«Der Prozess kann für euch unmöglich so viel bedeuten wie für uns»

Eine Journalistin aus Gambia hat in Bellinzona den Prozess gegen den ehemaligen Innenminister ihres Heimatlandes verfolgt. Wie hat sie die Gerichts­verhandlung erlebt? Eine Rückschau.

Von Lorenz Naegeli, Anina Ritscher, Jennifer Steiner (Text) und Daniel Stolle (Illustration), 09.02.2024

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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«Ab dem zweiten Verhandlungs­tag sind fast keine Schweizer Journalisten mehr nach Bellinzona gekommen», sagt Mariam Sankanu, während sie gleichzeitig auf den Monitor schielt, auf dem die Verhandlung aus dem Gerichts­saal nebenan übertragen wird. «Aber ich nehme es euch nicht übel. Der Prozess kann für euch unmöglich so viel bedeuten wie für uns.»

Mariam Sankanu ist 24 Jahre alt. Sie schreibt für «Malagen», ein investigatives gambisches Online­magazin, das sich der Aufdeckung von Korruptions­fällen und anderen Verbrechen verschrieben hat. Zudem ist sie für das Projekt «Justice Info» tätig – ein Online­portal, das von einer Stiftung mit Sitz in Lausanne unterstützt wird und insbesondere über Prozesse von transitional justice berichtet, also über die Aufarbeitung von Bürger­kriegen oder autoritären Herrschafts­perioden.

Sie ist in die Schweiz gereist, um den Prozess gegen Ousman Sonko vor dem Bundes­strafgericht zu verfolgen. Sonko war unter dem autoritären Herrscher Yahya Jammeh, der Gambia während zweier Jahrzehnte regierte, Innen­minister. Nun muss er sich in Bellinzona wegen zahlreicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Das Gericht in der Schweiz muss beurteilen, welche Verantwortung Sonko für die Gewalt jener Zeit trägt.

Sankanu hat keine Minute der Verhandlungen verpasst. Bislang.

In der entscheidenden Woche jedoch wird sie nicht mehr in der Schweiz sein. Nach Abschluss des Beweis­verfahrens ist der Prozess am 24. Januar nach zweieinhalb Wochen unterbrochen worden. Am 4. März soll er mit den Partei­vorträgen wieder aufgenommen werden.

Doch Sankanu fliegt nun zurück nach Gambia. Ihr Visum läuft ab. Vor der Abreise treffen wir sie zum Kaffee und blicken mit ihr auf die Zeit am Bundes­strafgericht zurück. Wie hat sie den Prozess erlebt? Wie wurde in Gambia darüber berichtet? Und was bedeutet das Verfahren in Bellinzona für den dortigen Aufarbeitungs­prozess der 22 Jahre dauernden Herrschaft von Yahya Jammeh?

«Es fühlte sich an, als würde unser Schicksal hier entschieden werden», sagt die Journalistin. «Und ich war eine der wenigen Personen, die dabei sein und alle Informationen auf direktem Weg in meine Heimat überliefern konnten.»

Der lange Weg nach Bellinzona

Bevor sie Journalistin wurde, arbeitete Sankanu für die Nichtregierungs­organisation Aneked, die sich für die Opfer staatlicher Gewalt einsetzt und sich in der Aufarbeitung des Jammeh-Regimes in Gambia engagiert.

Für Aneked protokollierte sie rund 90 Anhörungen vor einem Gremium, das 2018 nach der Abwahl Jammehs gegründet worden war. Es trägt den sperrigen Namen «Kommission für Wahrheit, Versöhnung und Wieder­gutmachung», kurz: TRRC. Die Kommission führte zahlreiche Befragungen mit Opfern und Tätern durch und veröffentlichte anschliessend einen Bericht mit Forderungen an die neue Regierung unter Präsident Adama Barrow, der auf Jammeh gefolgt war. Sie umfassen Gesetzes­änderungen, eine neue Verfassung, eine Reform des Justiz­systems und vor allem: die straf­rechtliche Verfolgung der Täterinnen. Diese Forderung wird nun in Bellinzona umgesetzt.

Für den Aufarbeitungs­prozess in Gambia waren und sind zivil­gesellschaftliche Organisationen zentral. Etwa das International Center for Transitional Justice, das in Gambia von Didier Gbery geleitet wird. «Viele Frauen waren von sexualisierter Gewalt betroffen und wollten nicht öffentlich darüber sprechen», erzählt er uns im Gespräch über Zoom. Die Zeugnisse dieser Frauen hat Gberys NGO eingesammelt.

Die Regierung wolle die Forderungen der TRRC gemäss offiziellen Angaben in den kommenden fünf Jahren umsetzen, sagt Gbery. «Das ist sehr ehrgeizig.» Und gleichzeitig sei nicht klar, ob der politische Wille dazu überhaupt vorhanden sei: «Der aktuelle Präsident lässt offen, ob er nun hinter dem Aufarbeitungs­prozess steht oder nicht.» Er habe wider­sprüchliche Signale gegeben. So sei er etwa 2022 eine Koalition mit der Jammeh-Partei eingegangen.

Sankanu realisierte während ihrer Zeit als Protokollantin bei den TRRC-Anhörungen, wie viele Leidens­geschichten aus der Jammeh-Zeit es in Gambia gibt. Und dass die wenigsten von ihnen in der Öffentlichkeit gehört werden. Sie beschloss, Journalistin zu werden, um diese Geschichten zu erzählen. Etwa diejenige eines Oppositionellen, der kurz nach dem Ende des Jammeh-Regimes verschwand und bis heute nicht wieder­auftauchte.

Ihre Familie sei von ihrer Berufs­wahl zunächst nicht begeistert gewesen. «Meine Schwester ist Kranken­pflegerin, ein Beruf mit deutlich höherem Ansehen», sagt sie. Mittlerweile sehe ihre Familie aber, dass sie wichtige Arbeit mache und ihr Beruf sie an interessante Orte bringe. Zum Beispiel nach Bellinzona.

Dass der Prozess gegen Ousman Sonko überhaupt in Bellinzona statt­findet, liegt am sogenannten Weltrechts­prinzip. Die Bundes­anwaltschaft wirft dem ehemaligen Innen­minister Gambias zahlreiche Gewalt­verbrechen vor – und zwar derart schwere, dass sie nach Ansicht der Staats­anwältinnen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen sind.

Diese können überall auf der Welt zur Anklage gebracht werden, unabhängig von der Nationalität von Täter und Opfer, unabhängig vom Tatort. Die einzige Voraus­setzung: Der mutmassliche Täter muss sich im Land aufhalten, damit ein Verfahren gegen ihn eröffnet werden kann. Sonko wurde 2017 in einer Asyl­unterkunft im Kanton Bern verhaftet, nachdem er von Lands­leuten erkannt worden war.

«Es war höchste Zeit»

In Bellinzona stehen am letzten Tag des Beweis­verfahrens Ende Januar Klägerinnen, Zeugen und Journalistinnen im kleinen Pausen­raum des Bundesstraf­gerichts beisammen. Im Tessiner Städtchen hat sich eine kleine gambische Community gebildet. Während zweieinhalb Wochen pilgert die Gruppe täglich ans Gericht, folgt der Verhandlung und trinkt die süssliche Brühe, die der Kaffee­automat ausspuckt.

In der Mittagspause dieses vorerst letzten Verhandlungs­tags treffen sich die Beteiligten im italienischen Restaurant gegenüber dem Bahnhof. An einem Tisch in der Ecke sitzen Sonkos Verteidiger Philippe Currat sowie Sonkos Ex-Frau und dessen Tochter, die ebenfalls angereist sind. Weiter hinten im Saal bestellen die Privat­kläger und ihre Anwältinnen Pizza. Man grüsst sich höflich. Doch gleich wird man sich im Gerichts­saal wieder gegenüber­stehen und zwei gegensätzliche Narrative über die Zeit der Jammeh-Herrschaft vertreten.

«Es war höchste Zeit, dass der Prozess nun angefangen hat», sagt Journalistin Mariam Sankanu. Für die Opfer, aber auch für Sonko: «Sieben Jahre Untersuchungs­haft sind eine sehr lange Zeit.»

Sie schmunzelt, als sie zurückdenkt an den ersten Prozesstag. Zum ersten Mal musste sie die Sicherheits­schleuse des Bundesstraf­gerichts passieren. Sie setzte sich in den Nebenraum, der für die Presse vorgesehen ist. Die Verhandlung wird dort auf drei Bildschirmen live übertragen. «Ich habe immer leise die Namen korrigiert, wenn die Richter und Anwältinnen sie nicht richtig ausgesprochen haben», sagt sie.

Es sei schon ausser­gewöhnlich, dass ein Schweizer Gericht über eine Sache entscheide, die so wichtig sei für ein über 4000 Kilometer entfernt liegendes Land. Die Journalistin stellt den Involvierten aber ein gutes Zeugnis aus. «Die Anwälte auf beiden Seiten, aber auch die Bundes­anwältinnen sind mit vollem Einsatz dabei. Sie sind bereit, für ihre Sache zu kämpfen.»

Was beweist die Notiz in Sonkos Koffer?

Das haben sie im Januar während zweieinhalb Wochen getan. Dann, am zwölften Prozesstag, gibt der vorsitzende Richter bekannt: «Das Beweis­verfahren ist nun abgeschlossen.» Alle Beweis­mittel sind besprochen worden, alle Zeugen befragt, alle Privat­klägerinnen und der Beschuldigte einvernommen. Die Vorwürfe, zu denen Sonko vor dem Richtertrio Stellung nehmen musste, umfassen Mord, Vergewaltigung sowie die Freiheits­beraubung und Folter von Oppositions­politikerinnen und Journalisten.

Während Ousman Sonko gewisse Missstände unter dem Regime von Ex-Präsident Jammeh anerkennt, betont er eisern, mit diesen nichts zu tun gehabt zu haben. Er habe im Gegenteil versucht, die Menschenrechts­lage in Gambia zu verbessern: als Polizei­chef mit der Gründung eines Menschenrechts­büros oder als Innen­minister mit Kampagnen gegen Gewalt­verbrechen. Vom Folter­apparat des Geheim­dienstes oder von den Morden der paramilitärischen «Junglers» will er nichts gewusst haben. Befehligt habe er diese schon gar nicht – sie hätten alle der direkten Kontrolle des Präsidenten unterstanden.

Diese Erzählung gerät am Donnerstag der zweiten Prozess­woche ins Wanken. Der Grund: eine hand­schriftliche Notiz, gefunden im Koffer Sonkos, als dieser 2017 festgenommen wurde. Darin soll er beschreiben, dass er von Jammeh den Befehl erhalten habe, auf Protestierende zu schiessen und hart gegen sie vorzugehen.

Bisher hat Sonko beharrlich abgestritten, solche Notizen bei sich gehabt zu haben. Doch an jenem Donnerstag gibt er plötzlich zu, dass es sich um seine Notizen handle. Allerdings habe er nie einen solchen Befehl von Jammeh erhalten. Er habe sich die Notizen für sein Asyl­gesuch in der Schweiz gemacht, aber das Geschriebene entspreche nicht den tatsächlichen Geschehnissen.

Die Bundes­anwaltschaft entgegnet, dass das Geschriebene mit zahlreichen anderen Beweisen und Erkenntnissen übereinstimme, etwa mit den Aussagen von Zeugen oder auch den Befunden der TRRC.

«Mind-blowing» sei dieser Moment gewesen, sagt Mariam Sankanu. Es sei überwältigend gewesen, zuzusehen, wie einer, der in Gambia einst ein «grosser Mann» gewesen sei, immer kleiner werde und dafür kämpfe, nicht wieder ins Gefängnis zu müssen.

Es ist möglich, dass Sonko freigesprochen wird. Doch es ist auch möglich, dass er lebenslang hinter Gitter muss. Eine lebens­längliche Freiheits­strafe kann dann verhängt werden, «wenn die Tat viele Menschen betrifft oder der Täter grausam handelt». Den Antrag, dass die angeklagten Straftaten auch unter diesem Absatz des Straf­gesetzes beurteilt werden, hatten die Bundes­anwaltschaft und die Privat­klägerinnen ins Spiel gebracht. Er wurde vom Richtertrio am Ende des Beweis­verfahrens zugelassen: Es forderte die Parteien auf, in ihren Partei­vorträgen im März auch zu diesem bisher nicht explizit angeklagten Straftat­bestand Stellung zu nehmen.

Grosse Resonanz in Gambia

Dass die Journalistin Sankanu diese Ereignisse überhaupt würde mitverfolgen können, war bis kurz vor Prozess­beginn alles andere als klar. Eine 30’000-Franken-Garantie für das Visum, eine Reise­versicherung, Geld für Flug und Aufenthalt in der teuren Schweiz: Nur ein paar wenige Personen haben diese hohen Hürden überwunden.

Kaum in der Schweiz angekommen, sahen sich Sankanu und ihre Kollegen schon mit dem nächsten Hindernis konfrontiert: Die Verhandlungs­sprache ist Deutsch. Immerhin wurden die Einvernahmen mit den meist englisch­sprachigen Zeugen und Klägerinnen für alle hörbar übersetzt. Vielen Ausführungen des Gerichts konnten die gambischen Journalisten aber nur dank der Übersetzung von Schweizer Kollegen oder den Zusammen­fassungen der Anwältinnen folgen.

Trotzdem teilten sie aus den Hallen des Bundes­strafgerichts so viele Informationen wie möglich mit ihren Kollegen in Gambia. «Die gambischen Medien haben jeden Tag über den Prozess in Bellinzona berichtet», erzählt Sankanu. Im Gegensatz zum Verfahren gegen einen ehemaligen «Jungler», das Ende 2023 in Deutschland stattfand, machte der Sonko-Prozess in Gambia Schlagzeilen.

Diese Resonanz zeigt auch: Seit der Absetzung von Jammeh hat sich einiges verändert. Einer, der den Wandel in der Presse miterlebt hat, ist Sankanus Kollege Sanna Camara. Er arbeitet seit 23 Jahren als Journalist – 3 davon hat er während der Jammeh-Herrschaft im Exil in Senegal verbracht.

Aufgrund der Schweizer Visum­regelungen konnte Camara erst mehr als eine Woche nach Prozess­beginn in die Schweiz kommen. Die Presse sei unter dem neuen Präsidenten deutlich freier, erzählt er am Rande des Prozesses. «Es gibt aber immer noch Probleme.» So müssten Redaktionen, um ein neues Medium zu gründen, hohe Gebühren zahlen. Zudem sei es nach wie vor verboten, den «Präsidenten zu beleidigen».

Der Wind drehe aber allmählich, so der Journalist. Das liege vor allem daran, dass die Gerichte nun mit unabhängigen, gambischen Richtern besetzt seien. Jammeh habe gerne Richter aus anderen Ländern eingesetzt, die er zudem bezahlt habe, damit sie in seinem Sinne urteilten. Neulich wurde ein Talkshow-Host festgenommen, weil er sich kritisch über die neue Regierung geäussert habe. Daraufhin verklagte er diese – und bekam recht.

Schwung für den Aufarbeitungs­prozess?

Die Chancen, dass Sanna Camara und Mariam Sankanu im März bei der Fortsetzung der Verhandlung nochmals in die Schweiz reisen können, stehen schlecht. Dasselbe gilt für die Privat­klägerinnen, die vor Gericht gegen Sonko aussagten.

Somit wird die gambische Zivil­gesellschaft in der entscheidenden Verhandlungs­woche wohl gänzlich abwesend sein.

«Das ist schade», sagt Sankanu. Sie hätte sich gewünscht, dass die gambische Öffentlichkeit einfacheren Zugang zu den Verhandlungen hätte. «So ein Prozess wäre heute in Gambia wohl nicht möglich. Aber würde er in einem umliegenden Land stattfinden und wäre er so ohne Visum zugänglich – das Interesse wäre riesig», ist die Journalistin überzeugt.

So vielversprechend das Weltrechts­prinzip ist: Damit es eine präventive Wirkung entfaltete, müssten die nach diesem Prinzip geführten Verfahren bekannt werden. Dafür hätte die Schweiz durchaus mehr unternehmen können. Das Gericht hätte etwa dafür sorgen können, dass der Prozess auf Englisch übersetzt wird. Und es hätte die Verhandlung online übertragen können, wie es beispiels­weise im Verfahren zwischen Israel und Südafrika vor dem Inter­nationalen Gerichtshof gemacht wurde.

Dennoch könne der Sonko-Prozess einen Meilen­stein darstellen für die transformative Gerechtigkeit in Gambia, ist sich Didier Gbery sicher: «Prozesse im Ausland können der gambischen Regierung aufzeigen, dass es möglich ist, Verbrechen aufzuklären und anzuklagen.»

Dies könnte auch weitere Verfahren anstossen. Denn: «Alles, was man Sonko vorwirft, hat er mutmasslich gemeinsam mit anderen Leuten getan», sagt Journalistin Sankanu. «Viele dieser Leute sind noch immer in Macht­positionen.» Ein Urteil gegen Sonko, glaubt sie, könnte die gambische Regierung unter Druck setzen, auch seine Gehilfen strafrechtlich zu belangen.

Zu den Autorinnen

Die freischaffende Journalistin Anina Ritscher hat schon mehrere Geschichten für die Republik geschrieben und gehört zu unserem Team von Gerichts­reporterinnen. Jennifer Steiner und Lorenz Naegeli, der ebenfalls bereits für die Republik geschrieben hat, sind Teil des Recherche­kollektivs WAV. Bevor der Prozess in Bellinzona losging, sprachen die drei für die Republik mit Privat­klägerinnen und Sonkos Anwalt sowie mit der Völkerrechts­professorin Anna Petrig.

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