sind in den ersten vier Wochen des neuen Jahres in der Schweiz an Covid gestorben. Das ist, als würden jede Woche zwei voll besetzte Boeing 737 abstürzen und alle Passagiere ums Leben kommen.

Wir wissen das, und trotzdem schieben wir den Gedanken beiseite. An die vielen Toten haben wir uns irgendwie gewöhnt. Der Tod ist uns unangenehm, die meisten von uns sprechen nicht gern über ihn, würden lieber verdrängen, dass es ihn gibt. Als «das letzte Tabu» wird er auch gern bezeichnet.

Für Elisabeth Müggler ist der Tod kein Tabu. Im Leben der ausgebildeten Pflegefachfrau und Nonne hat er schon immer viel Raum eingenommen: Besonders heftig noch in jungen Jahren, als ihr 17-jähriger Bruder auf dem Weg in die Schule überfahren wurde. Später in ihrem beruflichen Leben: Sie bildete sich in Intensivpflege weiter, verbrachte Zeit in einem Hospiz in England, leitete eine Pflegeschule.

Als sie pensioniert wurde, gründete Elisabeth Müggler im Zürcher Limmattal den Verein Wabe, was für «Wachen und Begleiten» steht. Er stellt Freiwillige zur Verfügung, die schwer kranke und sterbende Menschen, die bis zuletzt zu Hause bleiben möchten, begleiten und ihre Angehörigen entlasten. Noch heute ist die 80-jährige Schwester Elisabeth nicht nur für Einsatzplanung und Abklärungen zuständig, sondern begleitet auch regelmässig Menschen in ihren letzten Stunden. Eine «wunderschöne Aufgabe» sei das, sagt sie.

Schwester Elisabeth, der Tod ist aufgrund der Pandemie gerade so präsent in unserem Leben wie kaum je zuvor. Trotzdem fällt es uns unheimlich schwer, darüber zu sprechen. Wieso?
Im Leben stehen, aktiv sein, die Möglichkeit haben, zu gestalten, Freude zu empfinden: Das ist in uns allen drin. Die allermeisten von uns leben gern, ich auch. Entsprechend fällt es uns schwer, daran zu denken, dass das Leben irgendwann aufhört. Das Abschiednehmen tut uns schon im ganzen Leben weh. Die wenigsten von uns können einfach so loslassen. Wir müssen es lernen, das ist ein Prozess.

Müssen wir auch das Sterben lernen?
Wir müssen auf jeden Fall lernen, darüber zu sprechen. Ich selber fange an, mit Menschen über den Tod zu sprechen, die 60 oder 70 sind und bei denen es noch kein Thema ist.

Wie machen Sie das?
Ich frage zum Beispiel: Was soll einst von Ihnen zurückbleiben? Und das meine ich nicht materiell. Welche Spuren möchten Sie hinterlassen? Woran sollen sich Ihre Enkel erinnern? Dann beginnen diese Menschen zu reden. Sagen: Sie haben recht, ich muss ja mal gehen. Ich werde mir überlegen, was mir wichtig ist. Man kann durchaus mit den Menschen über den Tod sprechen, aber man muss den richtigen Zugang finden. Wir können uns auch an der Natur ein Beispiel nehmen: Jede Blume verwelkt und wird wieder zu Samen für neue Blumen im Frühling. Das ist ein Symbol, auf das viele Menschen positiv reagieren. Sie realisieren dann, dass sie auch etwas hinterlassen möchten, wenn sie einmal gehen.

Was nützt es denn, wenn wir lernen, über den Tod zu sprechen?
Wenn wir über unsere eigene Endlichkeit sprechen können, macht uns das gelassener, nimmt uns die Angst. Mir hat ein 88-jähriger Mann zu Weih­nachten geschrieben: Meine Lebenslinie wird langsam mehr und mehr zur Ewigkeitslinie. Das ist doch etwas Wunderbares, wenn man das sagen kann.

Längst nicht alle können dem Thema so gelassen entgegenblicken. Was empfehlen Sie jemandem, für den der Tod mit viel Angst verbunden ist?
Es hilft, über die Angst zu sprechen. Sie zu benennen. Ich frage Menschen, die Angst vor dem Tod haben: Wovor hast du denn Angst? Was für eine Angst ist das? Wenn man die Angst benennt, kann man sich auch eher Gedanken darüber machen, wie man damit umgehen kann. Aber bis man an diesen Punkt kommt, braucht es viele Gespräche. Und in diesen Gesprächen müssen wir sehr hellhörig sein, auch zwischen den Zeilen heraushören, was uns das Gegenüber sagt. Es braucht viel Zeit und die Bereitschaft, sich richtig auf diese Person einzulassen.

Zur Person

Elisabeth Müggler, 80 Jahre alt, in der Ostschweiz aufgewachsen, ist Ordens­schwester des Klosters Ingenbohl. Seit vielen Jahren lebt sie aber nicht im Kloster selber, sondern in ihrer eigenen Wohnung im Zürcher Limmattal. Sie ist ausgebildete Pflege­fachfrau und hat sich weitergebildet in Intensiv­pflege, Theologie, Erwachsenen­bildung, Gerontologie und Palliative Care. 20 Jahre lang leitete sie die Pflege­schule Theodosianum. 2003 gründete sie den Verein Wabe, der schwer kranke und sterbende Menschen begleitet.

Sind die Menschen im Moment eher bereit, über den Tod zu sprechen?
Ja, jetzt, wo der Tod wegen Corona auf der ganzen Welt viel präsenter ist, denken die Menschen mehr darüber nach, sprechen mehr darüber. Das ist ein positiver Nebeneffekt, auch aus ganz praktischen Gründen: Ich sage den Leuten immer, wenn sie älter werden, sollen sie alles gut vorbereiten. Ein Vorsorge­auftrag ist sehr wichtig, zum Beispiel. Oder dass bei einem Ehepaar beide ein eigenes Konto haben, damit nach dem Tod des einen nicht alles gesperrt wird. Es gibt so viel vorzubereiten, wenn man noch Zeit hat. Das ist wichtig, denn wenn man vorbereitet ist, ist man auch gelassener.

Sie haben unzählige Menschen in ihren letzten Tagen und Stunden begleitet. Was ist dabei besonders wichtig?
Dass wir den Abschied vom Leben in Stille begleiten. Da soll nicht viel geredet werden. Das Wichtigste ist, dass man da ist; dass man ein Ohr hat für die Gnade, dass man die Wandlung staunend miterlebt, das Unfassbare erspürt.

Was haben Sie bei diesen vielen Abschieden gelernt?
Es gibt ein Gedicht von Hilde Domin. Da heisst es am Anfang: «Jeder der geht, belehrt uns ein wenig über uns selber. Kostbarster Unterricht an den Sterbebetten.» Das ist sehr wahr. Wenn wir andere in ihren letzten Stunden begleiten, beginnen wir, über die eigene Endlichkeit nachzudenken. Das ist ganz wichtig.

Wie erleben Sie Menschen, wenn ihr Tod näher kommt?
Viele ältere Menschen haben einen ruhigen Umgang mit dem Tod. Da staune ich oft. Heute haben fast alle eine Patienten­verfügung, was auch schon zu einer Auseinander­setzung mit dem Thema führt. Sie haben sich überlegt, was ihnen wichtig ist, haben einen Prozess durchgemacht. Jüngere Menschen hingegen, die schwer krank sind, hadern mehr. Was verständlich ist: Sie stehen noch mitten im Leben. Woran viele fast zerbrechen, ist, wenn sie Abschied von einem Kind nehmen müssen. Eine Bekannte muss gerade das Sterben schon des zweiten Grosskindes in der Familie verarbeiten. Das löst viele Zweifel aus, auch Zweifel an Gott. Das kann man fast nicht mehr ertragen. Da findet man keine Worte mehr.

Wie gehen Sie mit solchen Situationen um – wenn es nichts mehr gibt, was man sagen kann?
Wenn es nichts mehr zu sagen gibt, kann man trotzdem einfach im Stillen da sein. Vielleicht ein paar Blumen vorbeibringen, ein Gedicht. Dieser Frau habe ich gesagt: Du kannst immer zu mir kommen, jederzeit, wenn es dich überkommt, komm rüber, du kannst einfach weinen bei mir, du musst gar nicht sprechen. Und wissen Sie was? In so einem Moment umarme ich diese Frau dann auch, Covid hin oder her. Ich stelle mir vor, dass ich dann einen Schutzengel habe.

Covid hat den Tod, der uns sonst schon schwerfällt, noch schwerer gemacht. Durch die Pandemie fallen viele Rituale weg, die ihn sonst begleiten.
Das ist tatsächlich schwierig. Es sterben im Moment nicht nur mehr Menschen. Es sterben auch zu viele Menschen allein. Für die Angehörigen ist es sehr belastend, wenn sie nicht dabei sein können.

Was raten Sie diesen?
Wenn ein Angehöriger im Spital ist, der an Corona schwer erkrankt ist, und Sie ihn nicht besuchen dürfen, dann rate ich: Suchen Sie das Gespräch mit der obersten Leitung. Kämpfen Sie dafür, dass Sie trotzdem dabei sein dürfen. Ich hatte jetzt gerade so einen Fall, bei dem ein Mann darum gebeten hatte, von der Intensiv­station auf die allgemeine Abteilung verlegt zu werden. So durften seine Angehörigen schliesslich doch noch vorbeikommen, und seine Tochter blieb bei ihm bis ganz am Schluss.

Und wenn das nicht geht?
So eine Situation hatte ich auch kürzlich. Eine Frau war sehr traurig, weil sie ihren Mann nicht mehr besuchen durfte kurz vor seinem Tod. Ich habe mit ihr dann ein paar Kerzen angezündet, wir haben ein schönes Foto von ihm aufgestellt, über ihn gesprochen, ein Gebet gesprochen. Ich habe ihr geraten, immer wieder zu seinem Bild hinzugehen und sich so mit ihm zu verbinden. Das ist wenig, aber es hat ihr trotzdem geholfen.

Sie selber sind sehr geübt im Umgang mit dem Tod. Aber so viel Tod jeden Tag muss auch für Sie aussergewöhnlich sein.
Die aktuelle Situation ist auch für mich sehr belastend. Ein Beispiel: Ich brauchte eine Nachtwache für einen Mann, der sehr unruhig ist, Covid hat, präterminal, und die ganze Abteilung, wo er liegt, ist infiziert. Die Schutz­massnahmen sind enorm. Suchen Sie da mal eine Nachtwache, jemanden, der noch bereit ist, da hinzugehen. Das ist fast nicht möglich. Dann bleibe ich mit so einem fahlen, belasteten Herzen zurück und denke: Mein Gott, wir können doch diese Person jetzt nicht alleine lassen. Normalerweise springe ich in solch schwierigen Situationen dann oft selber ein, aber weil ich wegen meines Alters Risikogruppe bin, ist das momentan auch schwierig.

«Ich musste dauernd Abschied nehmen.»
«Aber ich habe immer gelernt aus dem Schmerz.»

Was machen Sie in so einem Fall?
Manchmal kann man nicht mehr machen, als die Person gedanklich zu begleiten. Und, in diesem Fall, seine Frau zu begleiten, die einfach nicht mehr mag, die nicht mehr immer bei ihm im Pflegeheim sein kann, keine Kraft mehr hat. Man kann beide spüren lassen, dass man mitträgt – und die Situation an Gott übergibt.

Seit Wochen sterben in der Schweiz jeden Tag Dutzende von Menschen an Covid. Müssten wir um all diese Menschen trauern? Und was ist, wenn uns das nicht gelingt?
Ich kann nachvollziehen, dass das nicht gelingt. Es ist einfach zu viel. Trauern kann man um jemanden, der einem nahestand. Da ist man sich im Herzen nahe. In diesem Fall fühlt man wohl eher so etwas wie eine allgemeine Traurigkeit. Es macht einen besinnlich, und das ist auch schon eine erste Stufe. Man denkt darüber nach, dass täglich Dutzende von Menschen sterben, die noch Lebenszeit gehabt hätten. Man denkt über das Sterben nach. Die Endlichkeit des Lebens wird präsent. Aber es ist klar, dass man nicht mit jeder Person mitfühlen, für jede Person Trauer empfinden kann. Das überfordert uns.

Sie auch?
Ich zünde jeden Tag ein paar Kerzen an für all diese Menschen. Und wenn ich am Radio wieder höre, wie viele Menschen gestorben sind, bete ich: Gott, nimm diese Seelen auf zu dir. Ich fühle mit.

Laufen wir nicht Gefahr, dass wir auch etwas gleichgültiger werden dem Tod gegenüber, wenn wir uns mit dem Tod versöhnen – gerade jetzt, während der Pandemie? Dass wir dann sagen: Diese Personen waren ja schon alt, die hätten sowieso bald sterben müssen?
Das ist eine Gratwanderung. Wir hatten im Kloster Ingenbohl viele Covid-Infektionen, und es sind auch einige Nonnen gestorben. Und jetzt sind im Kloster Freiburg innerhalb von kurzer Zeit schon sechs Schwestern gestorben. Ich habe gerade kürzlich mit einer Schwester telefoniert, die sagte: Weisst du, die waren alle schon alt. Aber auch wenn sie alt waren: Es ist immer dieses eine Leben, das endet. Für die Familie, die Angehörigen ist es trotzdem immer ein riesiger Abschied, der schmerzt. Selbst wenn der Vater 92 war, ist es trotzdem der Vater, der stirbt. Jedes Leben ist wertvoll bis zum letzten Tag.

Kann man Mitgefühl lernen?
Zumindest teilweise ist es einem wohl gegeben. Gewisse Menschen können besser mitfühlen, andere weniger. Aber ich meine, man kann es auch lernen. Die Begleiterinnen vom Verein Wabe sagen mir oft, dass sie mit jedem Menschen, bei dem sie dabei waren, als er starb, gelernt haben, tiefer mitzugehen. Tiefer mit den Angehörigen mitzufühlen. Auch ich habe auf diese Art viel gelernt.

Kann so viel Mitgefühl nicht auch belastend sein?
Mitgefühl ist wichtig, denn ohne Mitgefühl wird das Leben um einen herum kälter. Den allermeisten Menschen tut es enorm gut, wenn sie merken, man sieht sie, man hört sie, man interessiert sich für sie. Gleichzeitig brauchen wir auch die Fähigkeit, mit Nähe und Distanz umzugehen. Man muss wissen, wo die Grenze ist. Sonst kann man fast nicht mehr leben. Auch ich muss wissen, wie ich mich wieder auffange, wie ich wieder zurechtkomme mit meinen Gefühlen. Ich brauche Oasen, um mein Inneres neu zu füllen.

Sie selber sind 80 Jahre alt. Beschäftigt Sie auch Ihre eigene Endlichkeit?
Ja, ich denke öfters daran, dass auch mein Leben endlich ist. Das löst in meinem Herz zwei unterschiedliche Gefühle aus. Einerseits glaube ich, dass ich alles schön vorbereitet habe. Ich habe mir überlegt, wie meine Abschieds­feier gestaltet werden soll, und habe dazu ein paar Impulse vorbereitet. Ich bin dankbar für das Leben, das mir geschenkt wurde. Und ich meine, ich sei bereit. Ich hoffe, dass nach dem Tod noch etwas anderes kommt, und glaube an die Auferstehung. Andererseits weiss ich nicht, wie ich mich verhalten werde, wenn es dann einmal wirklich so weit ist. Ich hoffe und bete, dass ich ruhig gehen kann, dass ich wirklich loslassen kann.

Haben Sie sich mit dem Tod versöhnt?
Ich habe mich versöhnt. Ich schaue ihn nicht als etwas Negatives an. Mir wurde das Leben geschenkt, und irgendwann gebe ich es zurück. Mein Leben ist eine Pilgerreise von Gott zu Gott.

Wie haben Sie diesen gelassenen Zugang zum Thema Tod gefunden?
Ein Grossteil davon habe ich gelernt im Leben. Aber der Tod kam schon früh in mein Leben. Ich wurde schon als ganz junge Person regelmässig damit konfrontiert. Zuerst starb meine liebste Grossmutter. Da habe ich noch furchtbar gehadert mit dem lieben Gott. Dann wurde mein einziger Bruder mit 17 Jahren von einem Raser überfahren. Das war für meine Eltern und mich furchtbar. Diese Auseinander­setzung mit dem plötzlichen Tod werde ich nie mehr vergessen. Meine Schwester starb mit 58 krankheits­halber, auch beide meiner Eltern starben sehr früh, im Abstand von wenigen Monaten. Ich musste dauernd Abschied nehmen. Aber ich habe immer gelernt aus dem Schmerz. Er hat mich zu tiefer Besinnung animiert. Man kann sagen, dass mein Leben ein Lernprozess im Loslassen war und damit die Vorbereitung auf den eigenen Tod – auf das Loslassen in der letzten grossen Begegnung.

Der Tod hat Ihnen nie Angst gemacht?
Nein. Angst hatte ich nie. Aber Respekt vor dem Tod, das habe ich heute noch. Wissen Sie, ich möchte ihn auch heute noch etwas hinaus­schieben. Ich will noch einiges erleben. Dieses Jahr möchte ich nach Andalusien, weil das im letzten Jahr nicht möglich war. Sehr weltlich, oder? Aber man soll doch immer Ziele haben im Leben, so lebt man viel besser.

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Artikel wie diesen gibt es nur, wenn genügend Menschen die Republik mit einem Abo unterstützen. Kommen Sie bis zum 31. März an Bord!

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr