Wir können uns mehr Umverteilung leisten
Das Ja zur 13. AHV-Rente ist eine Sensation und wird weitreichende politische Folgen haben. Dabei müsste die Forderung der Initiative eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.
Ein Kommentar von Daniel Binswanger, 03.03.2024
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«Historisch», «eine neue Seite in der Geschichte», «wichtiger Schritt zu einer sozialen Schweiz»: Zu Recht betonen die Befürworterinnen der 13. AHV-Rente die enorme politische Bedeutung der ersten Volksinitiative in der Geschichte des Schweizer Bundesstaates, die den Ausbau des Sozialstaates durchsetzt. Selbst die Gegnerinnen bestreiten nicht, dass dieses Abstimmungsresultat einen epochalen Einschnitt darstellt: Die Zürcher FDP-Nationalrätin Bettina Balmer spricht gar von einer «Zeitenwende».
Leider hört an dieser Stelle der Konsens aber auch schon wieder auf. Die Erklärungen dafür, weshalb der aktuelle AHV-Ausbau an der Urne nun mit gut 58 Prozent Zustimmung eine sehr klare Mehrheit gefunden hat, obwohl eine ähnlich gelagerte Initiative vor siebeneinhalb Jahren deutlich gescheitert ist, gehen stark auseinander. Dass die bürgerliche Seite nun erst einmal ihre Wunden lecken muss und zu einer kühlen Analyse am Tag der Niederlage nicht fähig scheint, wird man ihr wohl zugestehen müssen. Allerdings kann man nur hoffen, dass irgendwann das Realitätsprinzip wieder seine Rechte geltend macht und eine minimale Ausnüchterung einsetzt. Die ideologischen Schaumschlägereien sollten irgendwann ein Ende nehmen.
Flächendeckend wurde noch am Abstimmungssonntag das Narrativ bedient, die 13. AHV-Rente sei aus einer schändlichen Mischung von schäbigen Motiven angenommen worden: Ressentiments gegenüber einem Staat, der ja schliesslich auch die CS rettete, Selbstbedienungsmentalität, egoistische «Gerontokratie». Auch normalerweise besonnene Kommentatoren waren kräftig am Hyperventilieren.
So machte der Politologe Michael Herrmann für die Popularität der 13. AHV-Rente allen Ernstes die «Anspruchshaltung» der Boomer verantwortlich, die für «Bescheidenheit und Sparsamkeit» keinen Sinn mehr hätten. Arthur Rutishauser, der Chefredaktor der «SonntagsZeitung», verstieg sich sogar zur Behauptung, das steigende Medianalter der Abstimmenden werde dazu führen, dass «Rentenaltererhöhungen immer weniger durchsetzbar» würden – obwohl die Umfragen zur Renteninitiative das exakte Gegenteil gezeigt haben, nämlich dass bereits pensionierte Bürgerinnen, die von einer Rentenaltererhöhung nicht mehr betroffen wären, solchen Reformvorschlägen mit Abstand am aufgeschlossensten gegenüberstehen.
Da war es schon beinahe wohltuend, dass manche Kommentatorinnen wenigstens am Sonntagnachmittag mit Lichtgeschwindigkeit die Seiten wechselten. Während «Tages-Anzeiger»-Chefredaktorin Raphaela Birrer vor der Abstimmung noch «vor kurzsichtigem Populismus» warnte, traf sie in ihrem Abstimmungskommentar plötzlich die Feststellung: «Der Problemdruck ist real: Viele Seniorinnen und Senioren plagen Existenzängste.» What a difference a day makes!
In der Tat: Der Problemdruck ist real – was man auch schon vor der Abstimmung hätte öffentlich festhalten dürfen.
Es ist eine Tatsache, dass die Rentenleistungen in der Schweiz im Vergleich zu den meisten anderen OECD-Ländern äusserst bescheiden sind. Es ist eine Tatsache, dass das schweizerische System der Altersvorsorge eine strukturelle Altersarmut erzeugt, die dazu führt, dass breite Bevölkerungsschichten auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind. Es ist eine Tatsache, dass das starke Absinken der Renten aus der zweiten Säule die Altersvorsorge des Mittelstandes massiv verschlechtert hat und auch für Bürgerinnen mit mittlerem Einkommen die Pensionierungsperspektiven äusserst düster werden lässt. Tatsache ist auch, dass die Schweizer Politik diesem Missstand nun seit Jahrzehnten passiv zugeschaut hat und vor der Aufgabe, Abhilfe zu schaffen, schlicht und einfach versagte.
Dass die Bevölkerung nun an der Urne sagt, es reicht, muss man weder mit einem fundamentalen Gesinnungswandel erklären noch mit einem Verrat an den liberalen Traditionen noch mit sonstigen moralinschweren Theorien über den allgemeinen Sittenzerfall. Eine solide Altersvorsorge ist eine absolute Basisleistung eines funktionierenden Sozialstaates. Die Schweizer Bevölkerung fordert ein, dass der Schweizer Staat diese Basisleistung erbringt. Wer das schockierend findet, hat schlicht den Kontakt mit den wirtschaftlichen Realitäten der Menschen in diesem Land verloren.
Die grosse Frage dürfte sein, ob die Wirtschaftsverbände und das bürgerliche Establishment wieder eine minimale Fähigkeit entwickeln, die Lebensverhältnisse des Mittelstandes und der unteren Lohnkategorien zur Kenntnis zu nehmen. Auch dass eine Erhöhung des Rentenalters dieses Wochenende so eindeutig abgeschmettert wurde, ist ein klarer Hinweis darauf, dass entsprechende Vorlagen nur dann eine Chance haben werden, wenn die spätere Pensionierung mit Bedacht und Ausgleichsmechanismen umgesetzt wird.
Die politische Verhandlungsmacht der Linken wird zunehmen nach diesem Abstimmungserfolg. Es stehen weitere Urnengänge ins Haus, bei denen es um die Kaufkraft der breiten Bevölkerung geht, als Nächstes nun die Prämienentlastungsinitiative. Auch diese Initiative, von der vor allem mittelständische Familien profitieren würden, hat gute Chancen durchzukommen. Dasselbe gilt auch für die Kostenbremse-Initiative der Mitte – und das Referendum gegen die BVG-Reform, bei dem es erneut um künftige Rentenhöhen gehen wird.
Das heutige Wahlergebnis bedeutet nicht, dass die Schweizer Bevölkerung ganz plötzlich ihren politischen Traditionen untreu wird. Es bedeutet, dass im Gefüge des sozialpolitischen Ausgleichs die Dinge aus dem Lot geraten sind und dass nun eine Kurskorrektur ansteht. Die Schweiz kann sich mehr Umverteilung leisten. Dass sie heute auf dem Initiativweg durchgesetzt wird, zeigt lediglich, dass die politischen Entscheidungsträger über die Bücher gehen müssen. Das sollten sie nun tun, in aller Nüchternheit. Und bitte Schluss jetzt mit verstiegenen Moralpredigten.