Rosenwasser

Willst du das auch, Max?

Er wehrte sich nicht, er sagte nicht Nein, er beschwerte sich nicht. Enthusiastisch war er aber nicht. War das einvernehmlicher Sex?, fragt sich unsere Kolumnistin.

Von Anna Rosenwasser, 30.04.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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Die Musik in der klein­städtischen Punk­kneipe kam aus einer echten Jukebox. Unserer Freundes­gruppe fehlte allerdings das nötige Geld dafür, weil wir unseren knappen Lehrlings- und Studierenden­lohn in Getränke investierten. Mehrmals pro Woche bestellten die anderen literweise Bier und ich kannen­weise Tee, wobei ich dem Personal immer wieder versichern musste, dass ich keinen Tee mit Schuss meinte. Die Wände waren bunt illustriert und die Luft heiter verraucht, weil damals noch kein Rauch­verbot galt.

Mir gefielen diese Abende. Und natürlich gefiel mir Max, mit seinen grünen Augen und seiner verchrugeleten Art.

Wir waren beide nicht gerade geschickt miteinander; meine Erfahrungen mit Rummachen konnte ich an einer Hand abzählen, und er war 19, also zwei Jahre jünger als ich damals. Zu Zeiten der Musik, die aus der Jukebox kam – Elvis, Ramones, Iron Maiden –, hätte das, was Max und ich anfingen, einen Schweizer­deutschen Namen gehabt: ein Gschleick.

Ich mochte noch nicht viele Erfahrungen mit Leuten im Bett gesammelt haben, aber ich wusste, dass ich Max gern in meinem hätte, in meinem Zimmer, in meinem Elternhaus.

Nach einem Abend in der Kneipe lud ich ihn zu mir nach Hause ein, von der Kleinstadt ins Dorf. Als wir in meinem Zimmer waren und er kurz auf die Toilette ging, beschloss ich, ihn in Unter­wäsche zu über­raschen. Wie ein sexy Zauber­trick. Er würde sich bestimmt freuen.

Max freute sich dann so mittel.

Er wirkte nicht mehr nur verchrugelet, sondern nervös, unsicher; auch dann, als ich ihn so nett wie möglich zu überzeugen versuchte, weiterzu­gehen, als mich bloss zu küssen. Er liess sich darauf ein, an diesem Abend und an weiteren Abenden.

Die Sache mit Max endete so, wie viele Gschleicks enden, nach wenigen Monaten. Ich würde die Zeit mit ihm als seltsame Liebelei abtun mit einem Typen, der nicht weiss, was er will, und offenbar auch nicht weiss, was er an mir hat. Das gab mir ein Gefühl der Kontrolle darüber, was das mit ihm war.

In den Jahren danach ernannte ich mich selbst zur Feministin, sprach mich öffentlich für Selbst­bestimmung und Respekt aus, für Konsens und körperliche Integrität. Irgendwann begann ich nachzudenken über die kurze Sache mit Max.

Und fragte mich, was das war: einvernehmlich oder nicht?

Max hat sich nicht gewehrt, er hat nicht Nein gesagt, sich nicht beschwert, aber: Enthusiastisch war das nicht. Eindeutig, denke ich, war das nicht. Und feministisch schon gar nicht.

Ich hirne lange rum, ob ich darüber schreiben soll. Muss, will. Wenn wir über Übergriffigkeit diskutieren, scheitern wir oft daran, sie binär definieren zu wollen, Konsens oder Gewalt, dabei sind die Zwischen­formen ebenso wichtig: die Momente, in denen nicht ganz eindeutig ist, was unser Gegenüber will.

Das sind diejenigen Situationen, in denen wir nicht einfach weitermachen sollten. Nicht wie ein ungefragter sexy Zaubertrick in Unter­wäsche dastehen, sondern aufeinander eingehen. Konsens heisst auch: aufmerksam sein gegenüber Unsicherheit, statt sie zu übergehen.

Darüber will ich gerne schreiben, denn auch Leute, die für ihren Feminismus abgefeiert werden, handelten und handeln nicht immer so, wie sie es predigen.

Dann merke ich: Über Max zu schreiben, über sein Unwohlsein, über seine Uneindeutigkeit beim Sex – das wäre absurd ohne seine Zustimmung.

Ähnlich absurd ist vermutlich, ihn nach all den Jahren zu kontaktieren, aber ohne Konsens über Konsens zu schreiben, ist ein Fehler, den schon zu viele gemacht haben. Also nehme ich mir vor, Max zu schreiben.

Es bleibt beim Vorsatz. Ein Jahr lang.

Dann mache ich es, auf Whatsapp, unsere letzte Konversation ist noch drauf, sie stammt von 2011.

«Hoi Max», schreibe ich und erkläre, dass ich gerade an einem feministischen Text arbeite. Dass ich über eine Erinnerung schreiben wolle, in der er vorkomme. Dann schildere ich, woran ich mich erinnere: dass ich, meiner Erinnerung nach, ihn damals bedrängte. Und dass ich es im Nachhinein respektlos fände, wie ich ihn damals zu Sex überredet hätte.

Ob ihm wohl wäre damit, wenn ich anonymisiert darüber schriebe?

Als ich auf «Senden» klicke, ist mir schwindelig. Wie ultra­seltsam, einem Mitmenschen von vor dreizehn Jahren zu schreiben! Und dann auch noch über das kurze Gschleick, das wir hatten! Und dann auch noch darüber, dass ich mich unangebracht verhalten habe! Kein Wunder, habe ich das so lange rausgeschoben.

Max antwortet sechs Minuten später.

Das sei kein Problem, schreibt er, ich dürfe darüber schreiben.

Das sei zwar lange her, aber er sei sich sicher, dass er sich damals nicht bedrängt fühlte.

Ich trug dreizehn Jahre lang eine Erinnerung in mir, in der ich einen Mann bedrängte. Und jetzt schreibt er mir, dass alles kein Problem gewesen sei.

Es hätte einen guten Weg gegeben, das zu verhindern: Ich hätte früher fragen können.

Zum Beispiel, als Max in meinem Zimmer war.

Ich hätte sagen können: Ich finde dich hot, ich würde gerne weiter gehen, als dich nur zu küssen.

Ich hätte sagen können: Ich habe den Eindruck, dir ist nicht ganz wohl, wie siehst du das?

Ich hätte alles tun können, ausser ihn zu Sex zu überreden.

Aber ich war, wie die allermeisten von uns, aufgewachsen mit dem Konzept, dass Männer immer Lust auf Sex hätten. Diese Annahme wird nicht nur der Komplexität von Anziehung nicht gerecht. Sondern auch den Männern nicht.

Wenn wir Sexualität feministisch reflektieren, dann gehören Geschlechter­rollen dazu: die vermeintlich männliche Rolle des Initianten, des Dauer­potenten, des Willigen. Menschen aller Geschlechter haben es verdient, dass ihr Gegenüber auf sie eingeht, anstatt ihr Wollen anzunehmen.

Anzunehmen, das Gegenüber wolle sowieso, ist keine gesunde Perspektive auf das Wollen. Aber zum Glück kann das Wollen nicht nur erspürt, sondern auch erfragt werden. Willst du?

Und wenn Unsicherheit zurückkommt, kann man es für den Abend auch einfach etwas ruhiger angehen. Und nicht erst über ein Jahrzehnt später fragen, wer wirklich gewollt habe an dem Abend.

Max konnte sich damals vielleicht kein Lied in der Jukebox leisten.

Aber ganz sicher ein deutliches Ja.

Hätte ich ihn denn gefragt.

Illustration: Alex Solman

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