Bis dahin berichten wir weiter

Als Student floh Sanna Camara vor den Schüssen der gambischen Polizei. Nun hat der Journalist das Gerichts­verfahren gegen den ehemaligen Innen­minister Ousman Sonko in Bellinzona begleitet – so gut es ging. Dies ist seine Sicht auf den Prozess.

Von Sanna Camara (Text) und Timo Kollbrunner (Übersetzung), 15.03.2024

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Journalismus als Lebensaufgabe: Der Gambier Sanna Camara. Anne Brunner

Als der Gerichts­präsident im Januar in Bellinzona auf eine hand­schriftliche Notiz zu sprechen kam, fiel ich fast von meinem Stuhl. Darin hat der ehemalige gambische Innen­minister Ousman Sonko, der vor dem Bundes­strafgericht wegen «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» angeklagt ist, selbst beschrieben, wie ihm der damalige Präsident Yahya Jammeh im April 2016 den Auftrag gegeben habe, auf Protestierende zu schiessen.

16 Jahre zuvor, im April 2000, war ich selbst einer der Hunderten von Studenten gewesen, die nach der Vergewaltigung einer Kommilitonin durch Polizisten und der Ermordung einer anderen Studentin durch Feuerwehr­männer in Banjul auf die Strasse gingen. Soldaten und Polizisten schossen auf uns, ich rannte über einen Umweg nach Hause. Ich glaube, ich bin nie mehr so schnell gerannt wie damals. 15 Menschen starben, 14 von ihnen durch Kugeln. Erschossen wurde unter anderem ein dreijähriges Kleinkind, ein anderes Kind wurde in der folgenden Massen­panik zu Tode getrampelt.

Entkommen, um zu berichten

Meine Heimat ist ein lang gezogenes Land in Westafrika, das auf drei Seiten von Senegal und im Westen vom Atlantischen Ozean umgeben ist. Es ist nicht einmal einen Drittel so gross wie die Schweiz und zählt weniger als drei Millionen Einwohnerinnen. Benannt ist es nach dem Fluss, der es in Norden und Süden teilt: dem Gambia River. Nach der Unabhängigkeit 1965 war Gambia drei Jahrzehnte lang eine zwar von einer Partei dominierte, aber stabile Demokratie.

Dann machte sich 1994 ein damals erst 29-jähriger Leutnant der Militär­polizei auf, gemeinsam mit vier weiteren Offizieren die Langzeit­regierung zu stürzen. Sein Name war Yahya Jammeh.

Zur Person

Der 42-jährige Sanna Camara arbeitet seit 23 Jahren als Journalist. Er schrieb unter anderem für «The Independent» und «The Standard», heute ist er als unabhängiger Journalist tätig und lebt in der gambischen Hauptstadt Banjul.

Jammeh versprach, er und seine Männer würden «soldiers with a difference» sein, andere Soldaten, und stellte einen kurzen Übergang zu einer Zivil­regierung in Aussicht. Er legte die Uniform ab, zog zivile Kleidung an und wurde 1996 als Präsident gewählt. Jammeh regierte mit eiserner Faust, räumte Widersacher aus dem Weg, verbot alle bestehenden Oppositions­parteien, stahl Wahlen, liess Menschen foltern und verschwinden. Die Erschiessung meiner Kommilitoninnen bei der Demonstration im April 2000 ist nur eines der Verbrechen, die unter seiner Herrschaft begangen wurden.

Ich war 19 Jahre alt, als die Schiesserei stattfand. Meine Freunde, die der Folter und den Schlägen der Soldaten nicht entkommen waren, nannten mich einen Feigling – wohl deshalb, weil ich nicht zu den Verhafteten, Fest­genommenen oder Gefolterten gehörte.

Ich war geflohen. Aber ich setzte mir in den Kopf, dass ich für unsere Kolleginnen, die von den Kugeln nicht verschont worden waren, Journalismus zu meiner Lebens­aufgabe machen würde. Um mitzuhelfen, die Regierung in die Verantwortung zu nehmen, und einen Beitrag zu leisten, dass sich die Dinge ändern. Nach meinem Schul­abschluss im Jahr 2000 ging ich direkt zur Zeitung «The Independent», um dort ein Volontariat zu absolvieren.

Verhaftet und vertrieben

In den zwei Jahrzehnten darauf erlebte ich zahlreiche Schikanen und Einschüchterungen von der Polizei, der Armee, der Regierung. Dreimal wurde ich verhaftet, verhört und inhaftiert. Zwei der Verhaftungen standen in direktem Zusammen­hang mit Ousman Sonko. Beim ersten Mal, 2006, war er General­inspektor der gambischen Polizei.

Seine Einheit versiegelte die Büros unserer Redaktion, wir wurden festgenommen und zu einer Polizei­kaserne gefahren, wo man uns im Zusammenhang mit einem vereitelten Putsch­versuch verhörte. Das einzige «Verbrechen», das wir begangen hatten, war, dass wir die Namen von Personen veröffentlicht hatten, die verhaftet worden waren und in verschiedenen Gefängnissen festgehalten wurden, ohne dass ihre Familien oder Anwältinnen Zugang zu ihnen bekamen.

Zwei meiner Kollegen wurden drei Wochen lang vom Geheim­dienst festgehalten und gefoltert. Die Behörden sorgten dafür, dass «The Independent» seine Büros nie mehr öffnete. Andere Zeitungen wollten mich nicht einstellen, weil sie keine Probleme mit dem Regime bekommen wollten. Ich berichtete fortan als freischaffender Journalist.

Im Jahr 2014, Sonko war inzwischen Innen­minister, wurde ich festgenommen, nachdem ich in der Tages­zeitung «The Standard» eine Geschichte veröffentlicht hatte, in der es um den Handel mit gambischen Mädchen und Frauen in den Nahen Osten ging – und um die Schwierigkeiten der Polizei, die Verdächtigen zu verfolgen. Ich verbrachte zwei Tage in einer Polizei­zelle, eine Freilassung auf Kaution wurde mir verweigert. Die Polizisten sagten mir, sie handelten «auf Anweisung von oben». Da der Präsident Jammeh auf dem Gipfel der Afrikanischen Union und somit nicht in der Stadt war, denke ich, dass Sonko hinter der Verhaftung und Inhaftierung steckte.

Der Fall weckte das Interesse hoher Stellen im Justiz- und Aussen­ministerium. Für die von Jammeh kontrollierten Richter wäre es ein Leichtes gewesen, irgendwelche Anschuldigungen gegen mich zu erfinden und mich ins Gefängnis zu stecken oder, noch schlimmer, die brutalen «Junglers» damit zu beauftragen, sich um mich zu «kümmern».

Deshalb hatte ich kaum eine andere Wahl, als meine junge Familie mit drei Kindern zurück­zulassen und nach Senegal zu ziehen. Sie folgten mir bald, kehrten aber wenig später wieder nach Gambia zurück, weil es mir als Geflüchtetem ohne Arbeit nicht möglich war, für sie zu sorgen. Ich selbst blieb zweieinhalb Jahre im senegalesischen Exil.

Auch die Medien müssen wieder gestärkt werden

Ende 2016 wurde Yahya Jammeh bei den Wahlen besiegt. Er weigerte sich, abzutreten. Erst als auf Geheiss der Wirtschafts­gemeinschaft Ecowas senegalesische Truppen in Banjul einmarschierten, gab er auf und floh ins Exil. Und ich konnte nach Gambia zurück­kehren. Der Aufarbeitungs­prozess meines Landes nach der Diktatur Jammehs ist entscheidend, und ich begann, vermehrt über Aspekte von Gambias transitional justice zu berichten. Vor der gambischen Kommission für Wahrheit, Versöhnung und Wiedergutmachung TRRC haben über 400 Zeuginnen ausgesagt. Gerechtigkeit und Rechenschafts­pflicht sind ein entscheidender Teil in diesem Prozess der Aufarbeitung und Versöhnung. Über 200 Menschen wurden durch das brutale Jammeh-Regime getötet, und bis heute ist das Schicksal von etwa 70 verschwundenen Menschen ungewiss, unter ihnen auch der Journalist Chief Ebrima Manneh.

Über 100 Journalisten sind ins Exil geflohen, und weniger als ein Dutzend von ihnen sind zurück­gekehrt, um wieder in Gambia als Journalisten zu arbeiten. Der unabhängige Journalismus wurde durch die Diktatur deutlich geschwächt. Traurige Höhepunkte waren im Jahr 1999 die Übernahme der damals einzigen Tages­zeitung des Landes, «The Daily Observer», durch einen mit Jammeh befreundeten Unternehmer und 2004 die Ermordung des bekannten Journalisten Deyda Hydara.

Für private Fernseh­sender wurde unter Jammehs Herrschaft keine Lizenz ausgestellt, und die staatlichen Sender nutzten 90 Prozent ihrer Sendezeit, um für den Präsidenten und seine Aktivitäten zu werben. Radiosender, die kritische Inhalte produzierten, wurden geschlossen, die verbliebenen sendeten Sport-, Unterhaltungs- und gesellschaftliche Programme. Die Aufarbeitung der Jammeh-Diktatur muss unbedingt auch eine Stärkung der Medien zur Folge haben.

Das Potenzial der inter­nationalen Justiz

2016 bekam ich die Chance, aus dem senegalesischen Exil nach Den Haag zu reisen, um über den Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten von Côte d’Ivoire zu berichten, Laurent Gbagbo. Weil die Zeugen, die einvernommen wurden, Französisch sprachen, wurde uns Journalisten ein Dolmetscher­dienst über Kopfhörer bereitgestellt. Bei einem Besuch am Internationalen Straftribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag erklärte man uns, dass die Verhandlungen online übertragen würden, damit auch die Bevölkerungen in den betroffenen Ländern das Verfahren verfolgen könnten.

Ich verliess Den Haag inspiriert von den Mechanismen der internationalen Justiz und der Rolle, welche diese dabei spielen kann, Verantwortliche für Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen – während sie im Land, in dem sie diese begangen haben, vielleicht nie vor Gericht hätten erscheinen müssen.

Mein Land hat im Kampf für die Menschen­rechte und die Verfolgung schwerer Straftaten auf internationalem Parkett durchaus Spuren hinterlassen. Vor 40 Jahren gehörte Hassan Jallow, der heutige oberste Richter des Landes, zu den Rechts­experten, die die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker ausgearbeitet haben. Später wurde er zum Nachfolger der Schweizerin Carla Del Ponte als Ankläger am Inter­nationalen Strafgerichtshof für Ruanda. Mein Land stand am Inter­nationalen Gerichtshof an vorderster Front im Kampf um Gerechtigkeit und Rechenschafts­pflicht für die Verbrechen an den Rohingya in Burma. Auch die ehemalige Chefanklägerin des Inter­nationalen Strafgerichtshofs ist Gambierin.

Was aber die Gräueltaten in der Zeit von Jammeh betrifft, mussten sich in Gambia bisher nur wenige strafrechtlich verantworten: Ein ehemaliger Minister Jammehs wurde wegen seiner Rolle bei der Ermordung eines anderen Ministers zum Tode verurteilt. Und sechs ehemalige Mitglieder des Geheim­dienstes wurden wegen des Mordes an dem Oppositions­aktivisten Solo Sandeng im Jahr 2016 verurteilt. Ende Februar haben die Regierung Gambias und die westafrikanische Wirtschafts­gemeinschaft Ecowas ein gemeinsames Komitee eingesetzt, um ein hybrides Gericht einzurichten, das die unter Yahya Jammeh begangenen Verbrechen verfolgen soll.

Aber: Viele von Jammehs Männern arbeiten auch in der Regierung des jetzigen Präsidenten Adama Barrow mit, manche von ihnen nehmen hohe Posten ein. Der Mann etwa, der während der Angriffe im April 2016, die zum Tod von Solo Sandeng führten, General­inspektor der Polizei war, wurde zum Minister ernannt. Auch andere Minister oder der Parlaments­präsident hatten Posten unter Jammeh. Für all die Opfer der Jammeh-Diktatur sendet das ein falsches Signal: Es scheint fraglich, ob die Regierung Barrow tatsächlich gewillt ist, die Verbrechen aus dieser Zeit sorgfältig genug aufzuarbeiten.

Umso wichtiger ist für die gambische Bevölkerung das Verfahren in Bellinzona. Wenn Ousman Sonko nicht hier vor Gericht gestellt worden wäre, wäre er wahrscheinlich immer noch ein freier Mann, genau wie sein früherer Chef Jammeh, der in Äquatorial­guinea unbehelligt im Exil lebt.

Ich war also ziemlich aufgeregt, als ich mit befreundeten Schweizer Journalistinnen zusammen begann, die Möglichkeiten auszuloten, dass ich in die Schweiz kommen könnte, um über den Prozess gegen Sonko zu berichten.

Berichterstattung schwer gemacht

Das hat sich allerdings als sehr kompliziert heraus­gestellt. Schon die Bestimmungen, um in der Schweiz ein Visum zu bekommen, sind sehr strikt. Man muss zum Beispiel eine Gastgeberin finden, die bereit ist, einem eine Garantie für bis zu 30’000 Franken zu geben. Auch die Reise­kosten und die Lebens­kosten in der teuren Schweiz konnten sich meine Kollegin Mariam Sankanu und ich uns nur dank der Unter­stützung unserer Freunde leisten.

Vor allem aber unterhält die Schweiz keine konsularischen Dienste in Gambia. Wir mussten also in die senegalesische Hauptstadt Dakar reisen, um ein Visum zu beantragen. Und dann noch einmal, um es abzuholen. Die Flüge sind teuer, mit Fähre und Bus dauert ein Weg sieben Stunden. Schliesslich erhielt ich im Januar ein Visum für 19 Tage. Als der Prozess nun im März wieder aufgenommen wurde, war es längst abgelaufen. Also musste ich wieder zweimal nach Dakar reisen.

Schliesslich waren wir wieder in Bellinzona – und verstanden kaum etwas. Denn während im Januar immerhin noch die Fragen an Sonko und an die Privat­klägerinnen übersetzt wurden, gab es nun gar keine Übersetzung mehr. Wir waren auf die Unter­stützung befreundeter Journalisten angewiesen. Wenn sie nicht da waren, war es aussichtslos. Am zweiten Tag gingen Mariam und ich irgendwann nach Hause. Es ergab einfach keinen Sinn. Das Gericht stellte auch keine Übersetzungen der Plädoyers zur Verfügung. Wir mussten uns persönlich darum bemühen, diese direkt von den Parteien zu erhalten, und sie teils selbst übersetzen, um eine Ahnung davon zu bekommen, was verhandelt wird.

Ich muss ehrlich sein: Wenn dieses Verfahren für die gambische Bevölkerung nicht so wichtig wäre, ich hätte die komplizierte Reise in dieses kalte, schöne, bergige Land wohl nicht noch einmal auf mich genommen. Wenn es uns die Schweizer Behörden etwas weniger schwer machen würden, wäre das nicht nur für uns weniger frustrierend, sondern sicher auch ein Vorteil für das Image der Schweiz und ihrer Gerichte.

Wenn Ousman Sonko, Yahya Jammeh und alle anderen für ihre Verbrechen in fairen Prozessen zur Rechenschaft gezogen worden sind, werde auch ich mich mit der dunklen Geschichte meines Landes versöhnen können. Bis dahin berichten wir weiter, von diesem Verfahren und von weiteren, die noch kommen werden. Wir müssen sicherstellen, dass unter dem Slogan «Never Again», den sich die transitional justice unseres Landes gegeben hat, tatsächlich eine konsequente Aufarbeitung erfolgt.

Vielleicht bin ich vor 24 Jahren tatsächlich den Kugeln entkommen, um jetzt über die Aufarbeitung jener Zeit berichten zu können. Denn durch die Arbeit der Journalistinnen von heute werden künftige Generationen verstehen können, wie Gambia seine dunkle Vergangenheit aufgearbeitet hat – und dass dabei auch die Schweiz eine wichtige Rolle gespielt hat.

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